THEO VAN GOGH : THE MELANCHOLY ANGEL /

 

DIE LÜCKE IN DER ZEIT.  

GIORGIO AGAMBEN UND HANNAH ARENDT 

„Notre heritaqe n’est precede d’aucun testament.” (René Char)

 

“Niemals, niemals”? werden wir, weil sie nur als Gerücht überliefert wurde, mit Sicherheit wissen, was die kaiserliche Botschaft in Kafkas gleichnamiger Erzählung enthält.  

Mit einiger Wahrscheinlichkeit können wir annehmen, daß diese Botschaft, die der Kaiser auf seinem Sterbebett dem Einzelnen, seinem in die fernste Ferne geflüchteten Untertanen, übermitteln wollte, sein Testament ist. Um Geringeres als die Bestimmung seines Erbes hätte der Kaiser wohl kaum so viel Aufhebens gemacht, hätte sich kaum abermals und vor der ehrwürdigsten Zeugenschaft des Reichs der Richtigkeit ihres Wortlauts versichert, als er auf dem erhabenen, freien Platz den Boten mit ihr losschickte.  

Daß dieser Unermüdliche niemals, aber auch niemals an den Ort seiner Bestimmung gelangt, ist wohl kaum seiner mangelnden Beharrlichkeit zuzuschreiben, denn die Hindernisse wachsen im Laufe der Jahrtausende zunehmend ins Maßlose. Schließlich trägt er nur noch die letztwillige Verfügung eines Toten mit sich, doch den Adressaten erreicht er nicht. So begleitet kein Testament das Erbe des Kaisers.  

Erwartungsvoll sitzt jener, für den die Botschaft bestimmt war, am Fenster und erträumt sie sich, wenn der Abend kommt, der Lebensabend oder das Ende der Zeiten. Und weil uns die Kunde von der Botschaft nur als Literatur überliefert ist, werden wir niemals wissen, ob der Mann am Fenster in die Vergangenheit oder in die Zukunft schaut, ob er den Blick auf ihren Ursprung richtet und sich sie, die Botschaft des Kaisers, erträumt, oder ob er sich, um weiterleben und etwas weitergeben zu können, alles nur ausgedacht hat, den Kaiser, die Botschaft und den Boten, die Erbschaft selbst.

 

„Notre heritaqe n’est precede d’aucun testament.” 

Diese Worte Rene Chars, die Hannah Arendt ihrem Vorwort zu “Between Past and Future”2 voranstellt, eröffnen den Befund eines Verlusts und die Herausforderung einer Möglichkeit.

 Arendt leitet ihr Vorwort mit Betrachtungen zu Chars Erkenntnis ein, daß die gemeinschaftliche, in den Jahren der Resistance gelebte Erfahrung eines Moments, an dem die Enge der Privatinteressen von einer kollektiven, öffentlichen Freiheit überwunden wurde, weder weitergetragen noch überliefert werden kann.  

Daß der Reichtum solcher Momente – der “Schatz der Revolutionen” – nicht tradierbar ist, wurde in der Moderne nicht nur als Mangel, sondern auch als Potential zu einer “Tatsache von politischer Bedeutung” (Z, 17).3

Zwar können die Freiheitsmomente nicht überliefert werden, doch können sie indirekt dennoch fortwirken.  

Dies geschieht in der strukturellen Übertragung dieser Erfahrungen auf einen jeweils neu zu erringenden Denkraum, der gleichzeitig dem ihnen innewohnenden revolutionären Bruch gerecht wird und deren Wiederholbarkeit durch jede neue Generation, ja jedes neue menschliche Wesen (Z, 17) ermöglicht.

 

Dabei werden nicht so sehr die Inhalte dieser Momente, sondern deren Verhältnis zum Zeitkontinuum übernommen und weitergegeben. Auf diesem Weg entsteht die Möglichkeit, auch angesichts des Traditionsverlusts der Moderne, in der Abwesenheit eines Testaments, das dem Erben sagt, was rechtmäßig sein eigen ist” (Z, 19), die Hinterlassenschaft der Freiheitskämpfe, nämlich das Potential einer Unterbrechung des unerbittlichen Zeitflusses, jeweils neu erfahrbar – man ist geneigt zu sagen, „erdenkbar“ – zu machen.

 

Eine Erbschaft, deren rechtmäßige Aneignung nicht abgesichert ist, entbehrt der Autorisierung, steht jedoch gerade deshalb dem Nachkommen zum neuen Gebrauch offen. Chars Worte gelten in übertragenem Sinne auch für Arendt selbst. Weil auch der Erbschaft Arendts kein Testament mitgegeben ist, kann ihr Nachleben nur an den Ansprüchen derjenigen gemessen werden, die sich in ihrem Denken auf sie berufen. Dies gilt ganz besonders für jene, die Arendts Erbe gerade dort antreten, wo sie die Handhabung einer testamentlosen Erbschaft selbst ins Auge faßt.

 

In einem Brief an Arendt schreibt Giorgio Agamben:

 

„I am a young writer and essayist for whom discovering your books

last year has represented a decisive experience. May I express here

my gratitude to you, and that of those who, along with me, in the gap between past and future, feel all the urgency of working in the direction

you pointed out?“

 

Dieser 1970 datierten Brief, in dem der damals 26jährige Agamben Arendt zu ihren Lebzeiten mit Nachdruck seines Vorhabens versichert, in der von ihr angegebenen Richtung weiter zu arbeiten, situiert ihn und seine Gleichgesinnten in einer Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. 11 Er bezieht sich dabei offensichtlich auf Arendts Vorwort zu ihrer Schrift „Between Past and Future”, dessen Originaltitel, „The Gap between Past and Future”, den Denkraum ankündigt, in dem ihre darauffolgenden „Übungen im politischen Denken” sich bewegen.

 

In diesem Vorwort beschreibt Arendt die Bedingungen der Überlieferung einer Erbschaft in einer Zeit, in der die Tradierbarkeit selbst fragwürdig geworden ist.

 

Arendts „Lücke in der Zeit” bezeichnet eine Unterbrechung des linearen chronologischen Ablaufs als Zwischenperiode, als Intervall, „welches ganz von Dingen bestimmt ist, die nicht mehr sind, und von solchen, die noch nicht sind” (Z, 13) und in dem sich, so Arendt weiter, wiederholt gezeigt hat, daß es “das Moment der Wahrheit” (Z, 13) enthält.

 

Das” Moment der Wahrheit” über Agambens Verhältnis zu Arendts Denken läßt sich vielleicht schon aus seinen eigenen in dieser Zeit entstandenen Ausführungen zur Überlieferung einer Erbschaft in Zeiten des Traditionsbruchs herauslesen.

