THEO VAN GOGH WATCH: In Slowenien und Indien baut Novartis aus / DOWNGOING EUROPE !

Hunderte Kündigungen bei Novartis und Roche: Dabei trifft es vor allem hochqualifizierte Spezialisten

Die Schweizer Pharmaindustrie steht vor einem Aderlass. Wegen Reorganisationen bei Novartis und Roche sowie bei der Biotechfirma Idorsia drohen 1000 Stellen zu verschwinden. Es sind fast nur Jobs hochqualifizierter Fachkräfte.

Dominik Feldges16.04.2024, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

 

Novartis streicht in der Schweiz bis zu 440 Stellen in der Entwicklung. Der Abbau trifft primär den Basler Campus des Pharmakonzerns.

Die Schweiz zählt zur Spitzengruppe der weltweit führenden Standorte in der Pharmaindustrie. Im globalen Ranking der Marktforschungsfirma BAK Economics schaffte sie es 2023 erneut auf den dritten Platz, übertroffen nur vom Spitzenreiter Irland sowie den USA. Sie verdankt dies vor allem der hohen Wertschöpfung, die Pharmafirmen hierzulande mithilfe intensiver Forschungstätigkeit sowie der Produktion innovativer und entsprechend hochpreisiger Medikamente erbringen.

Ein Schlag für den Forschungsplatz Schweiz

Schlecht in dieses Bild passen umfangreiche Stellenstreichungen, die jüngst die beiden führenden Schweizer Pharmakonzerne Roche und Novartis sowie – bereits im vergangenen Jahr – das finanziell angeschlagene Biotechnologieunternehmen Idorsia bekanntgegeben haben. Die Abbaumassnahmen betreffen allesamt den Bereich der Forschung und Entwicklung (F&E) und umfassen zusammengerechnet rund 1000 Arbeitsplätze. Dies entspricht gut 8 Prozent der knapp 12 000 Stellen, die der Branchenverband Interpharma 2021 schweizweit in F&E-Funktionen zählte.

Idorsia bilanzierte Ende Oktober vergangenen Jahres, am Hauptsitz in Allschwil bei Basel rund 475 Stellen abgebaut zu haben. Der Grossteil davon sei auf den Bereich F&E sowie damit verbundene Supportfunktionen entfallen, schrieb das Unternehmen in der Medienmitteilung zum dritten Quartal.

Anfang Februar 2024 wurde bekannt, dass Roche in der Produktentwicklung hierzulande knapp 100 von 1500 Stellen streicht. Bei Novartis fallen, wie vergangene Woche publik wurde, 400 bis 440 Positionen in der Entwicklung weg.

Roche muss fitter werden

Bei Pharmafirmen beinhaltet die Entwicklung Tätigkeiten, die im Anschluss an das Aufspüren neuer Wirkstoffe anfallen. So gehört dazu die Erprobung der Wirkstoffe an Patienten in klinischen Studien, die Zusammenarbeit mit Zulassungsbehörden oder die Entwicklung von Methoden, wie die neuen Medikamente am besten produziert und verabreicht werden können. Bei den nun abgebauten Arbeitsplätzen handelt es sich denn auch fast ausschliesslich um solche von hochspezialisierten Fachkräften, oft mit Universitätsabschluss.

Bei Roche betont man, nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit die Zahl der Beschäftigten in der Produktentwicklung zu reduzieren. Der Konzern hat in den vergangenen Jahren, wie in seiner Zentrale freimütig eingeräumt wird, Speck angesetzt. Um mit Konkurrenten, die schneller unterwegs sind, wieder mithalten zu können, muss sich offenbar auch die Entwicklungsabteilung verschlanken. Weltweit fallen dem Abbau 340 von 5700 Stellen zum Opfer. Ein erstes Fitnessprogramm hatte sich das Unternehmen in diesem Bereich bereits vor drei Jahren verordnet. Es führte zum Abbau von 300 Stellen.

In Österreich, Slowenien und Indien baut Novartis aus

Im Fall von Novartis treffen die Abbaumassnahmen in der Entwicklung indes überproportional die Schweiz. Weltweit gehen in diesem Bereich nur 1 bis 2 Prozent der Arbeitsplätze verloren. Das hängt damit zusammen, dass Novartis an verschiedenen Standorten Stellen auch aufbauen will. So können die beiden österreichischen Werke in Kundl und Schaftenau mit einer Vergrösserung ihrer Belegschaft rechnen, ebenso wie Standorte in Slowenien und im indischen Hyderabad.

Weitere Einstellungen sind in Grossbritannien (London) und in Irland (Dublin) geplant. Novartis will dort vor allem Spezialisten für die Datenanalyse und Statistiker rekrutieren – Fachkräfte, an die man anderswo kurzfristig nicht gleich schnell herankomme, wie ein Sprecher ausführt.

Ähnlich wie Roche will auch Novartis die Reorganisation im Bereich Entwicklung nicht als Sparübung verstanden wissen. Es gehe vielmehr darum, Kompetenzen an Standorten zu bündeln, wo solche bereits vorhanden seien, erklärt das Unternehmen dazu.

Rückstand der Schweiz bei der Digitalisierung rächt sich

Wie die meisten Pharmakonzerne ist Novartis zudem darauf bedacht, Möglichkeiten der Digitalisierung stärker zu nutzen. Aus der besseren Auswertung von Daten verspricht sich die Branche beispielsweise, schneller und gezielter Patienten für klinische Studien zu rekrutieren.

Medikamentenhersteller standen lange Zeit im Ruf, bei digitalen Themen eher Spätzünder zu sein. Die Schweiz gehört indes ausgerechnet bei der Digitalisierung keineswegs zu den Spitzenreitern. Die Marktbeobachter von BAK Economics weisen denn auch seit längerem darauf hin, dass sich die Schweiz bei der digitalen Durchdringung des Gesundheitswesens verbessern müsse, um im Vergleich mit führenden Nationen wie den USA nicht weiter an Boden zu verlieren. Ein gutes Zeugnis in Sachen Digitalisierung stellten sie jüngst auch Grossbritannien aus. Dass Novartis in London Ausschau nach Datenspezialisten hält, ist so gesehen wohl kein Zufall.

Kanton Basel-Stadt reagiert gelassen

Vom Stellenabbau bei Novartis und Roche ist hauptsächlich der Kanton Basel-Stadt betroffen. Auch der Sitz von Idorsia in der Baselbieter Gemeinde Allschwil befindet sich unweit des Stadtkantons.

«Wir bedauern jeden Stellenabbau und erwarten besonders von grossen Firmen, dass sie den Betroffenen mit einem grosszügigen Sozialplan beistehen», sagt Samuel Hess, Leiter Wirtschaft im baselstädtischen Amt für Wirtschaft und Arbeit. Zugleich sieht der Chefbeamte, der auch für die Standortförderung zuständig ist, keinen Grund, an der Anziehungskraft Basels und des Rests der Schweiz auf Pharmaunternehmen zu zweifeln. Der gesamte Sektor zeichne sich durch eine hohe Dynamik aus. Diese spiegle sich nicht nur in Neuansiedlungen von Betrieben, sondern auch in bedeutenden Investitionen bestehender Anbieter.