THEO VAN GOGH WATCH: INTERVIEW – «Je länger der Krieg dauert, desto stärker ist die ukrainische Demokratie bedroht»

Der Politologe Serhi Kudelia erklärt die Gründe für den Erfolg der Ukraine rund um Kiew und das Desaster im Süden. Präsident Selenski sieht er als den richtigen Anführer in Kriegszeiten – und zeigt sich über dessen autoritäre Tendenzen besorgt.

Ivo Mijnssen 11.05.2022 – NZZ –

Der Westen dürfe nicht zulassen, dass Russland der Ukraine Territorium entreisse und die Wirtschaft zerstöre, sagt der Politologe Serhi Kudelia.

Herr Kudelia, hörte man sich zu Beginn des Krieges bei Ukrainern um, bekam man den seltsamen Eindruck, dass sie den russischen Überfall seit Jahren erwartet hatten und zugleich völlig überrascht wurden. War das für Sie auch so?

Absolut. Ich lebe in den USA, verbrachte aber den ganzen Januar mit meiner Familie in der Ukraine. Meine amerikanischen Freunde fragten mich, ob ich verrückt geworden sei, in ein Kriegsgebiet zu gehen. Doch ich war wie fast alle Ukrainer überzeugt davon, dass Wladimir Putin mit dem Truppenaufmarsch lediglich Konzessionen erzwingen wollte. Wir hatten das Gefühl, dass die Russen in einem Krieg nichts zu gewinnen hätten.

Weshalb schlug er trotzdem los?

Ich glaube, dass Putin alle Illusionen verloren hatte, das Kräfteverhältnis in der Ukraine ohne Militärschlag noch zu verändern. Seine politischen Verbündeten und ihre Fernsehkanäle konnten die öffentliche Meinung nicht mehr verändern. Er hatte wohl das Gefühl, es bleibe nur wenig Zeit, bis die Hinwendung der Ukraine zum Westen unumkehrbar geworden sei. Zudem ist der russische Präsident kein junger Mann mehr – diese Invasion sah er wohl als seine letzte Chance, mit Gewalt Fakten zu schaffen.

Die erfolgreiche Gegenwehr der Ukrainer hat Russlands Hoffnung auf einen Blitzsieg gründlich durchkreuzt. Weshalb war Ihr Land so gut vorbereitet?

Ich bin nicht sicher, ob diese Aussage pauschal stimmt. Viele meiner Freunde in Kiew waren sehr aufgebracht darüber, dass die Regierung zu Beginn keine Anstrengungen unternahm, Zivilisten zu evakuieren und damit Opfer zu vermeiden. Die entsprechenden Züge fuhren erst später, es waren keine Routen vorbereitet. Das ist schwer verständlich, zumal die Amerikaner genau vorhergesagt hatten, woher der russische Vorstoss kommen würde. Man hätte mehr Leben retten können.

Die ukrainische Regierung habe zu Beginn des Krieges keine Vorkehrungen für die Evakuierung von Zivilisten getroffen und damit ein grosses Chaos ausgelöst, das zu zusätzlichen zivilen Opfern geführt habe, sagt Kudelia.

Und wie bewerten Sie die militärische Reaktion?

Die Armee begann erst nach der Invasion damit, eine Verteidigungslinie um Kiew aufzubauen, die aber immerhin hielt. Im Süden hingegen war die Verteidigung schlecht vorbereitet. Viele fragen sich, weshalb die Russen so rasch von der Krim her vorrücken konnten. Wir haben deshalb grosse territoriale Verluste erlitten und sind vom Meer weitgehend abgeschnitten. Dies erlaubt es den Russen, nun sogar von einem Vormarsch nach Odessa und einer Landbrücke bis in die Moldau zu sprechen.

Und doch erlebte man kein Desaster wie 2014, als die Russen die Krim praktisch ohne Gegenwehr annektierten und die ukrainische Armee im Donbass nur dank Freiwilligenbataillonen standhielt.

Die Armee wurde reformiert, und die erst Anfang Jahr aktivierte, «Territorialverteidigung» genannte Landwehr ist deutlich effektiver als die Freiwilligenverbände, die von einzelnen Oligarchen abhängig waren. Nun organisieren Zivilisten den Schutz der Städte. Das funktionierte dort gut, wo die Behörden vorbereitet waren. Im Süden, etwa in Cherson, war dies nicht der Fall, in der Region Kiew schon. Dazu kommt, dass das Terrain rund um die Hauptstadt für die Russen sehr ungünstig ist. In den Waldgebieten nützte ihnen ihre Überlegenheit wenig. Sie wurden in Scharmützeln und Hinterhalten aufgerieben.

Hier kam das ukrainische Improvisationstalent zum Tragen?

Ja, die Ukrainer kämpften in kleinen, mobilen Einheiten. Zudem sammelten die Leute für ihre Landwehr Geld und Ausrüstung, etwa über Facebook. Das wird dereinst Material für interessante Studien in Militärgeschichte hergeben.

