WALLSTREET JOURNAL : ERDOGANS TIME GOES BY – THE DECLINE OF TURKISH ECONOMY
Für die einst „goldene” Ökonomie der Türkei kommt es knüppeldick
Von JOE PARKINSON + EMRE PEKER – WALLSTREET JOURNAL – 8.9.2013 – ISTANBUL – Vor vier Monaten war die Welt in der Türkei ökonomisch gesehen noch in Ordnung: Staatsanleihen hatten gerade eine Investment-Grade-Rating bekommen, Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan tönte, die türkische Ökonomie betöre Investoren auf der ganzen Welt – zu Recht, wie er sagte, denn schon bald werde sie zu den zehn größten weltweit gehören.
Dann begann in den USA die Debatte über die Straffung der Geldpolitik. Der Notenbankchef erklärte, man erwäge, den Stimulus der monatlichen Anleihekäufe zurückzufahren, mit dem auch das rapide Wachstum in den Schwellenländern finanziert worden ist. Ankara selbst verschreckte Investoren mit einer zunehmend feindseligen Rhetorik gegenüber ausländischem Kapital – mehr noch aber mit der Art und Weise, mit welch harter Hand der Ministerpräsident auf die regierungskritischen Proteste in Istanbul und Ankara reagierte. Und schließlich verdarb die Aussicht auf baldige US-Militärschläge in Syrien Anlegern in der Türkei die Laune.
Der Leitindex der Börse in Istanbul hat seit dem Rekordhoch im Mai ein Drittel seines Wertes eingebüßt, die türkische Lira hat bis auf Rekordtiefs abgewertet, während sich die Anleiherenditen bis auf 10 Prozent verdoppelt haben. Die türkische Notenbank hat sich dagegen gewehrt, doch ohne Erfolg. Der Einsatz von 15 Prozent ihrer Nettodevisenreserven vermochte die negativen Effekte nicht auszugleichen, die mit dem Abfluss der Dollar-Milliarden verbunden waren.
… Inzwischen berichten viele der über 4.000 Händler von stark rückläufigen Geschäften.
Es ist gerade zwei Jahre her, dass es in vergleichbar unheimlicher Weise in der Türkei bergab ging. Die Wiederholung der Ereignisse stellt die Behauptung der Regierung Erdogan infrage, dass sie die von Konjunkturzyklen geprägte Wirtschaft auf ein neues Fundament gestellt habe – es könnte für den Ministerpräsidenten eng werden, bei den Wählern ein Votum über seine zehnjährige Amtszeit hinaus zu bekommen.
„Die Tage sind vorbei, da die Türkei ein Liebling der Märkte war. Die Regierung steht jetzt vor einer holprigen Phase”, urteilt Mert Yoildiz, Chefvolkswirt für die Türkei bei der Burgan Bank. „Die Türkei steht entweder vor einer ausgeprägten Krise oder vor Jahren des schwachen Wachstums, das sich wie eine Rezession anfühlt.”
In der Finanzkrise traf es die Türkei nicht
Der schwindende Erfolg kontrastiert in hohem Maße mit der Situation im zurückliegenden Jahrzehnt, als die türkische Wirtschaft die globale Finanzkrise weitgehend unbeschadet überstand. Rund 100 Milliarden Dollar ausländisches Kapital flossen in das Land und lösten einen Boom im Baugewerbe ebenso aus, wie im privaten Konsum.
Nominell ist die Wirtschaftsleitung im Schnitt um jährlich 5 Prozent gestiegen, seit Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, kurz: AKP, im Jahr 2002 an die Macht kam. Das Pro-Kopf-Einkommen der Türken verdreifachte sich auf mehr als 10.000 Dollar und ließ den Regierungschef drei Wahlen in Folge gewinnen – mit jeweils noch größerer Mehrheit.
