Wer schützt uns vor den Syrien-Experten?

Für einen Militärschlag gegen Assad bedürfe es eindeutiger Beweise, heißt es. Da können wir noch lange warten. Über die Beweise rund um den Reichstagsbrand 1933 wird bis heute gestritten. Von Henryk M. Broder

Peter Scholl-Latour in der ZDF-Talksendung „Maybrit Illner“. Er behauptet, es finde „ein Kesseltreiben gegen Syrien statt“

Nachdem ein 44 Jahre alter Ingenieur aus Mecklenburg-Vorpommern, der nicht daheim von Hartz IV leben wollte und deswegen einen Job in Afghanistan angenommen hatte, im Jahre 2007 von den Taliban entführt wurde und dabei zu Tode kam, gab der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier eine Erklärung ab. – Er sagte u.a.: “Wir müssen davon ausgehen, dass einer der entführten Deutschen in der Geiselhaft verstorben ist. Nichts deutet darauf hin, dass er ermordet wurde, alles weist darauf hin, dass er den Strapazen erlegen ist, die ihm seine Entführer auferlegt haben.”

Die Wortwahl war vermutlich dem Bemühen geschuldet, die Täter nicht mehr als unvermeidlich zu brüskieren. Es galt, für künftige Entführungen und Lösegeldforderungen die “back channels” offen zu halten. Außerdem zeichnet sich ein Mord nach deutschem Recht durch Grausamkeit, Heimtücke und niedere Beweggründe aus. – Man warnt gern vor “voreiligen Schlüssen”.

Mit der Feststellung, die Geisel sei den Strapazen der Entführung erlegen, vermied Steinmeier jede Kategorisierung der Tat und jede Schuldzuweisung an die Adresse der Täter. Hätte der Entführte besser auf seine Gesundheit geachtet, Sport getrieben und beim Essen aufgepasst, so die Botschaft zwischen den Zeilen, könnte er heute noch leben.

Nun hören wir seit dem 21. August jeden Tag in der Tagesschau, dem Heute-Journal und den RTL-News, es gebe keinen verlässlichen Beweis dafür, dass der syrische Präsident Assad den Giftgasangriff, bei dem einige Hundert Syrer ums Leben gekommen sind, angeordnet hat. Wir hören, dass es Regierungstruppen waren, die den Befehl, den er nicht gegeben hat, ausgeführt haben.

Als Täter kämen auch andere in Frage: Splittergruppen der syrischen Armee, die auf eigene Faust ohne Wissen des Führers, pardon: des Präsidenten gehandelt hätten. Oder Rebellen, die diese grausame Tat Assad anlasten wollten, um die internationale Gemeinschaft gegen ihn zu mobilisieren. Man dürfe, heißt es immer wieder, keine voreiligen Schlüsse ziehen und müsse zumindest den Bericht der UN-Inspektoren abwarten.

Der Führerbefehl zur “Endlösung” wird bis heute gesucht

Damit reiht sich der Giftgasangriff vom 21. August in eine Reihe mit anderen historischen Vorgängen ein, über die bis heute kontrovers diskutiert wird. Haben die Nazis 1933 den Reichstag angezündet oder war es der holländische Kommunist Marinus van der Lubbe, der für die Tat zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde?

Es dauerte viele Jahre, bis der “Überfall auf den Sender Gleiwitz” aufgeklärt wurde und die Verantwortlichen für das Massaker von Katyn feststanden. Nach dem Führerbefehl zur “Endlösung der Judenfrage” wird bis heute gesucht.

Und kein ehemaliger Funktionsträger der DDR hat sich bis jetzt dazu bekannt, den Befehl zur Erschießung von Republikflüchtlingen gegeben zu haben. Aber: Weder die Juden noch die Republikflüchtlinge haben Selbstmord begangen. Sie sind auch nicht irgendwelchen “Strapazen erlegen”, sondern vorsätzlich getötet worden.

Assad-Versteher haben Hochkonjunktur

Es gibt mehrere Möglichkeiten, eine grausame Tat zu relativieren, sie so zu verpacken, dass sie in die Abstellkammer des Gewissens passt. Am einfachsten ist es, die Schuld dem Opfer anzulasten. Wer über die Mauer rüber machte, der wusste, welches Risiko er einging.

Unter anderen Umständen, wie im Falle der vergasten Syrer, kommt Option B zum Zuge: Der Hintergrund der Tat wird in den Vordergrund gerückt. Bei Schlägern, die ihre Opfer ins Koma prügeln, bietet sich deren schwere Kindheit an. Ersatzweise die Überlegung, ob das Opfer die Tat nicht provoziert habe, weil es auf die höfliche Bitte der Täter, ihnen Zigaretten zu geben, mit einem groben “Ich rauche nicht” reagierte.

Der Hintergrund, der im Falle der Syrer den Vordergrund überschattet, kommt als unschuldige Frage daher: Warum sollte Assad so etwas gemacht haben, während er erstens gegenüber den Rebellen an Boden gewinnt und zweitens UN-Inspektoren im Lande sind, um frühere Giftgasangriffe zu untersuchen?

Wann hätte je ein Diktator Verbrechen zugegeben?

Wer so eine Frage stellt, könnte in Mönchengladbach als Mediator einen Streit unter Schrebergärtnern schlichten, hat aber von der Logik, die das Handeln von Diktatoren bestimmt, keine Ahnung.

Wann hat zuletzt ein despotischer Staatschef zugegeben, ein Verbrechen angeordnet zu haben? War es Stalin, Hitler, Pol Pot, Idi Amin, Kaiser Bokassa, Slobodan Milosevic, Nicolae Ceausescu, Kim Il-sung, Robert Mugabe, Saddam Hussein, Muammar al-Gaddafi?

Es ist völlig belanglos, ob Baschar al-Assad den Befehl zu dem Giftgaseinsatz gegeben, die Aktion geduldet oder von ihr erst aus der Zeitung erfahren hat. Er trägt die Verantwortung für das, was am 21. August geschah. Er hat Syrien von seinem Vater, Hafez al-Assad, geerbt; und er setzt eine Familientradition fort.

Hafez und sein jüngerer Bruder Rifaat, ein Onkel des jetzigen Präsidenten, haben 1982 die Stadt Hama, nördlich von Damaskus, buchstäblich platt gemacht. Dabei wurden Tausende von Zivilisten getötet. Als Strafe für einen missglückten Aufstand der Muslimbrüder und als Warnung an alle Syrer, es nie wieder zu versuchen.

Jeder vierte Syrer ist auf der Flucht

30 Jahre später wiederholt sich die Katastrophe, nur in einem viel größeren Ausmaß. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen schätzt die Zahl der Toten auf über 100.000, die der Flüchtlinge auf fünf bis sechs Millionen. Jeder vierte Syrer ist auf der Flucht. Auf die Bundesrepublik übertragen, wären das 20 Millionen Menschen.

Derweil warnen deutsche Nahost-“Experten” vor einem “Flächenbrand” im Falle einer Intervention. “Auf einen Bruch des Völkerrechts muss man auf dem Boden des Völkerrechts antworten”, sagt der bekannte Völkerrechtler Jürgen Trittin. Andere, wie Peter Scholl-Latour, behaupten, “es findet ein Kesseltreiben gegen Syrien statt” und raten dazu, das natürliche Ende des Konflikts abzuwarten. Der Stärkere werde sich durchsetzen.

Und diejenigen, die dabei draufgehen, waren eben den Strapazen nicht gewachsen, die ihnen der Bürgerkrieg auferlegt hat.