 

Im gleichen Jahr wie sein Brief an Arendt erscheint in der Zeitschrift “Nuovi Argomenti” der Essay “L’angelo malinconico”, der auch den Schluß des kurz darauf erschienenen Buchs “L’uomo senza contenuto” abgibt und 1999 auf Englisch als “The Melancholy Angel” veröffentlicht wurde.”

 

In diesem Essay Agambens, wie im Vorwort Arendts, steht die Frage im Mittelpunkt, wie mit der Tradition in einem Moment umzugehen sei, in dem Erfahrungen, Konzepte und kulturelle wie künstlerische Verfahren der Vergangenheit nicht mehr problemlos in eine Zukunft überführt und weitergeleitet werden können. Obwohl es in Agambens Aufsatz, anders als in Arendts Vorwort zu ihren politischen Denkübungen, in erster Linie um Ästhetik und Kunst geht und ihr Vorwort darin unerwähnt bleibt, ist deutlich erkennbar, daß dieses eine der Folien dieses frühen Essay abgibt.

 

Arendts Darstellung des “Intervalls in der Zeit” ist die strukturierende Gedankenfigur, in die Agamben dort seine Betrachtungen über die Aufgabe der Kunst in der Moderne einschreibt. Der Gleichlaut mancher Wendungen ist unübersehbar. So beschreibt Arendt die “Lücke in der Zeit” als “Zeit-Raum, der von den Kräften der Vergangenheit und Zukunft geschaffen und begrenzt wird” (Z, 16) und in dem die Abfolge der Ereignisse in der Schwebe bleibt (cf. Z, 11), als „interval in time which is altogether determined by things that are no longer and by things that are not yet.” (B, 9)

 

Agamben spricht von einem “space between past and future” (A, 110), einem Zustand “suspended in the inter-world between old and new”, einem „interval between what is no longer and what is not yet” (A, 112, 114).

 

In beiden Essays wird der Ort des Aufeinandertreffens von Vergangenheit und Zukunft als bedrängende Erfahrung beschrieben, die den Gegenwartsmoment mit Dringlichkeit auflädt. Der Zwischenraum ist für beide eine Kampfstätte, in der die gegenläufigen Kräfte von Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart aufeinanderprallen. Arendt spricht von einem “Schlachtfeld” (Z, 10), Agamben von “struggle” und, wiederholt, von einem “confliet between old and new, past and future.” (A, 110, 112)

 

Die Ähnlichkeit des Wortlauts von Arendts und Agambens Beschreibung dieses Intervalls läßt gleichzeitig auch jene signifikanten Differenzen erkennen, die ihre quasi entgegengesetzten Vorstellungen eines Auswegs aus dieser bedrängten Lage bedingen. Der wichtigste Ursprung dieser Unterschiede ist unschwer auszumachen.

 

Arendts “Vorlage” ist bei Agamben von Zitaten und Bezügen

auf Walter Benjamin überlagert.

 

Überraschend ist dabei, daß dieser über Arendts Benjamin-Aufsatz eingeführt wird. Die einzige Stelle, an der Agambens “The Melancholy Angel” Arendt explizit nennt, ist eine Fußnote, die auf diesen Aufsatz Arendts verweist. Die Variationen und Transformationen, die Agamben im Aufgreifen einiger Schlüsselstellen aus beiden 1968 erschienenen Texten Arendts – dem zitierten Benjamin-Aufsatz und dem unerwähnten Vorwort „The Gap between Past and Future” – vornimmt, lassen zu diesem Zeitpunkt, an dem er ,.in ihre Richtung” weiterzudenken angibt, in ihren Grundzügen schon jene “Abweichungen” von Arendts Denken erkennen, die auch sein späteres Werk kennzeichnen sollen. Sie betreffen hier das Verhältnis zur Tradition, die Auffassung von Geschichte und die Bedingungen der Möglichkeit eines politischen und kulturellen Neubeginns.

 

BEWAHREN, ZERSTÖREN, TRADIEREN

 

Die ersten Seiten von Agambens “The Melancholy Angel”, die ausdrücklich auf Arendts Benjamin-Essay verweisen, geben einen Einblick in die Dynamik der kleinen, aber ausschlaggebenden Verschiebungen, die Agamben inmitten von fast wortgetreuen Übernahmen vornimmt. Anfangszitat, Wortlaut und Sequenz der Anfangsparagraphen von Agambens Text stimmen teilweise verbatim mit dem Anfang des dritten Teils von Arendts Essay überein, in dem sie Benjamins Betrachtungen zum destruktiven Charakter des Zitierens und des Sammelns kommentiert.

 

Agamben führt seinen Essay mit einem Hinweis auf Benjamins Theorie des Zitats ein, der zufolge dieses nicht, wie herkömmlich angenommen, der Überlieferung und Einfühlung von Vergangenem dient, sondern dieses Gewesene durch ein Heraussprengen aus dem ursprünglichen Zusammenhang gewaltsam entfremdet und die gedankliche Umgebung, aus der das Zitat stammt, aufbricht. Im ersten Absatz seines Essays zitiert Agamben Benjamins Beschreibung der Kraft des Zitats, die nicht darin liege “zu bewahren, sondern zu reinigen, aus dem Zusammenhang zu reißen, zu zerstören'”, und verweist dabei in einer Fußnote nicht auf Benjamins Originaltext, sondern auf die Stelle, an der Arendts Essay dieses Zitat anführt und kommentiert (A, 104, Fußn. 2).

 

Bei Arendt wird dieses Zitat mit den Benjamin entnommenen Worten eingeleitet, daß “erst der Verzweifelnde”, und, wie sie hinzufügt, “der an der Gegenwart Verzweifelnde” diese gewaltsame Kraft entdeckt, “doch”, fügt sie einschränkend hinzu, sind “diese Entdecker des Destruktiven ursprünglich von einer ganz anderen Absicht beseelt, nämlich von der Absicht zu bewahren” 0NB, 224).

 

Bei Agamben folgen auf das Benjamin-Zitat hingegen Betrachtungen über die “aggressive Kraft” des Zitats, und die Erklärung, Benjamin habe verstanden, “that the authority invoked by the quotation is founded precisely on the destruction of the authority that is attributed to a certain text by a certain culture” (A, 104).

 

Während Arendt auf den darauf folgenden Seiten Benjamins “Doppelheit von Bewahren- und Destruierenwollen” 0NB, 226) herausstreicht, intensiviert Agamben Benjamins Dialektik der rettenden Zerstörung. Von den “dialektischen Subtilitäten seiner marxistischen Freunde”, die Arendt anderenorts als “Trick” beschreibt, “bei dem immer das Eine in das Andere umschlägt und es erzeugt” (Z, 33), spricht Arendt Benjamin hingegen frei und siedelt ihn als “dichterisch denkenden” in die Nähe Kafkas an WB, 234).

