Verleger Ragip Zarakolu : An nationalistischen Tabus rütteln

SZ – 23.08.2012, – Von Tim Neshitov – In einem kafkaesken Verfahren werden Dutzende türkische Intellektuelle beschuldigt, Terroristen zu unterstützen. Angeklagt ist auch Ragip Zarakolu, der wichtigste unabhängige Verleger des Landes. Vierzig seiner Titel wurden verboten, er von Nationalisten gefoltert. Ein Besuch.

Der türkische Verleger, Autor und Menschenrechtler Ragip Zarakolu verbringt diesen August auf der Prinzeninsel Heybeli im Marmara-Meer. Man kommt leicht mit einer Fähre dorthin, die Überfahrt von Istanbul dauert eine Stunde. Zarakolu macht dort aber keinen Urlaub. “Es ist Therapie”, sagt er.

Zarakolu bringt in seinem Verlag Belge (“Dokument”) Bücher heraus, die an türkischen Tabus rütteln, vor allem Bücher über Kurden und Armenier. Das tut er seit 1977 und weiß genau, dass ein Verleger wie er in der Türkei nicht reich wird und dauernd Ärger mit nationalistischen Staatsanwälten hat, unabhängig davon, welche Partei gerade an der Macht ist. Aber zuletzt wurden Zarakolus Nerven besonders arg ramponiert. Im vergangenen Oktober wurde er angeklagt, eine kurdische Terrororganisation zu unterstützen. Er wurde am Geburtstag seiner Frau verhaftet. Erst im April kam er frei, blieb aber angeklagt. Die nächste Gerichtsverhandlung ist im Oktober. Der Staatsanwalt fordert zwischen siebeneinhalb und fünfzehn Jahren Haft.

Zarakolu ist 64 Jahre alt, er trägt einen sauber gestutzten Vollbart, ein schwarzes T-Shirt und eine schwere Brille. Das zweistöckige Haus mit knarzenden Parkettböden gehört der Verwandtschaft von Zarakolus langjährigem Freund Hüseyin Batuhan, einem Philosophieprofessor und linken Publizisten, der vor neun Jahren starb. Batuhans ebenfalls verstorbene Frau war entfernt mit dem Schriftsteller Orhan Pamuk verwandt. Die schwarz-weißen Jugendfotos des Paares schmücken die Wände des Zimmers, in dem Ragip Zarakolu arbeitet.Er schreibt an einem Buch, dass dokumentieren soll, wie sich der Umgang des türkischen Staates mit Minderheiten und mit der eigenen Geschichte verändert hat, seitdem es den Belge-Verlag gibt. “Es hat sich wenig verändert. Die Demokratisierung, die uns ständig versprochen wurde, ist ein Reinfall.”

Das Zimmer riecht nach alten Bücherregalen, man hört Pferdekutschen vorbeifahren und Möwen in der Ferne. “Von hier aus sehe ich das Meer”, sagt Zarakolu. Einer seiner Söhnen heißt Deniz, “Meer”. Im vergangenen Oktober wurde auch Deniz festgenommen. Er sitzt bis heute im Hochsicherheitsgefängnis Kocaeli, 150 Kilometer östlich von Istanbul.

Die Organisation, die Ragip Zarakolu und sein Sohn laut Staatsanwaltschaft unterstützen, heißt Koma Civaken Kurdistan (KCK), Union der Gemeinschaften Kurdistans. In KCK-Verfahren, die seit 2009 landesweit laufen, sind tausende Kurden angeklagt, Politiker, Journalisten, Studenten, Schüler. Ihre Zahl weiß niemand genau. Zarakolu und sein Sohn wurden von einer Verhaftungswelle erwischt, die im vergangenen Herbst 50 Istanbuler Intellektuelle traf, darunter viele Türken.

