Und jetzt die ganze Wahrheit über Syrien!

MESOPOTAMIA NEWS  „DerKommentar“ : VON DANIEL STEINVORTH (NZZ)

  1. Sept 2019 Der Krieg in Syrien ist kompliziert. Da erstaunt es nicht, dass viele Menschen nach einfachen Antworten suchen und selbsternannte Klartextredner grossen Zulauf haben. Wer den Konflikt auf einen geplanten Regimewechsel oder einen gescheiterten Pipeline-Deal reduziert, kann sich einer treuen Fangemeinde sicher sein.

Das war es dann wohl in Syrien. Der gefühlt endlose Krieg scheint seinem Ende entgegenzugehen. Die Truppen des Diktators Bashar al-Asad und seiner Schutzmächte Iran und Russland haben ihn militärisch entschieden. Nur die Provinz Idlib bleibt den islamistischen Rebellen als Rückzugsgebiet, und dass auch dieses früher oder später unter die Kontrolle des Regimes geraten wird, gilt als unausweichlich. Wenn sich im Anschluss auch die Kurdengebiete im Nordosten wieder dem syrischen Zentralstaat unterordnen (weil die Alternative nur heissen kann, von der türkischen Armee überrollt zu werden), ist der Triumph Asads komplett. Abhaken dürfte dann die westliche Öffentlichkeit den Syrien-Krieg – einen Krieg, den sie medial ohnehin kaum mehr wahrnimmt. Wer will sie denn noch hören, die immergleichen Nachrichten von Leid und Unrecht? Wer ist noch nicht «syrienmüde» geworden?

Natürlich bedeutet die Schlussphase des Krieges kein Ende der humanitären Katastrophe vor Europas Haustür.

 

Seit April steht Idlib unter Dauerbeschuss. Hilfsorganisationen berichten von rund 500 getöteten Zivilisten und über 400 000 Menschen, die innerhalb der Provinz in die Flucht gegen Norden getrieben wurden. Unter dem Vorwand, islamistische Terroristen zu bekämpfen, wird mit Angriffen auf Spitäler, Schulen und andere Einrichtungen einmal mehr die Zivilbevölkerung ins Visier genommen – das ist Asads bekannte Kollektivstrafe für all diejenigen, die einst mutmasslich die Opposition unterstützt haben. Doch auch dort, wo im Rest des Landes keine Bomben mehr fallen, ist kein Friede eingekehrt: Milizionäre und Kriminelle haben vielerorts das Machtvakuum gefüllt, das der Asad-Staat hinterlassen hatte. Wo vor Schikane, Verfolgung und Folter kein Bürger sicher ist, bleibt die politische Situation gefährlich volatil. Aus der Sicht zahlloser junger Männer, die vom Regime gedemütigt wurden oder ein Familienmitglied im Krieg verloren haben, sind Rechnungen zu begleichen. So gedeiht kein Frieden.

«Wenn das die Bevölkerung herausfindet!»

Man kann diese Realität zur Kenntnis nehmen, oder man kann seine Augen verschliessen. Man kann aber auch versuchen, die nicht fassbaren Ereignisse mit dem eigenen Weltbild in Deckung zu bringen. Nicht wenige sogenannte Experten haben sich auf solche «alternativen» Sichtweisen des Syrien-Konflikts spezialisiert. Wer die Last der Komplexität nicht erträgt und nach leicht verdaubaren Antworten Ausschau hält; wer ohnehin glaubt, die «Mainstream-», «System-» oder «Nato-Medien» würden mit der Wahrheit hinter dem Berg halten, wird im Internet schnell fündig. Unter Überschriften wie «Was in Syrien wirklich passiert» oder «Was verschweigen die Medien über den Syrien-Krieg?» werden dort Youtube-Videos beworben, die Aufklärung versprechen. Dass die Hintergründe des Konflikts hochexplosiv seien, deutet ein Mitschnitt eines Videos mit dem Schweizer Historiker Daniele Ganser an:«Wenn das die Bevölkerung herausfindet!»

Ganser gehört zu den Stars der Szene, die den Leitmedien nicht nur im Syrien-Konflikt eine Verschleierung der wahren Umstände vorwerfen. So sei es in dem Land in Wahrheit nie um einen Aufstand der Zivilgesellschaft gegangen, sondern um einen von den USA und ihren Verbündeten angezettelten Wirtschaftskrieg. Wie beim Sturz Muammar al-Ghadhafis in Libyen 2011 oder beim «Putsch» in der Ukraine Anfang 2014 habe die Nato die Situation vor Ort mit Geheimoperationen eskalieren lassen. Von einer Erhebung des Volkes will Ganser nicht sprechen, wohl aber von Plänen zu einem «regime change». Der syrische Diktator sollte gestürzt werden, weil er nicht prowestlich gewesen sei beziehungsweise den strategischen und wirtschaftlichen Interessen der USA im Weg gestanden habe. Einen freien politischen Willen spricht Ganser den Syrerinnen und Syrern, die zu Hunderttausenden gegen Asad auf die Strasse gingen, damit ab – was an sich schon reichlich paternalistisch ist.