Den ersten Stoß erhielt die türkische Ökonomie, als das Leistungsbilanzdefizit im Jahr 2011 – angetrieben von kreditgetriebenem privatem Konsum – auf 78,4 Milliarden Dollar anwuchs. Das entspricht etwa 10 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das Defizit löste starke Befürchtungen aus, die Türkei könne ihre kurzfristigen Auslandsschulden nicht mehr bedienen. Es kam daraufhin zu einem Run auf die Lira, die gegenüber dem US-Dollar 20 Prozent ihres Wertes verlor. Das machte sich bald in Form von massiven Preissteigerungen bemerkbar – mit zweistelligen Inflationsraten. Die Antwort der Zentralbank würgte das wirtschaftliche Wachstum ab. Im vergangenen Jahr legte das Bruttoinlandsprodukt nur noch um 2,2 Prozent zu – nach 8,8 Prozent im Jahr zuvor.
Inzwischen zeigen sich die Notierungen türkischer Vermögenswerte auf rekordverdächtig niedrigem Niveau. Zusammen mit der 17-prozentigen Abwertung der türkischen Lira gehört die Volkswirtschaft neben denen von Indien, Brasilien und Indonesien zu jenen Schwellenländern, die sich am schwächsten entwickelt haben. Am Donnerstag markierte die türkische Währung mit 2,08 Lira pro Dollar einen neuen Tiefststand, nachdem die Chance für einen Militärschlag der Amerikaner in Syrien gestiegen ist und türkische Geldpolitiker sich weigerten, die Zinssätze weiter zu erhöhen.
Die jüngsten Verluste zeigen wie unter dem Brennglas die Ungleichgewichte einer Volkswirtschaft, die von Importen und ausländischem Kapital abhängig ist. Laut Analysten ist die Gefahr heftiger Marktkorrektur in Türkei daher groß.
IWF warnt vor dem Risiko einer “Vollbremsung”
„Wenn die globale Liquidität austrocknen würde oder das Interesse am Risiko schwände, dann würde die türkische Wirtschaft eine Vollbremsung hinlegen”, warnte der Internationale Währungsfonds in seinem jüngsten Bericht. Ein Bericht der US-Bank Morgan Stanley vom Juni stufte die Türkei als eines von fünf Ländern ein, die am meisten verwundbar bei einem Abfluss ausländischer Finanzmittel sind. Längst ist Auslandskapital von weiteren Projekten in der Türkei zurückgeschreckt. Ein 12-Milliarden-Dollar-Projekt zum Ausbau eines Steinkohlekraftwerkes platzte im August, als Abu Dhabi erklärte, man habe „andere Investitionsprioritäten”.
Auch in der Realwirtschaft zeigt das Spuren. Im August fiel das Verbrauchervertrauen laut Daten der Statistikbehörde so stark wie seit sechs Monaten nicht. Bei Altinyildiz, dem größten türkischen Bekleidungshersteller, ging der Umsatz im ersten Quartal des Geschäftsjahres um 23 Prozent zurück. Der größte Autohersteller des Landes, Tofas, warnte Ende August, dass die Umsatzziele in diesem Jahr möglicherweise verfehlt würden. Tofat produziert Fiat-Modelle in Lizenz.
„Die Menschen haben wirtschaftliche Sorgen und der Markt wird von ökonomischen und politischen Unwägbarkeiten belastet”, sagte Akil Turkoglu, Eigentümer des Haushaltsgeräteeinzelhändlers Akturk. „Die Aufwertung des Dollar gegenüber der Lira trifft auch unser Geschäft, physisch wie psychologisch.”
Für Ministerpräsident Erdogan kommt die größte Gefahr von frommen Wählern aus der Mittelklasse oder der Unterschicht wie Ekrem Karagudekoglu. Er wird die AKP vielleicht nicht mehr wählen, weil sie es aus seiner Sicht nicht vermocht hat, stabiles Wirtschaftswachstum zu sichern.
„Es gibt für niemanden Grund, auf diese Wirtschaft stolz zu sein, es ist alles nur Blendwerk”, sagte Karagudekoglu, der im Istanbuler Stadtteil Sirkeci elektrische Geräte repariert und technischen Service bietet. „Ich habe keine Hoffnung, wenn ich an unsere Zukunft denke”, sagt er.