Die KCK wurde 2005 gegründet und soll die jüngste Idee des inhaftierten Kurdenführers Abdullah Öcalan verwirklichen, den “demokratischen Konföderalismus”. Die KCK strebt keinen eigenen Staat an, stellt auch die bestehenden Staatsgrenzen nicht in Frage. Stattdessen soll auf den Gebieten der Türkei, Iraks, Irans und Syriens eine Gemeinschaft anarchistischer kurdischer Kommunen entstehen, eine “auf Ökologie und Geschlechterbefreiung aufbauende Demokratie”. Dieses Gebilde soll aber über eine eigene Armee, Staatsbürgerschaft und Gerichte verfügen. Das rebellische, etwas wirre Konzept geht auf die Schriften des amerikanischen Öko-Anarchisten Murray Bookchin zurück.

Dass Ragip Zarakolu diese Ideen teilt, behauptet nicht einmal die Staatsanwaltschaft. Die Anklage bezichtigt ihn vielmehr, vor einigen Jahren an der Parteischule der Kurdenpartei BDP unterrichtet zu haben. Dabei ist die BDP (“Partei des Friedens und der Demokratie”) im Parlament vertreten. Ihre Schule, die “Politikakademie”, ist nie verboten worden.

Zarakolu sagt nichts zu dieser Anklageschrift. Nicht deshalb, weil ihm seine Anwältin – sie wohnt im Erdgeschoss – davon abrät, sondern weil die Vorwürfe sehr widersprüchlich sind und sich dadurch selbst aufheben. Ein Bürger wie Zarakolu, ist zu lesen, der “von den Entwicklungen in der Türkei und in der Welt” Bescheid wisse, müsse das wahre Wesen der BDP-Parteischule durchschauen können. Diese mag zwar offiziell nicht verboten sein, bleibe aber “ein Ausbildungsnest der Terrororganisation”. Dass Zarakolu dies nicht begriffen haben soll, widerspreche “allen Regeln von Vernunft und Logik”.

“Ich würde ja verstehen”, sagt Zarakolu, “wenn ich das in einem faschistischen Regime erleben würde. Dann hätte das Ganze eine perverse Logik.” Nach dem Armeeputsch von 1971, bei seiner ersten Verhaftung, wurde er gefoltert. “Sie haben damals Falaka gemacht.” Er zieht sich auf der Couch ein Bein ein, massiert seinen Knöchel. “Auf die Fußsohlen geschlagen.”

Es wird dunkel, die Möwen hört man nicht mehr, man hört Grillen. Zarakolu steht auf, geht zu einem Bücherregal, er ist ein untersetzter Mann mit einem unruhigen, nach vorne kippenden Teddybär-Gang. Er streichelt die Bücher seiner verstorbenen Freunde, zeigt auf eine vergilbte Ausgabe von D. H. Lawrences “Lady Chatterley’s Lover”. Das Buch schildert die Liebe einer feinen Dame zu einem Arbeiter. Es enthält Worte wie “Penis” und “fuck” und stand deswegen in England jahrzehntelang auf dem Index. “Sie haben das Buch hier gelesen, als es in England noch verboten war.”

Er sagt das fast nostalgisch, als würde er sich gerade lieber über prüde britische Aristokraten unterhalten als über türkische Nationalisten, die 40 Titel seines Verlags verboten haben. Bücher wie “Kurdistan, die internationale Kolonie” von Ismail Besikci, eine Studie der kurdischen Identität, die Sätze enthält wie: “Das kurdische Problem ist kein Minderheitenproblem. Kurden leben in Kurdistan in ihrer eigenen Heimat.” Oder “Das armenische Tabu” des Franzosen Yves Ternon, das erste auf Türkisch erschienene Buch, das die Massaker von 1915 als Völkermord bezeichnete und wissenschaftlich untersuchte.

Bevor er zur Couch zurückkehrt, streift Ragip Zarakolu mit den Fingern nochmals über D. H. Lawrences “Lady”, über Pasternaks “Doktor Schiwago”, über Solschenizyns “Archipel Gulag”: “So ist das Leben, du lebst und du stirbst, und dann kannst du keine Bücher mit dir mitnehmen.”

Zarakolus erste Frau, Ayse Nur, starb 2002. Sie hatten den Verlag einst gemeinsam gegründet. Weil Belge auf ihren Namen registriert war, musste sie noch öfter ins Gefängnis als ihr Mann. Im Januar 1994 überlebten sie einen Bombenanschlag. Als Ayse Nur Zarakolu auf der Frankfurter Buchmesse 1998 mit einem Preis der Internationalen Verlegerunion ausgezeichnet wurde, durfte sie nicht zur Preisverleihung anreisen.

