TRIBUT FÜR RAGIP ZARAKOLU / Ragip Zarakolu – Der Verdächtige
30.09.2012 · Karen Krüger – Am Geburtstag seiner Frau wird Ragip Zarakolu offiziell zum Terroristen erklärt. Seit Jahren wird der Verleger und Menschenrechtsaktivist von der türkischen Justiz verfolgt und bedroht. Der 63-Jährige erträgt es mit viel Sarkasmus.
Der Tag, an dem der bedeutendste türkische Verleger und Menschenrechtsaktivist Ragip Zarakolu zum Terroristen erklärt wurde, war der 28. Oktober, der Geburtstag seiner Frau. Etwas Besonderes unternehmen wollten sie an diesem Abend, und als Zarakolu merkte, dass er sich verspäten würde, rief er von unterwegs aus an. Er sei gleich da, schon auf der Fähre über den Bosporus, sagte er, und seine Frau, die amerikanische Fotografin Katherine E. Holle, hörte im Hintergrund die Möwen kreischen. Doch Ragip Zarakolu kam nie an. Vor dem Haus wurde er von zwei Polizisten in Zivil abgefangen. Sie stopften ihn in ein Auto und fuhren mit ihm davon. Das Telefon seiner Frau klingelte kurz vor Mitternacht wieder. Eine Stimme sagte: Wir haben Ihren Mann verhaftet, er ist ein Terrorist.
Fast ein Jahr später steht Ragip Zarakolu in seinem Wohnzimmer, lächelt freundlich und sagt:. „So enden Geburtstage eben manchmal in der Türkei.“ Er trägt Jeans, ein schwarzes T-Shirt, ein weißes, offenes Hemd. Die Füße stecken in schwarzen Socken. Fünf Monate und dreizehn Tage saß er in einem Hochsicherheitsgefängnis bei Istanbul in Untersuchungshaft, in einer Zelle ohne Tageslicht, aus Beton und Eisen. Zarakolu soll die „Union der Gemeinschaft Kurdistans“ unterstützt haben; sie gilt als ziviler Arm der PKK. Am 2. Oktober beginnt sein Prozess, die Staatsanwaltschaft fordert 15 Jahre Haft. Gut möglich, dass der Verleger verurteilt wird – Zarakolu ist der türkischen Justiz schon seit langem ein Dorn im Auge. Vielleicht wird er auch der nächste Friedensnobelpreisträger. Das schwedische Parlament hat ihn im Februar nominiert.
Mit viel Sarkasmus
Zarakolu setzt sich, schlägt die Beine übereinander. 63 Jahre ist er alt, seine Augen sind jünger, das Gesicht ist gebräunt und faltenlos, der Kopf kahl, er ist klein, hat einen buschigen Bart und eine helle Stimme. Er verströmt die Aura eines Menschen, der immer sehr mächtige Gegner hatte und deshalb einen Sarkasmus entwickelt hat, der manchmal nur schwer zu ertragen ist. Würden juristische Auseinandersetzungen Spuren auf dem Körper hinterlassen, dann wäre er voller Wunden und Narben. Mehr als vierzig Mal ist er schon vor Gericht gezerrt worden. Mehrmals kam er in Haft. Zum ersten Mal 1971 wegen eines Berichts, den er für Amnesty International über türkische Gefängnisse geschrieben hatte. Ein Jahr später wegen eines Artikel über Ho Tschi Minh. Zarakolu sagt: „Die türkische Justiz bestraft den Angeklagten nicht, weil er gegen ein Gesetz verstoßen hat, sondern sie bestraft ihn für seine Identität.“
Der ideale türkische Bürger hat nämlich nur das zu wissen und zu meinen, was sich konform zur Ideologie des Staates verhält. Dagegensein ist in der Welt des EU-Anwärters nicht vorgesehen. Türken werden nicht zum freien Denken, sondern zur Unmündigkeit erzogen. Alles andere widerspräche den Prinzipien des Kemalismus. Zarakolu sagt: „Sie wollen alles kontrollieren, wie bei George Orwell. Sie sind verrückt.“