Doch die Masche zieht. Geht es bei den grossen Kriegen unserer Zeit nicht immer irgendwie um Öl und Gas? Und haben die Amerikaner im Nahen Osten nicht seit je Dreck am Stecken? Schwere politische Sünden wie der Sturz des gewählten iranischen Ministerpräsidenten Mossadegh 1953 durch die CIA oder der auf eine Lüge gebaute Waffengang im Irak 2003 nähren das Misstrauen. Der damalige amerikanische Präsident George W. Bush verortete Syrien auf der «Achse des Bösen» und warf Asad vor, Terroristen zu unterstützen. Anhänger der «Regime change»-Theorie unterschlagen aber, wie das arabische Schlüsselland nur wenige Jahre später vom Westen rehabilitiert wurde. Der deutsche Aussenminister Steinmeier reiste Ende 2006 nach Damaskus, der französische Präsident Sarkozy lud Asad 2008 nach Paris ein, die EU verhandelte ein Assoziierungsabkommen, sogar die USA schickten wieder einen Botschafter nach Damaskus. Begriffen wurde das Regime jetzt als «Stabilitätsfaktor» mit guten Kontakten zu so schwierigen Akteuren wie den Iranern, der Hamas im Gazastreifen und dem Hizbullah in Libanon.

Verschwörungstheoretiker überzeugt das nicht. Schon drei Jahre vor dem Kriegsausbruch, schreibt Ganser in einem seiner Bücher, hätten die USA im Rahmen der sagenumwobenen Bilderberg-Konferenz Asads Sturz gefordert. Beweise für die These bleibt der Historiker zwar schuldig, dafür schildert er das angebliche Motiv des Westens umso ausführlicher: Erdgas! Eine geplante Pipeline, die von Katar Gas durch Saudiarabien, Jordanien und Syrien in die Türkei und damit nach Europa bringen sollte, sei von Asad verhindert worden, damit nicht die Interessen seiner russischen und iranischen Verbündeten gefährdet würden. Dies habe die USA auf den Plan gerufen, die ebenfalls ein Interesse an der Pipeline hatten (nämlich Iran und Russland zu schwächen). Man solle sich also ja nicht von den Medien verwirren lassen, rät Ganser, auch in Syrien gehe es um Rohstoffe und nichts anderes – «that’s it!».

Postfaktisch und empathielos

Tatsächlich? Dass die Pipeline-Theorie perfekt in die vertrauten Denkmuster vor allem linker und friedensbewegter Menschen passt, beweist nicht ihre Richtigkeit. Zwar verhandelten die Türkei und Katar seit 2009 tatsächlich über eine mögliche Kooperation (ohne dass der Verlauf einer Gasleitung schon feststand), Berichte über eine angebliche Ablehnung vonseiten des Asad-Regimes finden sich allerdings erst Jahre nach Kriegsausbruch. Begeistert berichtete stattdessen die staatliche syrische Zeitung «al-Thawra» im November 2009 über das Projekt. Faktenfinder können nachweisen, dass nicht etwa Syrien, sondern Saudiarabien damals mauerte und bereits andere Pipeline-Projekte des Rivalen Katar sabotiert hatte. Auch dass gemäss einer anderen Theorie Asad statt einer katarisch-saudischen lieber eine Pipeline aus Iran über den Irak und Syrien nach Libanon bauen wollte, erscheint als Kriegsgrund wenig überzeugend: Viel zu unsicher, lang und kostspielig wäre eine solche Gasleitung im Vergleich zu einer, die von Iran direkt in die Türkei verliefe.

Über diese Unstimmigkeiten setzt sich auch der deutsche Publizist Michael Lüders hinweg, dessen angeblich nüchtern-analytische Bücher über den Nahen Osten Publikumserfolge feiern. Wie Ganser versteift sich Lüders auf die USA als Verursacherin des Syrien-Krieges und ignoriert dabei die völlig zögerliche Aussenpolitik des damaligen Präsidenten Obama. Der war gewählt worden, um Amerika nicht in einen weiteren Krieg hineinzuziehen, und lehnte deswegen zunächst sowohl die Bewaffnung syrischer Rebellen ab – zu einem Zeitpunkt, als diese noch mehrheitlich moderat waren – als auch die Einrichtung einer Flugverbotszone. Den Einsatz chemischer Waffen bezeichnete Obama als «rote Linie», er weigerte sich dann aber, militärische Konsequenzen zu ziehen, als es im Sommer 2013 tatsächlich zu Giftgasangriffen in Syrien kam. Lüders Erklärung dafür: weil «mit hoher Wahrscheinlichkeit» nicht das Asad-Regime schuldig gewesen sei, sondern weil es sich um Angriffe «unter falsche Flagge» gehandelt habe.

Dass es auch hier eine öffentlich bekannte Faktenlage gibt; dass die unabhängige Uno-Untersuchungskommission dem Regime Dutzende von Giftgasangriffen nachweisen konnte, verschweigen die selbsternannten Klartextredner. Das Publikum aber muss sich fragen, ob es überhaupt noch eine Wahrheit gibt oder nur noch interessengeleitete «alternative» Fakten. Steile Theorien gedeihen in diesem Nebel jedenfalls bestens, das ist für Sachbuchautoren und Vortragsredner immer ein gutes Geschäft. Ob es ihnen dabei überhaupt noch um die Menschen in Syrien geht oder nicht schon um das nahende Ende des amerikanischen Zeitalters, ist eine ganz andere Frage. Wer braucht schon Empathie, wenn er bereits ein festes Weltbild hat?