Wir sind immer wie ein Barometer gewesen”, sagt Ragip Zarakolu. Bis 1991 wurden sie nach einem Paragrafen des Strafgesetzbuchs angeklagt, den sich Ankara vom faschistischen Italien abgeschaut hatte und der die Verbreitung linker Ideen unter Strafe stellte. 1991 wurde er abgeschafft und gleich das Terrorismusbekämpfungsgesetz verabschiedet. Ayse Nur Zarakolu wurde das erste Opfer dieses Gesetzes. Heute sind Ragip Zarakolu und ihr Sohn Deniz nach demselben Gesetz angeklagt.

“In einer Diktatur würde ich’s wirklich verstehen”, sagt Zarakolu. “Aber wir leben jetzt in einer angeblichen Demokratie. Der Westen nimmt das hin, weil geostrategische Interessen schwerer wiegen.” Er sagt das nicht anklagend, nicht verbittert, er stellt das einfach fest, als würde er von einer höheren Gewalt sprechen, mit der man zurechtkommen muss. An westliche Medien glaubt er noch. Mit den türkischen spricht er nicht mehr. “Es gibt keine freie Presse bei uns. Sie legen mir einfach die Worte in den Mund, die ihnen gerade passen. Ich mache mir auch Sorgen um die Journalisten, die sich dem Druck ihrer Verleger widersetzen.”

Zarakolu malt ein düsteres Bild. Eine Türkei, in der Medien und Gerichte nur dazu da sind, im Machtkampf zwischen der islamisch geprägten Regierung und den kemalistischen Eliten missbraucht zu werden. In einem Machtkampf, dessen Sieger und Verlierer sich gleichermaßen wenig für die Rechte von Kurden oder für die Aufarbeitung der spätosmanischen Geschichte interessieren. “Mit dem KCK-Verfahren werden keine Terroristen bekämpft. Türkische Intellektuelle sollen so daran erinnert werden, dass sie von bestimmten Themen die Finger lassen sollen.”

Zarakolu ist in zweiter Ehe mit einer amerikanischen Fotografin verheiratet. Am Morgen des 28. Oktober, an ihrem Geburtstag, wurde er im vergangenen Jahr vor der eigenen Haustür von Polizisten in Zivil umringt. Er durfte seiner Frau nicht sagen, wohin und von wem er weggeschleppt wurde. Sie wurde erst gegen Mitternacht verständigt.

“Das letzte Mal hatte ich in Irland mit Antiterror-Polizisten zu tun. Da war ich aber als Beobachter einer Menschenrechtsorganisation unterwegs.”

Die fünf Monate im Gefängnis nutzte Zarakolu dazu, sein Kurdisch zu verbessern. Er teilte die Zelle mit einem Kurdisch-Lehrer der Universität Uppsala. Dort schrieb er auch das Nachwort zur jüngsten Veröffentlichung des Belge-Verlags. Es ist die türkische Übersetzung von “Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts”. In Deutschland ist das Buch des ehemaligen Spiegel-Redakteurs Wolfgang Gust vor sieben Jahren erschienen, nun ist die Übersetzung der fast 1000 Seiten fertig. Zarakolu bedankt sich im Nachwort beim armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink, der ihm das deutsche Original vorbeibrachte. Dink ist mittlerweile tot, er wurde im Januar 2007 auf offener Straße in Istanbul erschossen.

An diesem Abend will Zarakolu noch kurz nach Istanbul, sich mit einem Autor treffen. Auf der Terrasse sitzt seine Anwältin, mit Laptop und Bier. Sie hört Chris Reas “The Road To Hell”. Zarakolu wirft sich ein paar Pistazien in den Mund und hält eine Pferdekutsche an. “Zum Kai.”

http://www.sueddeutsche.de/kultur/verleger-ragip-zarakolu-an-nationalistischen-tabus-ruetteln-1.1447832-2