 

Spricht Arendt von der “Zweideutigkeit der Geste mit Bezug auf die Vergangenheit” in Benjamins “Typus des Sammlers” WB, 227), so betont Agamben, zwar weitgehend Arendts Überlegungen über Authentizität, Zweckentfremdung und Fetischcharakter aufgreifend, die Zerschlagung der ursprünglichen Ordnung im Akt des Sammelns. Zwar ist sich auch Arendt der destruktiven Seite des Benjaminsehen Sammlers bewußt, doch versteht sie diese nicht als Angriff auf die traditionelle Ordnung, sondern als Bedürfnis, “den Gegenstand von allem zu reinigen, was

an ihm typisch”, also “einmal nur Teil eines größeren, lebendigen Zusammenhangs” WB, 229) ist, also als besondere Wertschätzung des gesammelten Objekts.

 

So liegt für sie das spezifisch Moderne in der Geste von Benjamins Sammler auch nicht im Zerschlagen des Traditionszusammenhangs, sondern in der Stimmigkeit seiner Geste mit den “Gegebenheiten der Zeit”; “Die Figur des Sammlers”, schreibt sie, kann bei Benjamin so

eminent moderne Züge annehmen, weil die Geschichte selbst, nämlich der im Anfang dieses Jahrhunderts vollzogene Traditionsbruch, ihm diese Arbeit des Zerstörens bereits abgenommen hat, um sich seine kostbaren Bruchstücke aus dem Trümmerhaufen des Vergangenen herauszulesen. (WB, 230)

 

Das Bergen und Bewahren dieser Schätze, die Arendt mit Perlen und Korallen vergleicht, klingen – auch wenn es dabei um den Schatz der Revolutionen und Momente der Freiheit geht – kaum nach revolutionärem Vokabular.

 

Zwar ist zweifelhaft, ob Arendts Betonung des bewahrenden Aspekts Benjamins Umgang mit der Vergangenheit gerecht wird, doch gilt ein solcher Zweifel auch für Agambens in die Gegenrichtung weisende Lektüre, die den destruktiven Impuls von Benjamins Traditionsverständnis in eine Richtung zuspitzt, die Arendt noch weiter von Benjamin entfernt als dessen ursprüngliche Aussage. Signifikant ist in diesem Zusammenhang Agambens Kommentar zu Benjamins Aufforderung, die Last der Kulturschätze vom Rücken “abzuschütteln, um sie dergestalt in die Hände zu bekommen.”9

 

“Die Überlieferung”, erläutert Agamben, “richtet sich hier nicht darauf, Vergangenes zu verewigen oder zu wiederholen, sondern darauf, es seinem Untergang entgegenzuführen?“ Noch in Benjamins Bild des Heraussprengens aus dem Kontinuum der Vergangenheit bleibt allerdings etwas buchstäblich “vorhanden”, das für einen neuen Gebrauch faßbar ist.

 

Agamben gesteht zwar Benjamins Vergangenheitsbezug auch einen Aspekt des “Besitzergreifens” des Gewesenen zu, doch ist dieses für ihn – in Anlehnung an Benjamin in einer weiteren dialektischen Volte – das “Niegewesene.”

 

Das utopisch-messianische Reich, das sich hier eröffnet, könnte Arendt fremder nicht sein. “Das Niegewesene” nennt Agamben “die sowohl geschichtliche als auch vollkommen gegenwärtige Heimat des Menschen.”12 Auch diese Formel klingt wie ein Echo Arendts, allerdings nennt sie “die Heimstätte des Menschen auf Erden”13 eben jenen Raum der Gegenwart, der im “stetig fließenden, immerwährenden Strom” der Zeit aus dem Kampf gegen Vergangenheit und Zukunft Freiheit entstehen läßt. Dessen Ursprung ist keine Beschwörung des Niegewesenen, sondern das “Dazwischentreten des Menschen. “14

 

Gegensätze, die bei Arendt nebeneinander oder nacheinander bestehen bleiben, schlagen bei Agamben durchgehend ineinander um: Dessen Ansicht, daß “das Neue nur in der Zerstörung des Alten erscheinen kann” (A, 105), ja, daß es aus der Zerstörung heraus geschieht, steht Arendts Vorstellungen des Neubeginns auch dort entgegen, wo es bei ihr nicht um kulturelle Tradition geht, sondern um geschichtliche Revolution. So betont sie im Schlußkapitel von Vita Activa, daß “das Ende des Alten nicht notwendig der Anfang des Neuen ist”, “daß die Befreiung nicht von selbst zur Freiheit” führt und es diese erst “nach der Erschaffung eines neuen Gemeinwesens” geben kann.” Zwischen dem “Nicht-mehr” und dem “Noch-nicht” liegt für Arendt jener Zwischenraum, den sie den “Hiatus” zwischen alter und neuer Ordnung nennt. Die Unterbrechung des “allmächtigen Zeitkontinuums” zeichnet sie als Intervall, in dem Denken, Politik und Freiheit sich ereignen.

 

Über die Schnittstelle zwischen Altem und Neuem schreibt hingegen Agamben: “The continuum of linear time is interrupted, but does not create an opening beyond itself.” (A, 113)

 

Wo Arendt einen Raum schafft, sieht Agamben eine Zäsur, wo sie sich einen Weg bahnt, stößt er an einen Kreuzpunkt, wo sie die Möglichkeiten des menschlichen Eingriffs in die Geschichte ermißt, vollzieht er einen Umschlag, der ihn aus dem Zeitkontinuum heraus zu katapultieren scheint.

 

Ob die Dimensionen der “Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft”, in der Agamben selbst sich in seinem Brief an Arendt situiert, ausreichen, um ihre Hinterlassenschaft darin aufzunehmen, ist fraglich.

 

Die Relevanz der Metapher der “Lücke in der Zeit” für das Verhältnis der beiden Denker wird aus einem weiteren Vergleich ersichtlich.

 

ARENDT, KAFKA UND DER RAUM

 

Arendts Vorwort und Agambens Essays veranschaulichen das “Intervall in der Zeit” anhand zwei kurzer Kafka-Texte, die eine verwandte Topographie aufweisen. Mehr noch als Benjamin wird Kafka zum Kristallisationspunkt des Dialogs, den Agamben hier implizit mit Arendt führt und in dem er in vieler Hinsicht den grundlegenden Voraussetzungen ihres Denkens widerspricht.

