Weder verständlich noch tauglich : Kinderärzte protestieren gegen die Pläne des Justizministeriums zur Beschneidung von Jungen
VON SONJA SÜSS – Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 30.09.2012, Nr. 39, S. 11
FRANKFURT. Es war kein leichter Auftrag, den der Bundestag im Juli der Bundesregierung gab: In einem Entschließungsantrag forderte die klare Mehrheit der Abgeordneten einen Gesetzentwurf, der unter Berücksichtigung des Kindeswohls, des Rechts auf körperliche Unversehrtheit, der Religionsfreiheit und des Elternrechts sicherstelle, “dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist”.
Zwei Monate nahm sich das Bundesjustizministerium Zeit, um “Eckpunkte einer Regelung” zu erarbeiten. Mehrfach und stundenlang seien Fachleute dazu gehört worden, hieß es aus dem Ministerium. Dass der neueste Stand der Forschung berücksichtigt werde, schien gesichert. Welche Experten eingeladen wurden und was sie gesagt haben, dazu wurde allerdings keine Auskunft erteilt. Die Öffentlichkeit war ohnehin ausgeschlossen. “Keine einzige der vielen dezidiert kritischen Stimmen ist gehört worden”, beanstandet Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie in Hamburg. Das Eckpunktepapier sieht im Kern zwei Regelungen vor: Jungen dürfen beschnitten werden, auch wenn es dafür keine medizinischen Gründe gibt, vorausgesetzt die Beschneidung werde “nach den Regeln der ärztlichen Kunst” vorgenommen. In den ersten sechs Lebensmonaten dürfen auch religiöse Beschneider, die keine Ärzte, aber “vergleichbar befähigt” sind, den Eingriff machen. Ein Kind unter sechs Monaten darf folglich ohne Betäubung beschnitten werden – nur Ärzte dürfen betäuben.
“Warum soll im ersten Halbjahr eine Beschneidung auch von einem nichtärztlichen Beschneider durchgeführt werden dürfen, später aber nur von einem Arzt? Je jünger das Kind, desto größer sind die technischen Schwierigkeiten einer Beschneidung und die Rate von Komplikationen”, wendet Volker von Loewenich ein, Professor für Kinderheilkunde und Neugeborenenmedizin und Mitglied der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ). Die Grenze von sechs Monaten sei “weder verständlich noch in irgendeiner Weise tauglich”. Er vermutet, diese Festlegung sei “aus dem Bauch heraus und vielleicht von einem unkundigen Referenten” getroffen worden, medizinisch sei sie nicht zu begründen. Seit Ende der neunziger Jahre sei aufgrund medizinischer Studien klar, dass bei jungen Säuglingen Teile des Nervensystems noch unfähig seien, Schmerzen zu modulieren. Deshalb müsse man davon ausgehen, dass Säuglinge und Kleinkinder sogar ein noch höheres Schmerzempfinden haben als ältere Kinder und Erwachsene.
Im Judentum werden Jungen am achten Tag nach der Geburt beschnitten. Die Verabreichung eines rotweingetränkten Tuches zur Betäubung des Kindes, wie sie die jüdischen Beschneider zumeist praktizieren, folge einer Legende, sagt der Strafrechtler Reinhard Merkel. Die “irrige” Behauptung, derartige Eingriffe seien schmerzfrei, diene allenfalls der “psychologischen Selbstberuhigung der Beschneider”.
Nicht nur die Sechs-Monate-Regel stößt Experten sauer auf. Die Eckpunkte des Justizministeriums beruhen auf der Annahme, es gebe jenseits der religiösen Gründe für eine Beschneidung ohne medizinische Notwendigkeit auch andere “unterschiedliche Zwecksetzungen”, die dem Kindeswohl dienen könnten. Sie nehmen ausdrücklich Bezug auf eine Stellungnahme der Amerikanischen Akademie der Kinderärzte (American Academy of Pediatrics, AAP). Sie erschien im August in der amerikanischen Zeitschrift “Pediatrics” und ist die einzige wissenschaftliche Referenz. Die AAP geht davon aus, dass die gesundheitlichen Vorteile für beschnittene Neugeborene schwerer wiegen als die Risiken. Die Stellungnahme ist eine knappe Seite lang und enthält keine Verweise auf wissenschaftliche Literatur. Es handele sich um ein “fachlich skandalöses Papier”, sagt Merkel, das von “teilweise bekennenden Beschneidungsbefürwortern” verfasst worden sei und von keinem anderen kinderärztlichen Verband auf der Welt unterstützt werde.