Einfache Bürger sind bitter enttäuscht von Erdogan
Die jüngste Umfrage des führenden türkischen Meinungsforschers Metro Poll zeigt, dass die politische Zustimmung für die regierende AKP im Juli auf 43 Prozent gefallen ist. Auf dem höchsten Stand im Dezember 2011 hatte die AKP 52 Prozent aller Befragten hinter sich.
Zentralbankgouverneur Erdem Basci – der vom Banker Magazine in diesem Jahr dafür ausgezeichnet worden ist, dass er der türkischen Wirtschaft eine weiche Landung verschaffte – hat wiederholt erklärt, er sei mit Blick auf den jüngsten Wechselkurs „entspannt”. Überdies weisen die Notenbanker darauf hin, dass Istanbul zu den Finalisten für die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 2020 gehört, was ebenfalls für weiteres Vertrauen der Geldgeber und zusätzliche Investitionen sorgen könnte.
Internationale Investoren stellen allerdings erneut infrage, dass Ankara in der Lage sein wird, wie im vergangenen Jahr seine Schulden ohne Probleme zu refinanzieren.
Seit 2002 haben sich die Auslandsschulden der Türkei fast verdreifacht – auf inzwischen 350 Milliarden Dollar. Davon muss mehr als die Hälfte innerhalb eines Jahres refinanziert werden. Die kurzfristigen Verbindlichkeiten der Türkei summieren sich damit zu einem Viertel der türkischen Wirtschaftsleistung, das ist zwei bis drei Mal so viel wie in Brasilien und Indien.
Notenbankchef Basci hat signalisiert, dass er bereit sei, zur Bedienung der kurzfristigen Schulden auch auf die Devisenreserven zurückzugreifen. Allerdings sind die weitaus kleiner als bei anderen Schwellenländern – Südafrika, Indonesien, Indien und Brasilien eingeschlossen. Sollte es zu einem Run auf die Lira kommen, hätte die türkische Zentralbank dem nicht so viel entgegenzusetzen, wie die Notenbanken anderer Schwellenländer, die ebenfalls unter einem Abfluss internationaler Gelder massiv leiden.
Ökonomen empfehlen weitere Zinsschritte
Dem Risiko, dass die Türkei möglicherweise nicht in der Lage ist, ihr Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren, kann nach Meinung von Ökonomen nur mit höheren Leitzinsen begegnet werden. Ein solcher Schritt würde Investoren wieder in das Land locken. Doch hat sich Notenbankchef Basci an dieser Stelle schon festgelegt. Vor zehn Tagen versprach er, dass der Leitzins bis zum Jahresende nicht über 7,75 Prozent anzuheben, obwohl die Inflationsrate von Juli bis auf August lediglich von 8,88 auf 8,20 Prozent gesunken ist.
Die Türkei „hat ausreichend Reserven, um die Finanzlücke zu stopfen. Das Land sollte die Zinssätze anheben und zwar schnell”, sagte Tim Ash, Chefvolkswirt für Schwellenländer bei der Standard Bank in London.
Im historischen Großen Basar, wo Gold-, Teppich- und Devisenhändler seit Jahrhunderten und auch in Krisenzeiten ihre Geschäfte gemacht haben, bereiten sich die Ladeninhaber bereits auf einen heftigen Abschwung vor. Sie sind aber optimistisch, dass die Türkei in der Lage ist, sich davon wieder zu erholen.
„Seit Juni beobachten wir, wie das Geschäft langsam weniger wird, nicht nur hier im Basar, sondern auch in anderen Branchen, wo wir Freunde haben”, sagt Mehmet Ali Yildirimturk, der hier seit 40 Jahren mit Gold handelt. Er spricht von einem Umsatzrückgang von 20 Prozent in diesem Jahr. „Man kann dies noch nicht als Krise bezeichnen, es zeigt sich hier nur im Kleinen der Schatten jener Schwankungen, die es an den internationalen Märkten gibt”, sagt er und fügt trotzig hinzu: „Wir haben schon viel schlimmere Situationen gemeistert.”
http://www.wsj.de/article/SB10001424127887323623304579058922187390260.html