Yaşar Kemal zum 90. Vögel, an der Paradiesespforte singend

FAZ – Von Wolfgang Günter Lerch – 06.10.2013 ·  Er schuf den türkischen Robin Hood. Yaşar Kemal ist Schriftsteller seines kurdischen Volkes, der Türkei und der Welt. Heute feiert er seinen 90. Geburtstag.

Istanbul in den siebziger Jahren: Die Stadt wird moderner. Blechlawinen beginnen die Straßen zu verstopfen. Das Häusermeer wächst – nach Westen und nach Norden, häufig wuchernd. Touristen. Doch auch die Glaubensstrenge und der Einfluss des Islam in der Politik werden wieder stärker. Der Sozialdemokrat Bülent Ecevit muss erstmals mit der Nationalen Heilspartei des Islamistenführers Necmettin Erbakan koalieren. Diese Regierung ist nicht besonders erfolgreich, doch Vorbote kommender Entwicklungen im Land. In Yaşar Kemals Erzählung „Kuşlar da gitti“ („Auch die Vögel sind fort“, 1978), die in der Übersetzung des hochverdienten Cornelius Bischoff erstmals 1984 erschien und nun endlich greifbar ist, werden diese Veränderungen in der Stadt, die Zunahme ihres Tempos und das Zurückweichen alter Sitten und Gebräuche in der Bevölkerung wie auf einem Seismographen angezeigt. Der Titel der Erzählung spielt auf eine alte Sitte an: In byzantinischer wie osmanischer Zeit fing man Vögel, verkaufte sie, damit der Käufer sie vor den Kirchen, Moscheen oder Synagogen wieder in die Freiheit entließ – sie sollten an der Pforte des Paradieses Fürbitte bei Gott einlegen. Auch im Islam ist der Vogel ein Bild für die menschliche Seele.

Ein bekennender Sozialist

In Kemals Geschichte müssen drei junge Vogelfänger, Semih, Süleyman und Hayri, die Erfahrung machen, dass sie mit ihrem Gewerbe nicht mehr auf Gegenliebe stoßen; man macht sich lächerlich über sie, will ihnen gar Gewalt antun. Die Leute haben sich geändert, sind „gottlos“ oder bigott geworden, die alten Sitten werden missachtet und dem Spott preisgegeben. Für die Poesie dieses Brauchs haben sie kein Verständnis mehr.

Yaşar Kemal ist für seine Landsleute – und für viele nichttürkische Leser – längst zur Legende geworden. Zusammen mit Nazim Hikmet (1902 bis 1963) und Orhan Pamuk bildet er die Trias jener türkischen Autoren, die auch außerhalb ihrer Heimat bekannt geworden sind. Hikmet war ein radikaler Linker, Kommunist seit den zwanziger Jahren; Pamuk, Jahrgang 1952, entstammt dem Istanbuler säkularisierten Bürgertum, Yaşar Kemal hingegen ist ein Sohn Anatoliens und bekennender Sozialist, was ihn nicht daran hinderte, auch mit dem realen Sozialismus hart ins Gericht zu gehen.

Die Heimat als literarischer Topos

Er wuchs in Armut auf und verlor schon als Kind bei einem Streit ein Auge. Bevor er zu schreiben begann, schlug er sich mit unterschiedlichen Tätigkeiten durchs Leben, war Hirte, Wasserträger, Schuhmacher und Fabrikarbeiter. Dann schrieb er Bittgesuche für die Bauern seiner Region. Die säkular und republikanisch gesinnte Zeitung „Cumhuriyet“ („Die Republik“) veröffentlichte seine ersten Arbeiten.

Lange hielt man den 1923 in Hemite, heute Gökcedam, in der Provinz Osmaniye geborenen Schriftsteller mit kurdischen Vorfahren für einen Vertreter der für die Türkei einmal typischen Regionalliteratur. Im Frühwerk glimmt die Glut seiner südtürkischen Heimat, der Kilikischen Ebene (Çukurova), in der die Baumwolle gedeiht und Orangen gepflückt werden. Die Türkei ist hier noch mehr als sonst ein Land des Übergangs – von Anatolien und den rauhen Taurus-Bergen allmählich hinein in die heißen syrischen und mesopotamischen Steppen und Wüsten. Das Leben der Taurus-Nomaden, der Yürüken, hat Kemal ebenso beschrieben („Das Land der tausend Stiere“) wie das der Briganten in den Schluchten des Taurus und den Tälern Anatoliens. Einen von ihnen, Ince Memed, hat er zu einer unsterblichen Figur gemacht – zu einem türkischen Robin Hood. Als das Buch 1955 erschien und anschließend übersetzt wurde (deutsch: „Memed mein Falke“), war es eine Sensation und machte den Autor mit einem Schlage auch außerhalb der Türkei berühmt.

Kritik am rassistischen Nationalismus der Türkei

Die Obrigkeit war mit dem Autor, dessen Geschichten und dessen Volksnähe immer eine immanente, oft aber auch eine offene Kritik am nationalistischen Wesen des türkischen Staates, am Rassismus des türkischen Überlegenheitswahns enthielten, nicht besonders geduldig. Wie oft er angeklagt wurde und wirklich oder nur symbolisch vor Gericht stand! Zeitweise lebte er deshalb im Ausland. Sein Eintreten für die Minderheiten, vor allem die Kurden, erregte die Justiz viele Jahre lang. Nicht zuletzt sein Einsatz für Demokratie, Menschenrechte und Pluralismus war es, der ihm im Jahre 1997 den Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels eintrug.

Seine kurdische Herkunft hat den Schriftsteller auch dazu prädestiniert, sich der Minderheiten anzunehmen. Erst allmählich wagen sich in der Literatur junge und ältere Stimmen hervor, die eine Bresche in die Mauer des Schweigens und Verschweigens schlagen, Yaşar Kemal war einer der Ersten, die das taten. In seiner Inseltrilogie („Die Ameiseninsel“, „Der Sturm der Gazellen“, „Die Hähne des Morgenrots“) kreist er um die Heimat, ihren Verlust, um Massaker, Vertreibung und Flucht. Yaşar  Kemal ist nicht der größte Schriftsteller der modernen Türkei, doch er ist in einem langen Leben und unter wechselnden Regimen seinen Idealen und Zielen immer treu geblieben. Das schätzen auch Türken, die keine Sozialisten sind. Vor fünf Jahren wurde er immerhin unter Erdogan mit dem Türkischen Staatspreis geehrt. Am kommenden Sonntag wird er neunzig Jahre alt.

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