 

In ihrem Vorwort, das mit Rene Chars Feststellung der Unmöglich-

keit beginnt, die Erfahrung der Resistance, diesen flüchtigen Moment öffentlicher und gemeinschaftlicher Freiheit, in die Nachkriegszeit hinüberzuretten, illustriert Arendt ihre Vorstellung des Intervalls in der Zeit anhand von Kafkas Parabel “Er”.

 

Sie findet darin eine Darstellung der von Char beklagten Schwierigkeit, das Erbe der Vergangenheit zu übermitteln und durch einen Denkraum, der der in ihr gemachten Erfahrung strukturell nachgebildet ist, an die Zukunft weiterzugeben. Kafkas Parabel beschreibt eine Szene, in der ein Mann zwischen zwei Antagonisten eingezwängt ist:

 

“Er hat zwei Gegner: Der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden.” (Z, 11)16 Jede dieser Kräfte, jene die ihn nach vorne drängt und jene die ihn zurücktreibt, sollte den Mann eigentlich in seinem Kampf gegen die andere unterstützen, aber, heißt es bei Kafka weiter, “so ist es nur theoretisch.

 

Denn es sind ja nicht nur die zwei Gegner da. sondern auch noch er selbst, und wer kennt eigentlich seine Absichten?” (Z, 11) Dort also, wo der Kämpfende zu leben, zu entscheiden und zu handeln hat, scheitert er, weil niemand, auch nicht er selbst, weiß, was er will. So bleibt dem Mann allein der Traum, daß er einmal in einem unbewachten Augenblick – dazu gehört eine Nacht, die so finster wie noch keine war – aus der Kampflinie ausspringt und wegen seiner Kampfeserfahrung zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner erhoben wird. (Z, 11)

 

Arendt liest Kafkas Parabel als Denkbild des Menschen, dem in diesem Kampf mit der Vergangenheit und der Zukunft die Gefahr droht, den Boden unter den Füssen zu verlieren. Gegen die Determination durch die Vergangenheit, die den Menschen in eine Richtung vorwärts drängt, die von seinen Ursprüngen, von vorgegebenen Bedingungen und Ereignissen bestimmt ist, und gegen die Hindernisse, die ihm den Weg in eine Zukunft versperren, die sich nicht mehr nach der Vergangenheit richtet, erfährt er jene in der Moderne auch politisch bedeutsam gewordene Lähmung und Desorientierung, die ihn auf sich selbst zurückwirft. In seiner Verzweiflung erträumt er sich als einzigen Ausweg die Möglichkeit, aus dem Zeitkontinuum, also aus der Geschichte herauszuspringen.

 

Diesen Traum interpretiert Arendt kritisch als Nostalgie einer Rückkehr in einen metaphysischen “zeitlosen, raumlosen, übersinnlichen Bereich.” (Z, 15) Arendt entwirft ihrerseits ein Korrektiv zu diesem Traum und schlägt wagemutig vor, “einen Schritt über Kafka” hinauszugehen (Z, 14) und den Ort, an dem in der Parabel Vergangenheit und Zukunft aufeinandertreffen, durch einen Raum zu ersetzen, den sie als “Parallelogramm der Kräfte” verbildlicht (Z, 15). Innerhalb dieser Lücke, die nunmehr räumliche Dimensionen angenommen hat, kann der Mensch eine dritte Kraft ausüben, die in einer diagonalen Linie die Anwesenheit des Mannes markiert und in den Geschichtsverlauf eingreifen kann, indem sie einen aus dem Denken entstandenen Widerstand gegen den frontalen Zusammenstoß der zwei gegnerischen Kräfte ausübt. An dessen Stelle entstünde dann ein Raum, der dem linearen Zeitverlauf entzogen ist und in dem das Denken “in langsamen geordneten Bewegungen sozusagen vorwärts und rückwärts gehen kann.” (Z, 16)

 

Kafkas “Er”, so Arendt, “müßte dann nicht aus der Kampflinie herausspringen” und “befände sich nicht, wie es die Parabel fordert, über dem Handgemenge” (Z, 16). Arendts Hoffnung gründet sich auf die Möglichkeit, für den Augenblick der Freiheit einen verfügbaren Raum innerhalb der Geschichte zu schaffen und die unterbrochene Überlieferung durch den dort erschlossenen Bereich eines geschichtsbezogenen, politischen Denkens zu kompensieren. Ob es Arendt damit gelingt “einen Schritt” weiterzugehen, ohne dabei, wie sie meint, “Kafkas Sinn zu verfälschen” (Z, 14), bleibt zweifelhaft. Kafkas “Er” dürfte andere Träume haben.

 

Ob seine nächtliche Hoffnung wirklich, wie Arendt meint, darin besteht, zum “Schiedsrichter” zu werden, der die miteinander kämpfenden Kräfte der Vergangenheit und der Zukunft mit einem “unparteiischen Auge” (Z, 16) beurteilen kann? In Kafkas Text ist von einem Richter, nicht von einem Schiedsrichter die Rede. Anders als ein Schiedsrichter, der dabei immer auf dem Spielfeld bleibt und zwischen den Parteien entscheidet, erhebt sich Kafkas Richter über beide Antagonisten. Sein Traum, aus der Kampflinie herauszuspringen, impliziert nicht eine verbesserte epistemologische Beobachtungsperspektive, sondern eine andere Existenzform.

 

Kafkas Zeitangabe eines “unbewachten Augenblicks” in einer “Nacht so finster wie noch keine war” (Z, 11) wird von Arendt ausgeblendet. Gerade sie aber läßt auf Vorstellungen schließen, die Kafkas nächtlichem, “vielleicht gefährlichem, vielleicht erlösendem” Schreiben, das er in seinem Tagebuch auch als “Herausspringen aus der Totschlägerreihe” beschreibt, näher kommt.” Zwar versteht Kafka die in diesem “herausspringenden Schreiben” gewonnene Perspektive ebenfalls als Ort “einer höheren Art der Beobachtung”!”, doch bezeichnet dieser nicht, wie Arendt meint, eine durch die Fähigkeit zu neutralem Urteilen gewonnene, und daher andere, nicht länger “gedankenlose” Haltung zur Geschichte, sondern, in aller Wahrscheinlichkeit, ein Anderes als Geschichte überhaupt. Arendt greift vielleicht zu kurz, wenn sie Kafka vorwirft, am alten, metaphysischen Traum vom Herausspringen aus der Geschichte festzuhalten, anstatt sich in ihr einen Raum der Freiheit zu schaffen.