Namhafte Kinder- und Jugendärzte aus Europa haben schon ihren Widerspruch abgestimmt – in einem noch unveröffentlichten Gegenpapier, das der F.A.S. vorliegt. Die von der AAP genannten Vorteile einer Beschneidung – wie Prävention gegen Harnwegsinfektionen, Peniskrebs und sexuell übertragbare Krankheiten, insbesondere HIV – seien schwach und hätten in der westlichen Welt wenig Bedeutung. Eine Harnwegsinfektion, die bei einem Prozent der Jungen in den ersten Lebensjahren auftritt, sei problemlos mit Antibiotika zu behandeln, argumentieren die europäischen Kinderärzte. Es bedürfte also hundert Beschneidungen, um eine Harnwegsinfektion zu vermeiden. Peniskrebs ist eine der seltensten Formen des Krebses, die zudem vorrangig im gehobenen Alter vorkommt. Sexuell übertragbare Krankheiten werden erst relevant, wenn Jungen bereits in der Lage sind, selbst zu entscheiden, ob sie sich beschneiden lassen oder nicht. Ob eine Beschneidung überhaupt der Vorbeugung nutzt, ist zudem umstritten. Bei Syphilis und Tripper ist das beispielsweise ausgeschlossen. Ob eine HIV-Infektion durch Beschneidung effektiv verhindert werden kann, ist ebenfalls ungewiss. Mehrere Studien lassen keine Beziehung zwischen Beschneidungen und HIV-Infektionen erkennen. Die europäischen Kinderärzte stellen in ihrem Papier fest, dass “Beschneidung die allgemein akzeptierten Kriterien für die Rechtfertigung von präventiven medizinischen Eingriffen nicht erfüllt”.
Es fällt auf, dass die AAP selbst eine Kehrtwende vollzogen hat. Noch in Stellungnahmen aus den Jahren 1999 und 2005 riet die Akademie, wissenschaftlich untermauert, von medizinisch nicht indizierten Beschneidungen ab. Der Professor für Kinderheilkunde von Loewenich vermutet finanzielle Gründe hinter dem Schwenk: Der Einbruch bei Beschneidungen in den Vereinigten Staaten führe auch zu finanziellen Einbußen der Ärzte und Geburtshelfer. Aus diesem Grund fordere die AAP nun auch, dass die Krankenkassen die Kosten von Beschneidungen übernehmen sollten – unterstützt von einem Verband amerikanischer Geburtshelfer und Gynäkologen. “In den sechziger bis neunziger Jahren wurden so gut wie alle amerikanischen Knaben als Neugeborene von Geburtshelfern beschnitten, jeweils gegen ein recht anständiges Honorar. Nach den Statements der AAP von 1999 und 2005 brach dieser ,Markt’ drastisch ein”, sagt von Loewenich.
Der Strafrechtler Merkel wirft dem Justizministerium vor, es ignoriere seriöse wissenschaftliche Erkenntnisse. So würden Studien zu den Auswirkungen einer Beschneidung auf Seele und Sexualität nicht berücksichtigt. Merkel weist noch auf einen weiteren Punkt hin: “Das Abtrennen der Debatte von der weiblichen Genitalverstümmelung wird man so nicht durchhalten können”, sagt er. Es gebe nicht nur die wüst verstümmelnden Formen, sondern durchaus auch milde Varianten, die weniger verletzend seien als die Knabenbeschneidung. Sollen auch diese absolut verboten bleiben, dann wird Artikel 3 des Grundgesetzes berührt: die Gleichberechtigung von Mann und Frau vor dem Gesetz.