«Die Organisation der Verteidigung ist eine Aufgabe der Regierung in Kiew. Sie hat versagt.»

Der Südosten gilt als vergleichsweise russlandfreundlich. Führten diese Sympathien vielleicht dazu, dass man die Gefahr aus dem Kreml weniger ernst nahm?

Es kann schon sein, dass die Menschen und Behörden vor Ort ernsthaftere Vorkehrungen getroffen hätten, wenn sie sich stärker bedroht gefühlt hätten. Aber die Organisation der Verteidigung ist eine Aufgabe der Regierung in Kiew. Sie hat versagt.

Lässt sich dies damit erklären, dass die Zentralregierung im Süden schwächer verankert ist? 2014 hatten hier ja die Gegner der aus dem Euromaidan hervorgegangenen prowestlichen Regierung das Sagen.

Nein. Die Bevölkerung in dieser Gegend stimmte 2019 mit überwältigender Mehrheit für Präsident Wolodimir Selenski. Dass die schwache Verteidigung keine Folge der politischen Prägung von vor 2014 ist, zeigt der Vergleich mit dem Donbass: Dort war Wiktor Janukowitschs Partei der Regionen einst ebenfalls sehr stark, aber die Region ist heute gut gerüstet. Weil es einen Verteidigungsplan gab, der über Jahre umgesetzt wurde.

Welche Rolle spielt der Austausch der Eliten seit 2014?

Unter dem damaligen Präsidenten Petro Poroschenko blieben trotz einer Erneuerungswelle viele Leute auf ihren Positionen. Der Bruch erfolgte erst 2019 mit der Wahl Selenskis. Nun kamen neue Personen an wichtige Posten, und das war positiv, da sich für Vertreter der Bürgergesellschaft Chancen eröffneten. Viele Leute, die in leitende Positionen kamen, waren aber mangelhaft vorbereitet oder sogar inkompetent.

«Selenski wollte die Oligarchen zerstören, die Korruption bekämpfen und den Krieg im Donbass beenden. Nichts davon hat er eingelöst.»

Hatte dies mit Selenskis politischer Unerfahrenheit zu tun? Seinen Wahlsieg verdankte er der idealisierten Figur eines Präsidenten, wie er sie in einer Serie gespielt hatte.

Ja, viele Beobachter sahen die Wahl eines Fernsehkomikers als Symptom für die mangelnde Reife der ukrainischen Demokratie. Selenski trat populistisch auf, mit sehr ambitionierten Zielen. Er wollte die Oligarchen zerstören, die Korruption bekämpfen und den Krieg im Donbass beenden. Nichts davon hat er eingelöst.

Weshalb nicht?

Weil hinter dem neuen Stil wenig Substanz und Reformwillen steckte. Das Ziel war zu oft, Besitz an eine neue Elite umzuverteilen, die Selenski gegenüber loyal ist. Selenskis Ziel ist die Zentralisierung von Macht. Die Schlüsselfigur in diesem Prozess ist Andri Jermak, der Leiter der Präsidialadministration. Seine starke Position ist nicht demokratisch legitimiert, sondern das Resultat seiner Nähe zu Selenski. Solche informellen Praktiken zeigen, wie hartnäckig sich schlechte postsowjetische Sitten halten.

Diese Intransparenz dürfte den Kampf gegen die Korruption behindern.

Der Wille dazu nahm bereits vor dem Krieg ab. Medienberichten über Korruption in Selenskis engstem Umfeld wurde kaum nachgegangen. Er verlor deshalb stark an Rückhalt bei seinen Wählern.

Seit Beginn der Invasion hat sich das aber radikal geändert.

Absolut. Er wurde zu einem Helden mit internationaler Ausstrahlung und zu einem Anführer mit breiter Unterstützung in der ukrainischen Gesellschaft.

Worauf führen Sie das zurück?

Er hat den Ukrainerinnen und Ukrainern gezeigt, dass er wie sie leidet, dass er bereit ist, sich wie alle in Gefahr zu begeben. Er ging zu Leuten hin, deren Angehörige und Freunde Opfer von Massenmord geworden waren, er zeigte Mitgefühl und Mitleid. Seine Fähigkeit, mit den Leuten zu sprechen und sie moralisch zu unterstützen, ist zentral. Man sollte nicht vergessen, dass in unserer Erinnerung die Flucht von Janukowitsch 2014 noch sehr präsent ist: Das durch die Implosion der Regierung erzeugte Machtvakuum ermöglichte es den Russen, die Krim zu annektieren. Indem Selenski jeden Abend zu den Ukrainern spricht, markiert er Präsenz und den Willen, das Land zu regieren. Das wirkt sehr beruhigend.

Auffallend ist auch, dass sich die notorisch zerstrittene Elite ruhig verhält. Kritik an Selenski gibt es kaum.

Am ersten Tag des Krieges bot der Präsident allen Fraktionen einen Pakt an, der einen Monat hielt. Seither hat Selenski wiederholt von «unfreundlichen Aktionen» seiner Gegner gesprochen, was zeigt, dass seine politischen Rivalen nicht einfach aufgeben. Er nutzt nun seine Position als Oberkommandierender: So können von Poroschenko kontrollierte Fernsehkanäle nicht mehr über Kabel empfangen werden. Die Begründung der Regulationsbehörde war, sie widersprächen der Regierungslinie.