 

Den metaphysischen Traum träumt Kafkas von der unerbittlichen Geschichte bedrängter Mann, aber in einem Freiraum neben ihr” befindet sich längst der schreibende Kafka selbst. Es ist der Freiraum der Literatur.

 

AGAMBEN, KAFKA UND DAS NIEGEWESENE

 

Ebenfalls mit Kafka zielt Agambens “Melancholy Angel” denn auch auf etwas anderes als Geschichte. Dieses Andere kann die Kunst dort erreichen, wo sie, die Geschichte, aber auch die Ästhetik transzendierend, das geschichtliche Sein des Menschen offenbart. Doch Agambens gleichzeitig von Benjamin und Heidegger inspirierte Erwartung geht noch über dieses Potential der Kunst hinaus. Auf das wahrhaft Andere der Geschichte können, Agamben zufolge, die Kunst und die Literatur – weil sie noch der Geschichte verhaftet sind – nur hinweisen.

 

Agambens Aufsatz zeichnet die Genealogie der gegenwärtigen Aufgabe der Kunst nach. Die Denkbewegung, die er dabei durchführt, weist auf eine immer wiederkehrende Figur in seinem späteren Werk

– etwa zum Ausnahmezustand’? oder zu Paulus’ Römerbrief 21 – voraus:

 

ein ursprünglich Ungeschiedenes, jedoch obsolet Gewordenes, erfährt eine Spaltung, deren Leugnung ein falsches Ungeschiedenes produziert, das durch die Innewerdung des Spalts als rettender Rest auf eine wahre Ungeschiedenheit hinzielt, die sich an einem messianischen Horizont abzeichnet.

 

Zum Ausgangspunkt nimmt Agamben die Kulturpraxis vormoderner Gesellschaften, in denen der Inhalt der Tradition und der Akt des Überlieferns restlos zusammenfallen. In Abwesenheit eines Bruchs zwischen Vergangenheit und Gegenwart trägt jeder kulturelle Gegenstand dabei unmittelbar die Glaubensinhalte, die ihm anhaften, in die Zukunft weiter. Kultur hat in solchen mythisch-traditionellen Systemen keinen eigenständigen Wert, der von der Überlieferung abgesondert werden könnte, weil sie zur Gänze in die Praxis der Tradition einfließt und daher an keinem Moment gelagert und aufbewahrt wird. Erst wenn die Tradition ihre Lebenskraft verliert, kommt der Kultur ein unabhängiger Eigenwert zu. Sie wird akkumuliert, erstarrt zum Kulturgut und verkommt zu einem musealen Archiv, das im Leben keine Orientierung mehr geben kann.

 

Zwar steigt der ökonomische Wert der angehäuften Kulturgüter ins Unermeßliche, doch sie geben keinerlei Kriterien für das Denken und Handeln in der Gegenwart mehr her. Das gehortete, aber nutzlos gewordene kulturelle Erbe ist nur noch eine Bürde, die den Menschen erdrückt und lähmt.

 

Diese Diagnose stellt Agamben in Worten, die teilweise unverkennbar an Arendts “Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft” anklingen:

 

Man is deprived of reference points and finds himself wedged between, on the one hand, a past that incessantly accumulates behind him and oppresses him with the multiplicity of his now undecipherable contents, and on the other hand a future that he does not yet possess and that does not throw any light on his struggle with the past. (A, 108)

 

Während Agamben von der Vergangenheit ausdrücklich und ausschließlich als Last spricht, heißt es in Arendts Vorwort: “Als erstes ist zu beachten, daß die Vergangenheit als eine Kraft gesehen wird, und zwar nicht, wie in nahezu allen unseren Metaphern, als eine Last, die der Mensch zu schultern hat und deren totes Gewicht die Lebenden auf ihrem Weg in die Zukunft abwerfen können oder sogar müssen.” (Z, 14)

 

Die hindernde Kraft der Vergangenheit liegt für sie also nicht in ihrem erdrückenden Gewicht, sondern in der sich in die Zukunft projezierenden Kontinuität, die jedem Neubeginn entgegensteht. Aber, so Arendt weiter,

 

„aus der Sicht des Menschen ( … ) ist die Zeit nicht ein Kontinuum, nicht ein Flug von ununterbrochen Aufeinanderfolgendem: sie ist in der Mitte, dort wo “Er” steht, aufgebrochen: und sein Standort ist ( … ) eine Lücke in der Zeit, die von seinem dauernden Kämpfen, “seinem” Standpunkt-Beziehen [ … ] aufrechterhalten wird. Nur weil der Mensch in die Zeit eingefügt ist und nur in dem Maße, in dem er auf seinem Boden steht, wird der Fluß der indifferenten Zeit unterbrochen. (Z, 14)

 

Für Arendt ereignet sich die Unterbrechung des “allmächtigen Zeitkontinuums” durch das “Dazwischentreten des Menschen.” Bei Agamben steht am Punkt, an dem Vergangenheit und Zukunft aufeinanderstoßen, kein Mensch. Für ihn ist dieser Punkt von zwei Engeln besetzt, die Rücken an Rücken stehen. Ihre Gestalten entstammen den Schriften Walter Benjamins. In der nach vorne drängenden Kraft der Vergangenheit, sieht Agamben den Sturm, gegen den Benjamins rückwärtsgewandter Engel der Geschichte ankämpft”, während der von Benjamin im Trauerspielbuch” besprochene, von nutzlos gewordenen Gegenständen umgebene Engel in Dürers “Melencolia I”, unbeweglich nach vorne schaut.

 

Den melancholischen Engel, der seinen Flug in die Zukunft nicht fortsetzen, ihn also nicht mehr überliefern kann, nennt Agamben den Engel der Kunst. Beide Engel erstarren am Ort, an dem Vergangenheit und Zukunft aufeinandertreffen. Während der Engel der Geschichte gegen den Sturm des Fortschritts vergeblich ins Paradies zurückstrebt, ist, so Agamben, der Dürersche Engel, der für die Kunst einsteht, “in einen messianischen Stillstand” verfallen (A, 110).