Mit intellektuellen Mitteln setzte er sich zur Wehr und gründete mit seiner ersten Frau, der 2002 verstorbenen Ayşe Nur Zarakolu, im Jahr 1977 den Belge-Verlag. Seine Bücher werden geliebt. Und gehasst. Auf Türken wirken sie wie ein Glas Eiswasser, das ihnen ins Gesicht gekippt wird: Sie machen wach. Die Zarakolus machten die Namen Perry Anderson und Joseph Conrad in der Türkei bekannt, veröffentlichten Kurzgeschichten, Gedichte, Essays von politischen Gefangenen. Eine ganze Studentengeneration war nach dem Militärputsch Anfang der achtziger Jahre zu Terroristen gestempelt worden. Der Belge-Verlag zeigte ihre Kultur. Am meisten aber forderte Zarakolu den Staat mit Werken über den Völkermord an den Armeniern heraus. Das erste erschien Anfang der neunziger Jahre, als drei Millionen Kurden vertrieben und deren Dörfer niedergebrannt wurden: „Plötzlich hatte die kurdische Frage das Potential für einen Genozid. Ich dachte, in diesem Land muss deshalb unbedingt über das Leid der Armenier gesprochen werden, um zu sensibilisieren.“ Im Jahr 1999 dann der Paukenschlag, mit einer türkischen Übersetzung von Franz Werfels „Die 40 Tage des Musa Dagh“. Die nationalistischen Betonköpfe zahlten es dem Paar heim, mit Klagen, Razzien, mit hohen Geldstrafen und Gefängnis. Ganze Auflagen von Dutzenden von Büchern wurden konfisziert. Einen Bombenanschlag, der 1995 auf den Verlag verübt wurde, überlebte Ayşe Nur Zarakolu knapp.
Immer wach
Als Zarakolu im Oktober verhaftet wurde, beschlagnahmte die Polizei ein Manuskript. Es war die türkische Übersetzung von „Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes“ von Wolfgang Gust, einem ehemaligen „Spiegel“-Redakteur. Das Buch erschien trotzdem. Zarakolu fängt an zu kichern: „Ich kenne inzwischen die Gewohnheiten der türkischen Polizei. Also hatte ich noch woanders ein Exemplar.“ Zarakolu schlägt sich auf die Schenkel, als habe er gerade einen Witz erzählt. In diesem Moment kann man verstehen, warum die Richter ihn nicht ausstehen können.
Zarakolu sagt, er habe damals irgendwie geahnt, dass man ihn bald mal wieder verhaften würde, und sei nicht überrascht gewesen, als er recht behielt. Als Anlass diente den Behörden eine Rede, die er an der Bildungsakademie der BDP gehalten hatte, das ist eine von Kurden dominierte Partei, die im Parlament in Ankara vertreten ist. Zarakolu war als Redner für die Verabschiedung der Absolventen eingeladen worden, er sprach von Zukunft und Hoffnung, sagte harmlose Dinge, die man an einem solchen Tag eben sagt. Nach Ansicht der Justiz hätte er nicht einmal anwesend sein dürfen: Die türkischen Intellektuellen sollen sich fernhalten von den Kurden. Seitdem der Krieg gegen die PKK wieder aufgeflammt ist, will die Regierung sie politisch und gesellschaftlich isolieren. Damit das gelingt, stellt die Justiz Fallen, die sie mit viel Getöse zuschnappen lässt – weder die BDP noch ihre Akademie ist verboten, dennoch wird man verhaftet, wenn man dort eine Rede hält. Der Erfolg ist beachtlich: Istanbuler Intellektuelle halten sich jetzt fern von der BDP-Akademie. Kurz nachdem Zarakolu ins Gefängnis gekommen war, gab es eine neue Verhaftungswelle. Sie traf fast vierzig Journalisten, die alle über die kurdische Frage geschrieben hatten.
Auch deshalb schrieb Zarakolu sofort einen Artikel für die armenisch-türkische Zeitung „Agos“, als er aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Er bestand darauf, dass der auf Armenisch erschien. Danach veröffentlichte er einen Artikel auf Kurdisch. „Als Nächstes ist Griechisch dran und vielleicht Aramäisch. Die Sprachen der unterdrückten Minderheiten hätte ich dann durch“, sagt er und lächelt bei der Vorstellung, wie die Staatsanwälte sich die Haare raufen werden, weil es in ihrer Behörde keine Übersetzer für diese Sprachen gibt, sie aber unbedingt verstehen wollen, was Zarakolu geschrieben hat.