Was ist das Ziel solcher Aktionen?

Die Konkurrenz zu eliminieren. Selenski denkt langfristig. Er schwächte Poroschenko und liess den Putin-Vertrauten Wiktor Medwedtschuk verhaften. So neutralisiert er die nationalistische und prorussische Opposition.

Ist das eine Bedrohung für die Demokratie in der Ukraine?

Es ist kein gutes Zeichen. In Kriegszeiten begrenzen zwar sogar die stärksten Demokratien die Meinungsfreiheit. Aber die Ukraine ist eine schwach entwickelte Demokratie mit erheblichen Defiziten bei der Gewaltentrennung. Da Selenski eine Parlamentsmehrheit hat, sind diese Defizite unter ihm sogar noch gewachsen. Je länger der Krieg dauert, desto stärker ist die Demokratie bedroht.

Aber wirkt der Krieg nicht in widersprüchliche Richtungen? Einerseits mobilisiert er die Bevölkerung, die das Land verteidigt, was eher demokratisierend wirkt. Andererseits stärkt er die Exekutive.

Ja, die jetzige Mobilisierung wird massgeblich von jenen Netzwerken getragen, die 2014 rund um den Euromaidan entstanden. Sie sind heute noch viel stärker und können mit Recht behaupten, für ihr Land gekämpft und geblutet zu haben. Selenski kann kaum gegen sie entscheiden. Das Problem ist, dass die meisten bereit wären, einen autoritären Präsidenten in Kauf zu nehmen, solange er keine Zugeständnisse an Russland macht.

Worauf stützen Sie diese Annahme?

Auf den Versuch Selenskis von 2019, den Krieg im Donbass durch Gespräche mit Putin zu beenden. Die damals schon mobilisierte Minderheit machte klar, dass sie keine Kompromisse akzeptiert.

«Eine Rückeroberung aller verlorenen Gebiete ist möglicherweise illusorisch, nicht aber ein Abkommen, das die Würde der Ukraine intakt lässt. Die Alternative sind ewiger Krieg und Autoritarismus.»

Heute kontrolliert Russland noch deutlich mehr Territorium. Heisst dies, dass alles ausser einem kompletten ukrainischen Sieg innenpolitisch unmöglich durchzusetzen ist?

Es wird jedenfalls sehr schwierig. Die Gefahr liegt darin, dass die mobilisierte Minderheit irgendwann nach einem Ende des Krieges den Willen der Mehrheit blockiert. Eine Rückeroberung aller verlorenen Gebiete ist möglicherweise illusorisch, nicht aber ein Abkommen, das die Würde der Ukraine intakt lässt und einen Wiederaufbau des Landes ermöglicht. Die Alternative sind ewiger Krieg und Autoritarismus.

Das klingt düster.

Ja, und leider sehe ich kaum Hinweise dafür, dass es rasch politische Fortschritte oder eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage gibt. In den nächsten Monaten wird das System in der Ukraine deutlich stärker auf Selenski zugeschnitten werden. Ausserdem wird es Schritte in Richtung einer Kriegswirtschaft geben, was eine Beschneidung von Sozialleistungen für Zivilisten bedeutet. Gibt es keine Vereinbarung mit Russland, werden noch mehr Menschen das Land verlassen, da viele noch immer von einem raschen Ende des Krieges ausgehen.

Welche Perspektive kann da der Westen bieten?

Die EU muss uns bis Sommer als Kandidat für eine Mitgliedschaft anerkennen. Sie könnte so Forderungen bezüglich politischer und demokratischer Institutionen in der Ukraine stellen. Heute verfügt sie über keinen wirklichen Hebel.

Ein Beitrag zu einem Ende des Krieges ist das nicht.

Nein. Aber die Europäer müssen langfristiger denken. Sie dürfen nicht zulassen, dass Russland der Ukraine gleichzeitig Territorium entreisst, die Wirtschaft zerstört und den demokratischen Fortschritt zurückdreht. Sonst wird mein Land zu einem neuen Weissrussland oder Kasachstan. Und das würde den Beziehungen zum Westen mehr schaden als alles andere.

Ein ukrainischer Politologe in Texas

Der in Lwiw geborene 45-Jährige gehört zu den profiliertesten Experten für das politische System und die Konflikte in der Ukraine. Die meisten Veröffentlichungen des Professors für Politikwissenschaften an der Baylor University in Texas befassen sich mit den Auswirkungen der demokratischen Revolutionen, die das Land aus dem russischen Orbit in Richtung Westen geführt haben. Gegenwärtig schreibt Kudelia als Fellow der Initiative Ukrainian Research in Switzerland an der Universität Basel ein Buch über den Konflikt im Donbass. Das Interview fand im Rahmen des Europäischen Mediengipfels in Lech am Arlberg statt.