 

Die Vergangenheit, die vor dem Engel der Geschichte unauflesbar, unlesbar geworden ist, wird in den Augen des Engels der Kunst untradierbar. Doch gewinnt sie durch den entfremdenden Blick, der dieses Risses gewahr wird, eine neue Wahrheit. In dieser Entfremdung – dem Riss selbst – liegt denn auch die neue Aufgabe der Kunst: Sie ist der Rest, der allein den Menschen aus der Bedrängnis zwischen Vergangenheit und Zukunft retten kann, indem sie die Unmöglichkeit der Überlieferung zu ihrem Inhalt macht:

 

„By destroying the transmissibility of the past, aesthetics recuperates it negativelyand makes intransmissibility a value in itself in the image of aesthetic beauty, in this way opening for man aspace between past and future, in which he can found his action and his knowledge.“ (A, 110)

 

Anstelle des je aufs neue zu erringenden Denkraums bei Arendt steht bei Agamben die Entfremdung durch eine negative Ästhetik, die das Intervall in der Zeit überbrückt, in das der Mensch zwischen Vergangenheit und Zukunft eingeschlossen ist. Während Arendts Denkraum eine Bewegungsfreiheit impliziert und die Möglichkeit eines Neubeginns sui generis, bzw. als Faktum der “Gebürtlichkeit” gewährleistet sieht, bleibt Agamben, dem für das Denken des Neuen lediglich die Schnittstelle eines Bruchs zur Verfügung steht, nur ein dialektischer Umschlag an Ort und Stelle.

 

Die “bewahrende” Arendt bejaht hier den Traditionsbruch als Chance, der “Zerstörer” Agamben appelliert an einen Blick in den Abgrund.

 

Diesen vollzieht die Kunst, die sich an einer negativen Ästhetik orientiert, insofern sie ihre gegenwärtige Aufgabe erfüllt: des Risses inne zu werden. Doch ist auch diese Einlösung der Aufgabe nur eine Zwischenlösung. Die Erlösung steht noch aus.

 

Der messianischen Gedankenstruktur folgend, die auch noch sei-

ne jüngsten Schriften bestimmt, kehrt Agamben die vormoderne, “falsch” gewordene Ununterscheidbarkeit in eine zu erhoffende, erlösende Ununterscheidbarkeit um. Infolge des Traditionsbruchs der Moderne ist die Ununterscheidbarkeit von Tradierung und Tradiertem heute nur unauthentisch, als Simulakrum oder als Kitsch zu haben, denen einzig eine negative Ästhetik entgeht. Die rettende Hoffnung liegt allerdings in der Erwartung, daß auch der Traditionsbruch einst unterbrochen” – die “Spaltung gespalten”, die “Division dividiert”25 und eine neue, diesmal positive Ununterscheidbarkeit hervorgebracht wird. Die Unmöglichkeit, in vormodernen Gesellschaften zwischen Tradierung und zu Tradierendem zu unterscheiden, die in der Moderne zu einer radikalen Trennung zwischen verlorener Überlieferbarkeit und angehäuftem Kulturgut erstarrt ist und in einer negativen Ästhetik nur unvollständig überbrückt werden kann, soll einst in einen Zustand einmünden, in dem “Vergangenheit und Gegenwart, zu Überlieferndes und Akt der Überlieferung restlos zusammenfallen.”26

 

Dieser erhoffte Zustand bedeutet allerdings keine Rückkehr in die vor-moderne Zeit, sondern zielt auf ein gänzlich Neues ab. Wie sich Agamben das ganz Neue denkt, das im Rückgriff auf ein Niegewesenes den Traditionsbruch der Moderne überwinden soll, ist aus dem letzten Abschnitt von „The Melancholy Angel” zu entnehmen.

 

Wie in Arendts Vorwort spielt darin Kafka die Schlüsselrolle, doch ist er hier nicht mehr der im Freiraum Denkende in der Geschichte, sondern der Vorbote ihres Endes in der Erlösung.

 

DENKRAUM – MYTHOS – LITERATUR

 

Mit dem messianischen Blick des Kunstengels starrt Agambens Kafka auf jenen außerzeitlichen, geschichtslosen Flucht- bzw. Rettungspunkt, den Arendt ihm verwehren möchte. Für Agamben führt Kafka, indem er, in den Worten Benjamins, “die Wahrheit um der Tradierbarkeit willen geopfert”27 hat, also das zu Überliefernde gänzlich in der Aufgabe des Überlieferns aufgelöst und diese Aufgabe zum einzigen Inhalt der Überlieferung gemacht hat, die negative Ästhetik an ihre äußerste Grenze, an der sie nicht länger an ihren positiven Gegensatz gebunden

bleibt. Nicht mehr in der negierenden Zerstörung des angesammelten Kulturguts, sondern in dessen Aufhebung in den Akt der Überlieferung selbst gelingt es Kafkas Kunst, den Ort des Menschen zwischen Vergangenheit und Zukunft zu finden.

 

Die Unterschiede zwischen diesem Raum und Arendts Vorstellung eines Intervalls in der Zeit treten im Schlußteil von Agambens Essay am deutlichsten hervor. Mit schlüssigen, ihm zweifellos von Benjamin zugespielten Kafka-Zitaten zieht Agamben – ohne Arendt auch nur

zu nennen – gegen die wesentlichen Aspekte ihrer Vorstellung von einer “Lücke in der Zeit” zu Felde. Denkt Arendt sich den Traum des Kafkaschen “Er” als Möglichkeit, auf dem Schauplatz einer in die Geschichte eingefügten Gegenwart zum “Schiedsrichter” über Vergangenheit und Zukunft zu werden, so zitiert Agamben Kafkas Aphorismus vom Jüngsten Gericht, das “eigentlich ein Standrecht ist” – uno stato d’assedio – das jede Gegenwart zur Verantwortung zieht (A, 113).

 

Zu messen ist diese Verantwortung für Agamben jedoch weder an der Vergangenheit noch an der Zukunft, sondern an deren messianischem Zusammenfallen, das der Geschichte ein Ende bereiten würde. Denkt Arendt die Lücke in der Zeit als Möglichkeit, sich jeweils “neu und unverdrossen” einen “schmalen Weg der Nicht-Zeit” zu bahnen, den “die Tätigkeit des Denkens in den Zeit-Raum der sterblichen Menschen schlägt” (Z, 17), so zitiert Agamben Kafka:

 

“Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg. Was wir Weg nennen ist Zögern.” (A, 113)

 

Fern davon, dieses Zögern dekonstruktivistisch zu bejahen, appelliert Agamben an die Verantwortung, ihm – und damit jeglichem Weg, der immer auch ein neues Kontinuum ist – ein Ende zu setzen. Die Route des Wegs, den das Denken sich bahnen kann, sieht Arendt in jenen Momenten der Vergangenheit vorgezeichnet, an denen – wie in der Resistance-Erfahrung Chars – die Freiheit erscheinen konnte. Im Gegenspiel dazu zitiert Agamben Kafka:

 

“Darum sind die revolutionären geistigen Bewegungen, welche alles frühere für nichtig erklären, im Recht, denn es ist noch nichts geschehen.” (A, 113)

 

Die Ausrichtung dieser Kafka-Zitate, die als Entgegnung auf Arendts “Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft” gelesen werden können, verdichtet sich in einem längeren Zitat aus Kafkas Tagebüchern, mit dem Agamben den Schlußteil seines Essays einleitet und der auffallende Ähnlichkeiten zu jenem Kafka-Text aufweist, der den Kernpunkt von Arendts Vorwort bildet.

