THEO VAN GOGH WATCH: DER MANN VON GOLDMANN SACHS WILL ZENTRALISTISCHES EUROPA AUF GRUNDLAGE GEWALTIGER SCHULDEN

Ursula von der Leyen und Mario Draghi wollen eine ganz neue EU bauen

Mario Draghi und Ursula von der Leyen denken an mehr Zentralismus und gemeinsame Schulden. Deutschland dürfte signifikant an Bedeutung verlieren.

Michael Maier BERLINER ZEITUNG – 09.09.2024

 

Wenn es nach der Vorstellung Ursula von der Leyens geht, soll die Industriepolitik in der EU deutlich zentraler als bisher gesteuert werden. Von der Leyen stellte dazu am Montag gemeinsam mit dem früheren Investmentbanker, EZB-Präsidenten und italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi einen Plan vor, wie die EU als Wettbewerber Chinas und der USA agieren soll.

Draghi, der ein Jahr lang in einem eigenen Büro in Brüssel zu diesem Thema geforscht hat, sagte: „Um die Wirtschaft zu digitalisieren und zu dekarbonisieren und unsere Verteidigungskapazität zu erhöhen, muss der Investitionsanteil in Europa um etwa fünf Prozentpunkte des BIP auf ein Niveau steigen, das zuletzt in den 1960er- und 70er-Jahren erreicht wurde.“ Die zusätzlichen Investitionen, die der Marshallplan zwischen 1948 und 1951 bereitstellte, hätten sich auf etwa ein bis zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) jährlich belaufen.

Um die Finanzierung zu stemmen, seien „zusätzlich jährliche Mindestinvestitionen von 750 bis 800 Milliarden Euro“ nötig, erklärte Draghi in seinem Bericht zur EU-Wettbewerbsfähigkeit, den er am Montag in Brüssel vorstellte. Diese Summe werde nur zu einem kleineren Teil vom privaten Sektor aufgebracht werden können. Daher empfahl Draghi die Aufnahme neuer Gemeinschaftsschulden, wie es die EU bereits in der Corona-Pandemie praktiziert hatte. Draghi fordert für seine „neue Industriestrategie“ die Ausgabe neuer „gemeinsamer Schuldtitel zur Finanzierung gemeinsamer Investitionsprojekte, die die Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit der EU erhöhen“. In der Corona-Pandemie hatte die EU ein kreditfinanziertes Hilfspaket von 750 Milliarden Euro geschnürt. Länder wie Italien und Frankreich haben die Mittel, sofern sie abgerufen wurden, verbraucht und fordern seit einiger Zeit ein neues Paket. Auch sie nennen, wie Draghi, die gestiegenen Ausgaben für Militär und Klimaschutz als Hauptfelder für zukünftige Investments.

Von der Leyen bezeichnete Instrumente zur Gemeinschaftsfinanzierung ebenfalls als wichtig, verzichtete jedoch aus Rücksichtnahme auf schuldenkritische Staaten aus dem Norden auf die direkte Erwähnung gemeinsamer Schulden. Möglich seien auch sogenannte Eigenmittel, zu denen Einfuhrzölle und die EU-Plastikabgabe zählen, sagte von der Leyen auf die Frage, wie sie den Widerstand der Bundesregierung gegen neue Gemeinschaftsschulden überwinden wolle. Um auf die Finanzierung in Form von Schulden zurückzugreifen, müssen im EU-Haushalt Einschnitte gemacht werden. Diese werden nicht bei Militär und Überwachung getätigt werden, sondern eher im Zuwendungs- und Sozialbereich. Draghi formuliert im unverkennbaren Troika-Sprech aus den Hochzeiten der Austerität: „Je bereitwilliger die EU ist, sich selbst zu reformieren, um eine Produktivitätssteigerung zu erzielen, desto mehr wird der fiskalische Spielraum zunehmen und desto einfacher wird es für den öffentlichen Sektor sein, diese Unterstützung zu leisten.“

Einen besonderen Schwerpunkt legte Draghi auf die Energiepolitik. Er sagte lapidar: „Europa hat abrupt seinen wichtigsten Energielieferanten Russland verloren.“ Obwohl die Energiepreise seit ihren Höchstständen erheblich gefallen seien, müssten EU-Unternehmen immer noch mit Strompreisen rechnen, „die zwei- bis dreimal so hoch sind wie in den USA“. Die gezahlten Erdgaspreise seien „vier- bis fünfmal höher“. Diese Preislücke sei „in erster Linie auf den Mangel an natürlichen Ressourcen in Europa zurückzuführen, aber auch auf grundlegende Probleme unseres gemeinsamen Energiemarkts“.

Marktregeln verhinderten, „dass Industrie und Haushalte die Vorteile sauberer Energie in vollem Umfang auf ihre Rechnungen übertragen können“. Hohe Steuern und Mieten, die von Finanzhändlern eingetrieben werden, erhöhten die Energiekosten für unsere Wirtschaft. Mittelfristig werde „die Dekarbonisierung dazu beitragen, die Stromerzeugung auf sichere, kostengünstige, saubere Energiequellen umzustellen“. Fossile Brennstoffe würden „jedoch zumindest für den Rest dieses Jahrzehnts weiterhin eine zentrale Rolle bei der Energiepreisgestaltung spielen“. Draghi schlussfolgerte: „Ohne einen Plan zur Übertragung der Vorteile der Dekarbonisierung auf die Endverbraucher werden die Energiepreise weiterhin das Wachstum belasten.“

Wie man dieses Dilemma umgehen könnte, beschreibt Politico: Um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, „müssen diesmal die energieintensivsten Industrien Europas entweder ganz geschlossen oder in Gebiete verlagert werden, die von vergleichsweise billigen Energiequellen versorgt werden“. „Analysten verweisen auf den Norden, der von der Wasserkraft profitiert, oder den Süden, wo es reichlich Sonnenenergie gibt – oder sogar auf Frankreich, wo man von den Atomkraftreserven des Landes profitiert. Was für Deutschland bleibt, kann niemand mit Sicherheit sagen.“

Dass es bei der Umsetzung der Pläne einer neuen EU zu Kontroversen kommen wird, ist auch Mario Draghi klar. Er setzt daher, wie es für die internationale und nationale Politik mittlerweile bereits Standardargumentation ist, auf apokalyptische Töne. Draghi sagte, das ganze Unterfangen sei „eine existenzielle Herausforderung“: „Die Grundwerte Europas sind Wohlstand, Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Demokratie in einer nachhaltigen Umwelt. Die EU existiert, um sicherzustellen, dass die Europäer stets von diesen Grundrechten profitieren können. Wenn Europa seinen Bürgern diese Rechte nicht mehr bieten kann – oder eines gegen das andere abwägen muss –, hat es seine Daseinsberechtigung verloren. Diese Herausforderung lässt sich nur meistern, indem wir wachsen und produktiver werden und dabei unsere Werte der Gerechtigkeit und sozialen Inklusion bewahren. Und die einzige Möglichkeit, produktiver zu werden, besteht darin, dass Europa sich radikal ändert.“

Draghi sieht einen Bedeutungsverlust der Nationalstaaten im Hinblick auf die globalen „Herausforderungen“: „Noch nie in der Vergangenheit erschien die Größe unserer Länder im Verhältnis zur Größe der Herausforderungen so klein und unzureichend. Und es ist schon lange her, dass Selbsterhaltung ein so gemeinsames Anliegen war. Die Gründe für eine einheitliche Antwort waren noch nie so zwingend – und in unserer Einigkeit werden wir die Kraft für Reformen finden.“