Er geht in den Flur. Er muss telefonieren. Er spricht jetzt sehr laut und streng. Irgendwer soll etwas für ihn organisieren. Vielleicht ist ihm noch eine Finte eingefallen, wie er die Staatsanwälte ärgern kann. Seine Familie hat immer gelitten unter dem autoritären türkischen System. Durch die Fenster fällt die Nachmittagssonne und zeichnet träge Schatten auf den Boden. Wären die Häuser vor Zarakolus Wohnhaus niedriger, dann könnte man das Marmarameer sehen und die der Stadt vorgelagerten Prinzeninseln. Auf einer, auf Büyükada, wurde Zarakolu geboren. Sein Vater war dort Landrat. Türken, Griechen, Armenier, Juden lebten auf den Inseln, sie prägten seine Sicht auf die Welt. Als 1960 der erste Militärputsch die Türkei erschütterte, zwangen die Generäle den Vater, seine Arbeit niederzulegen. Er war zu liberal.
Ohne große Hoffnung
Zarakolu kommt zurück ins Wohnzimmer, mit Gläsern und einer Flasche Likör in der Hand, auf dem Etikett steht „Ararat“, Zarakolu hat ihn aus Erivan mitgebracht, wo ihm im Mai die Ehrenmedaille des armenischen Staates verliehen worden ist – Armenien und die Türkei liegen im Dauerstreit, für die armenische Regierung muss es ein Triumph gewesen sein, dass der gerade aus der Haft entlassene Zarakolu die Medaille persönlich in Empfang nahm. Er schenkt ein, lehnt sich im Sessel zurück und sagt: „Schläge oder Elektroschocks, wie in den achtziger Jahren, habe ich diesmal nicht bekommen. Stattdessen gab es Decken und Essen. Die Türkei ist jetzt eben eine echte Demokratie.“ Er lacht und nimmt einen Schluck. „Wissen Sie, wir haben eine Welt hier, aber wie in der Mythologie gibt es in der Türkei noch eine andere. Eine Welt unter uns, ein Hades. Ich konnte ihn sehen. Der Eingang liegt unter dem Polizeipräsidium.“ Einen riesigen Parkplatz gebe es dort, auf dem jede Abteilung einen eigenen Abschnitt mit eigenen Türen habe. Durch sie werden die Verhafteten direkt zu den Zellen geführt. Als Zarakolu zur Toilette musste, sah er auf dem Gang Büşra, die Freundin seines Sohne Deniz. Auch sie war verhaftet worden. Später, im Gefängnis, traf er dann auf Deniz selbst. Vor einigen Jahren hatte er eine Studie über die Unabhängigkeit der türkischen Richterschaft erstellt, außerdem hielt er an der Bildungsakademie der BDP Vorlesungen über Thomas Hobbes. Reichlich Gründe für die Justiz, sich den 35-Jährigen ebenfalls vorzunehmen. Er wird zusammen mit seinem Vater vor Gericht stehen. Zwischenzeitlich freigekommen ist er nicht.
„Haben Sie die Schule auf der anderen Straßenseite gesehen?“, fragt Zarakolu. „Meine Generation musste morgens vor Schulbeginn immer rufen: ,Ich bin stolz, ein Türke zu sein‘. Genauso meine Kinder, sie sind auf diese Schule gegangen. Und heute höre ich diese Worte morgens immer noch. Wird sich dieses Land denn nie ändern?“
Hoffnung, dass Erdogan und seine Justiz irgendwann einen anderen Weg einschlagen werden, hat Zarakolu nicht. Er glaubt an andere Leute. Als die Türkei im Jahr 2006 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war, beriet er den türkischen Kulturminister Günay. Sein Ministerium hatte sich ein hübsches Logo für den Gastlandauftritt ausgedacht: Ein buntes Mosaik, das die Gleichberechtigung von Kulturen und Religionen in der Türkei symbolisieren sollte – einen Zustand also, den es in der Türkei nicht gibt. Günay ist sich dessen offenbar bewusst, denn er fragte Zarakolu, was man am Stand präsentieren könne, damit das Logo nicht lächerlich wirke. Zarakolu setzte durch, daß neben großen türkischen Verlagen auch jüdische, armenische und griechische eingeladen wurden. Und ließ es sich nicht nehmen, ein Buch über den armenischen Genozid zu präsentieren. Der Kulturminister sah es, sagte aber nichts. „Ich merkte, wie nervös er wurde. Aber er hatte so genau die Vielfalt, die er sich für den Auftritt im Ausland wünschte.“ Als Zarakolu jetzt im Gefängnis saß, schickte der Kulturminister ihm Bücher.
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ragip-zarakolu-der-verdaechtige-11908411.html