 

Zur Illustration der Situation des menschlichen Unvermögens, zwischen Vergangenheit und Zukunft seinen Platz zu finden, führt Agamben ein Bild aus Kafkas Tagebucheintrag vom 20. Oktober 1917 an, in dem Zugreisende in einem Tunnel einen Unfall hatten,

 

„and this at a place where the light of the beginning is no longer seen and the light of the end is so very small a glimmer that the gaze must continually search for it and is always losing it again, and furthermore, it is not even certain whether it is the beginning or the end of the tunnel“. (A,112)

 

Die Nähe zum Kafka-Text aus Arendts Vorwort ist evident: Beide Texte Kafkas inszenieren einen negativ besetzten Ort zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zwischen diesen beiden sind die Reisenden an der UnfallsteIle blockiert wie der Mann in Kafkas “Er”. In beiden Fällen geht es um die Suche nach einem Ausweg aus der Bedrängnis. Träumt der Mann in Arendts Kafka-Zitat vom Herausspringen aus dem Zeit-Kontinuum, so richtet sich die Sehnsucht der verunglückten Reisenden im von Agamben zitierten Text auf einen Ausgang aus dem Tunnel.

 

In beiden Texten bleibt der Ausweg hypothetisch: in “Er” ist es ein nächtlicher Traum, im Bild des Tunnels eine Ununterscheidbarkeit im Dunklen. Ebenso bemerkenswert wie diese Parallelen sind jedoch die Unterschiede, die, mitsamt den dazu gehörigen Kommentaren, die Bedeutung der jeweiligen Wahl der zitierten Texte einsichtig machen und einen impliziten Dialog zwischen ihnen entspannen.

 

In Arendts Kafka-Zitat sind, wie sie im Kommentar hervorhebt, die Kräfte der Vergangenheit und der Zukunft unbegrenzt: “die eine, weil aus einer unendlichen Vergangenheit, die andere, weil aus einer unendlichen Zukunft herkommend.” (Z, 15)

 

Zeitlich punktiert ist nur der vom “Dazwischentreten des Menschen” markierte Ort der Gegenwart, an dem sich, so Arendt, seinerseits die Möglichkeit eines unendlichen Denkraums erstreckt. Anders in Agambens Kafka-Zitat: dort geht es nicht um die “Einrichtung” eines Raums zwischen Unendlichkeiten, sondern um das Erspähen des Lichts am Anfang und am Ende einer Dunkelheit, wobei zuletzt deren Unterschied nicht mehr auszumachen ist. Die Bedrängnis liegt bei Agamben nicht, wie in Arendts Interpretation von “Er”, im Kampf gegen Determinationen und Hindernisse, sondern in der Verlorenheit im Dunkel.

 

Seine Hoffnung ist nicht auf einen Freiraum des Denkens und Handeins innerhalb des Kontinuums ausgerichtet, sondern auf einen Ausweg, der nicht so sehr aus der Geschichte herausführt, sondern sie, im Zusammenfallen von Anfang und Ende, abschließt. Auch die jeweilige Behandlung der Zitate weist signifikante Unterschiede auf: Tritt Arendt mit Kafkas Vorstellung kritisch ins Gespräch und greift sie, zur Illustration ihres eigenen Denkens, explizit in sein Bild ein, so siedelt Agamben Kafkas Schriften fast schon buchstäblich “an der äußersten irdischen Grenze” (A, 114) an und treibt deren messianische Tendenz auf die Spitze.

 

 

Arendt und Agamben fassen ihre Vision von Kafkas Kunst jeweils in

ein prägnantes Bild, dessen Vergleich die Unterschiede ihres Denkens in kondensiertester Form offenbart. Zur Einführung von Kafkas “Er” spricht Arendt von Kafkas Parabeln als “Lichtstrahlen, die nicht

die äußere Erscheinung des Geschehenen erhellen, sondern die Kraft von Röntgenstrahlen besitzen, um dessen innere Struktur [ … ] bloßzulegen.” (Z, 11)

 

Agambens “Melancholy Angel”, dessen letzter Teil einer Darstellung jener gegenwärtigen Aufgabe der Kunst gewidmet ist, die Kafka am konsequentesten erfüllt, schließt mit den Worten:

 

“According to the principle by which it is only in the burning house that the fundamental architectural problem be comes visible for the first time, art” – also jene Kunst, für die Kafka paradigmatisch einsteht – “at the furthest point of ist destiny, makes visible its original project.” (A, 115)28

 

Ein Vergleich zwischen der analytischen Kraft von Röntgenstrahlen, die mit minimalster Zerstörung der Oberfläche und in unterschiedlichen Schattierungen die übereinanderliegenden Lagen und zuletzt das Gestell selbst sichtbar machen, und der dialektischen Bewegung des brennenden Hauses, die dessen Ursprung im Vergehen zur Kenntlichkeit bringt, spricht für sich.

 

Im Gegensatz zu Arendt geht es Agamben weder darum, einen Raum in der Geschichte zu schaffen, noch aus ihr herauszuspringen, sondern um die Notwendigkeit und Möglichkeit, ihr Ende zu denken. Dieses Ziel, so Agamben, steht in jedem “Intervall in der Zeit”, also in jeder Jetztzeit offen – als Pforte, möchte man hinzufügen, “durch welche jede Sekunde der Messias treten” kann.”

 

Und weil kein Weg – kein Bezug – zu diesem Ziel führt, kann für Agamben nur die Beharrlichkeit eines Boten, „the perennially late stubbornness of a messenger” (A, 114), dem nur noch seine Aufgabe bleibt, diese Botschaft zu tragen, dem Menschen einen Raum des Handeins und des Wissens verleihen.

 

Beharrlich sind diese Boten tatsächlich: sie bereiten noch in Agambens 2005 erschienenem Band Profanierungen das messianische Reich vor.30

 

Mit der Botschaft einer “reinen Tradierbarkeit”, die nichts aussagt als ihre eigene Aufgabe, kommt Kafka in der Interpretation Agambens der Erfüllung dieser Aufgabe am nächsten und vollzieht so den „letzte(n) Ansturm gegen die irdische Grenze.” (A, 114) Aber erst jenseits dieser Grenze liegt für Agamben das Ziel:

 

“At the limit of its aesthetic itinerary, art abolishes the gap between the thing to be transmitted and the act of transmission and again comes closer to the mythical-traditional system, in which a perfect identity existed between the two terms.” (A, 114)

 

Doch, so Agamben weiter, kann Kunst allein diese Grenze nicht überschreiten. Zwar kann sie, wie im Falle Kafkas, den “Ansturm” proben, doch gelingt es ihr nicht, sie zu transzendieren.

