THEO VAN GOGH WATCH: Opfert EU den Klimaschutz? Entkopplung von Russland steht Energiewende im Weg

Um die Abhängigkeit von Russlands Energie zu senken, will die EU-Kommission zusätzliche CO2-Rechte versteigern. Nicht nur Klimaschützer sind entsetzt – auch die Bundesregierung ist skeptisch.

Brüssel FAZ  – 27.5.2022Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verkauft ihren Vorschlag zur Entkoppelung der EU vom russischen Erdgas und Öl als gigantisches Investitionsprogramm von 300 Milliarden Euro bis 2030.

Tatsächlich hat die Kommission nur die Kosten beschrieben, die der stärkere Ausbau der Erneuerbaren, die zusätzlichen Anstrengungen zum Energiesparen und der Ausbau von Flüssiggasterminals und Infrastruktur verursachen werden. „Frisches Geld“ enthält der Vorschlag kaum. Stattdessen sollen die Staaten das Geld des Corona-Aufbaufonds und den EU-Haushalt nutzen. Eine Ausnahme jedoch gibt es: 20 Milliarden Euro will die Kommission durch den Verkauf zusätzlicher Emissionsrechte erzielen und an die EU-Staaten weiterreichen.

Bei Klimaschutzverbänden und Grünen hat das für einen Aufschrei gesorgt. Von einem Brandbeschleuniger für die Klimakrise spricht der Volt-Europaabgeordnete Damian Böselager. Zumal mit dem Geld auch Investitionen in fossile Brennstoffe wie LNG gefördert würden. „Die Energiewende darf nicht mit der Klimakrise finanziert werden“, sagt der Abgeordnete der Grünen, Michael Bloss. Auch die Bundesregierung hat Bedenken, „da dies zu höheren CO2-Emissionen führen könne“, wie es in einem internen Drahtbericht zum EU-Gipfel Anfang kommender Woche heißt, bei dem das Thema auf der Tagesordnung steht. Der Drahtbericht liegt der F.A.Z. vor. Irland, Dänemark und Finnland teilen die Sorge. Sowohl das Europaparlament als auch der Ministerrat der Staaten müssen zustimmen, bevor die Kommission die Emissionsrechte verkaufen kann.

Es hapert an der Umsetzung

Mit dem Emissionshandel deckelt die EU den CO2-Ausstoß von Industrie und Stromerzeugern auf das ihren Klimazielen entsprechende Niveau. Dafür versteigert sie alljährlich eine bestimmte Zahl Zertifikate. Diese können gehandelt werden. Die Unternehmen können also entscheiden, ob sie für den Preis Zertifikate kaufen oder in grüne Technologien investieren. Da die Rechte Jahr für Jahr knapper werden, steigt der Preis und setzt so einen immer stärkeren Anreiz, den Ausstoß zu senken. So weit die Theorie: In der Praxis hat das lange nicht gut funktioniert, weil zu viele Emissionsrechte vergeben worden waren. Der Preis dümpelte bei 5 Euro je Tonne. Das hat sich erst geändert, seit die EU mit der 2019 eingeführten „Marktstabilitätsreserve“ überschüssige Zertifikate abschöpft. 2,6 Milliarden Rechte sind in der Reserve heute, das Zweieinhalbfache des Gesamtmarkts. In diesem Jahr stieg der Preis erstmals auf beinahe 100 Euro.

In den Augen von Klimaschutzverbänden ist die Reserve deshalb ein Garant für einen funktionierenden Emissionshandel und unantastbar. Die Reserve anzutasten plant aber die Kommission. Die 20 Milliarden Euro sollen durch den Verkauf von Zertifikaten aus der Reserve finanziert werden. Bei einem Preis von 80 Euro braucht sie 250 Millionen dafür. Das ist im Verhältnis zur Gesamtmenge nicht viel. „Zusätzlich 250 Millionen Tonnen CO2 auszustoßen ist allerdings fast doppelt so viel, wie alle deutschen Kohlekraftwerke im Jahr emittieren“, rechnet Bloss vor.

Felix Matthes vom Öko-Institut und der RWE-Chef Markus Krebber warnen vor einem Teufelskreis. „Ein höheres Angebot an Zertifikaten lässt den Preis sinken. Ein gesunkener Preis braucht eine noch höhere Menge an zusätzlichen Zertifikaten, um die 20 Milliarden Euro zu generieren – und so weiter“, schreiben sie in einem Gastkommentar im „Handelsblatt“. Tatsächlich ist der Preis seit der Vorstellung des Vorschlags von mehr als 90 Richtung 80 Euro gesunken.

Vertrauen in den Markt

„Wir sehen, dass die geplante Versteigerung zusätzlicher Zertifikate den Preis dämpft, was konservativ geschätzt EU-weit zu Mindereinnahmen von rund 7,5 Milliarden Euro aus Versteigerungserlösen in den nächsten fünf Jahren führen kann“, warnt Matthias Buck von der Denkfabrik Agora Energiewende. Diese Erlöse würde aber dringend benötigt für Klimaschutzinvestitionen, etwa um die Industrietransformation über Klimaverträge („Carbon Contracts for Difference“) abzusichern. Für das sichere Erreichen der Klimaziele müsse die EU deshalb bis zum Ende des Jahrzehnts eine entsprechende Menge an Zertifikaten wieder aus dem Markt nehmen.

Genau das sei – dank der Marktstabilitätsreserve – sowieso sichergestellt, hält die Kommission entgegen. Die zusätzliche Versteigerung von 250 Millionen Zertifikaten erhöhe die Zahl der Zertifikate im Markt. Damit steige der Überschuss, und es würden in den Jahren darauf mehr Zertifikate aus dem Markt genommen. „Nach unserer Analyse werden die zusätzlichen Rechte bis 2030 wieder vom Markt verschwunden sein“, sagt ein EU-Beamter. Letztlich werde die Versteigerung dieser Zertifikate damit nur vorgezogen. Um den Druck auf den Preis wiederum gering zu halten, sollen die zusätzlichen Zertifikate nicht auf einmal, sondern über mehrere Jahre gestaffelt bis Ende 2026 auf den Markt kommen. Aus Sicht der Kommission läuft die Kritik damit weitgehend ins Leere. Die Klimaziele würden erreicht wie geplant, nur der Weg ändere sich ein wenig.

Einer der Architekten des Emissionshandels, der ehemalige EU-Beamte und Lehrbeauftragte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz Jos Delbeke, verteidigt den Ansatz als „pragmatisch“. Wenn manche sagten, die Kommission plündere die Reserve, zeige das, dass sie den Sinn der Marktstabilitätsreserve nicht verstanden hätten. „Der spektakuläre Anstieg des Preises in den letzten neun Monaten war unvorhersehbar und kann nicht als gegeben angesehen werden“, sagt Delbeke. „Die Geschwindigkeit des Preisanstiegs erhöht den Druck auf die Industrie in einem ohnehin schon schwierigen Energiemarkt.“