 

In einer signifikanten Variation auf Benjamins Diktum, daß erst der erlösten Menschheit ihre Geschichte in ihrer Gesamtheit zufällt, befreit Agamben den Menschen aus seiner bedrängten Lage, wenn er sich seiner Geschichtlichkeit inne wird, doch was sich, in Agambens Vorstellung daraus ergibt, ließe wohl nicht nur Arendt, sondern auch Benjamin erschauern:

 

“If man could appropriate his historical condition [ … ) he could exit his paradoxical situation [and] would at the same time gain access to the total knowledge capable of giving life to a new cosmogony and to turn history into myth.” (A, 114)

 

Mit diesem Traum einer Verwandlung von Geschichte in Mythos übersteigert Agamben den Kafkaschen Mann, den Arendt davon abhalten möchte, aus der Geschichte herauszuspringen.

 

Und Kafka selbst? Anstelle einer Antwort sei hier auf ein Detail in Agambens Kafka-Zitat hingewiesen, dem eine unmessianische, aber darum nicht minder zerstörerische Sprengkraft innewohnt. Sie könnte sich gegen Agambens messianische Kafka-Interpretation wenden. Im italienischen Original von Agambens “L’angelo malinconico” wie auch in dessen englischer Übersetzung endet Agambens Zitat von Kafkas Bild der verunglückten Reisenden im Tunnel mit den folgenden Worten:

 

„in un punto da dove non si vede piu la lu ce dell’ingresso e, quanta a quella dell’uscita, essa appare cosi minuscola che lo sguardo deve cercarla continuamente e continuamente perderla, e intanto non si e nemmeno sicuri se si tratti dei principio o della fine del tunnel.”

 

In der englischen Übersetzung: “It is not even certain whether it” – das erspähte Licht – “is the beginning or the end of the tunnel.” (A, 112)

 In Kafkas deutschem Original heißt es hingegen: “wobei Anfang und Ende nicht einmal sicher sind. “32

 

Gibt es für Kafka also doch kein messianisches Zusammenfallen von Anfang und Ende, sondern nur ein großes Fragen aus dem Dunkel des Tunnels heraus? Weder Unendlichkeit noch Ununterscheidbarkeit, sondern jene Ungewißheit, mit der weder politische Theorie noch metaphysische Ästhetik viel anfangen können? Im Dunkel der Ungewißheit kommen wir im Bereich der Literatur an, die weder den Schatz vergangener Revolutionen hütet noch neue Erlösungsmythen erhofft und deren Überlieferung offensichtlich weder als bewahrende Übertragung früherer historischer Erfahrungen noch als revolutionäre Zerschlagung alter Ordnungen, sondern in zahllosen Verrückungen und Verschiebungen, in Fortschreibungen und Fehllektüren die Hindernisse auf dem Weg des Boten überwindet und in dieser verstellten Form je aufs Neue den Adressaten erreicht.

 

Seinem Denkbild der Reisenden im Tunnel fügt Kafka einen Satz hinzu, den Agamben weggelassen hat:

 

“Rings um uns aber haben wir in der Verwirrung der Sinne oder in der Höchstempfindlichkeit der Sinne lauter Ungeheuer und ein je nach der Laune und Verwundung des Einzelnen entzückendes oder ermüdendes kaleidoskopisches Spiel. “33

 

Kafka selbst würde sich wohl kaum langsam hin und her denkend in Arendts in die Geschichte eingefügtes Parallelogramm einfügen lassen, noch träumte er von einem Ende der Geschichte im Mythos. Aus der „Totschlägerreihe” springt er nur mit seinem “vielleicht gefährlichen, vielleicht erlösenden Trost des Schreibens. “34

 

In “einer Nacht, so finster wie noch keine war” (Z, 11), im tiefsten Dunkel des Tunnels, an dem womöglich gar kein Licht den Ausgang auch nur anzeigt, erträumt er sich einen Ausgang und ein Licht, wenn der Abend kommt. Wenn es dunkel wird, sitzt er in einem an die Geschichte und den Mythos angrenzenden Raum am Fenster und treibt ein je nach der Laune und Verwundung seiner Leser anders wahrgenommenes, kaleidoskopisches Spiel, bei dem die kleinste Verschiebung ein anderes, ein immer neues Licht ergibt. Dort schreibt Kafka erdachte und tradierbare Texte, die ankommen, bei Arendt, bei Agamben, bei uns, Texte, die im besten Fall neue Geschichten generieren, über den Boten und die Botschaft, und über ihn, den Kaiser selbst.

 

1 Kafka, Franz, “Eine kaiserliche Botschaft”, in: Ders., Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, Frankfurt a/Main: Fischer, 1996, S. 305-306, hier S. 305.

2 Arendt, Hannah, “The Gap between Past and Future”, in: Dies., Between Past and Future, New York: Viking Press, 1968, S. 3-15, hier S. 3 (zitiert im folgenden Text: B, Seite). Auf Deutsch zitiert aus: Arendt, Hannah, “Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft”, in:

Dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München: Piper, 1994, S. 7-19 (im folgenden Text zitiert: Z, Seite).

3 Zwar überträgt Arendt ihre Verstellung eines „Intervalls in der Zeit” auf die zeitliche Modalität des Denkens überhaupt, doch sie betont, dass dieser Zwischenraum erst mit dem Traditionsbruch der Moderne zu einem Problem wurde, das nicht nur eine Elite von Denkern betrifft. Insofern als das Problem für jedes Individuum gilt, wird es zu einer Frage von politischer Bedeutung.

4         Aus Arendts Nachlaß, Manuscript Division library of Congress, 21 February 1970.

 

Zitiert in: Siegelberg, Mira, „Arendts Legacy Usurped. In Defense of the (limited) Nation State”, in: Columbia Current, Dezember 2005, S. 33-41.

5 Agamben, Giorgio, “Angelo malinconico”, in: Nuovi Argomenti, no 9, 1970, S. 153-165. Wiederabgedruckt in: L’uomo senza contenuto, Milane: Rizzoli, 1970 (Macerata: Quodlibet. 1994). Hier zitiert aus der englischen Übersetzung: “The Melancholy Angel”, in: Agamben, Giorgio. The Man without Content, tr. Georgia Albert, Stanford: Stanford University Press, 1999, S. 104-115.