THEO VAN GOGH SOCIETY :  Putins Aufsatz über die Ukraine – Der historische Plan hinter den russischen Manövern   Kommentar von Joseph Croitoru

12.02.2022 –  2021 erschien unter dem Namen von Wladimir Putin ein Aufsatz zur Geschichte Russlands und der Ukraine. Zwei Historiker haben den Text jetzt kommentiert, in dem der russische Präsident das ukrainische Volk umgarnt und das alte Feindbild Deutschland beschwört.

Die heutige Ukraine sei „ganz und gar und durch und durch ein Geschöpf der Sowjetära“, ist in dem Aufsatz „Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer“ zu lesen, der im vergangenen Juni auf der Website des russischen Präsidenten Wladimir Putin in russischer und ukrainischer Sprache veröffentlicht wurde. Putin als vermeintlicher Autor beschuldigt die Bolschewiki, durch ihre „üppigen territorialen ‚Geschenke‘“ sei Russland „faktisch ausgeraubt“ worden. Der damit in den Raum gestellten Frage, wie man sich eine Wiederherstellung der angeblichen historischen Einheit vorstellen könnte, haben die jüngsten Truppenaufmärsche an den Grenzen zur Ukraine beunruhigende Brisanz verliehen.

Den putinschen Traktat haben die Herausgeber der Zeitschrift „Osteuropa“ (Heft 7/2021, Berliner Wissenschafts-Verlag) mittlerweile nicht nur vollständig ins Deutsche übersetzen, sondern auch von den Russland- und Ukraine-Experten Andreas Kappeler und Jan C. Behrends kommentieren lassen. Der Wiener Emeritus Kappeler hat bei C. H. Beck sowohl eine „Kleine Geschichte der Ukraine“ als auch eine „Russische Geschichte“ veröffentlicht, außerdem das Buch „Ungleiche Brüder – Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart“; Behrends leitet am Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam das Forschungsnetzwerk „Legacies of Communism“.

In den Kommentaren der beiden Historiker geht ein wenig unter, wie sehr das Pamphlet, das sich offensichtlich vor allem an die Ukrainer richtet, diese umgarnt. „Wir wissen“, heißt es etwa darin, „wie fleißig und talentiert das Volk der Ukraine ist. Es vermag beharrlich und ausdauernd Erfolge und hervorragende Ergebnisse zu erzielen. Diese Eigenschaften, gepaart mit Offenheit, natürlichem Optimismus und Gastfreundschaft sind nicht verschwunden.“ Dieses Wohlwollen scheint allerdings eher denjenigen zu gelten, die „zu Russland nicht nur ein gutes Verhältnis haben, sondern ihm mit großer Liebe begegnen“. In populistischer Manier wird im selben Atemzug das am insinuierten wirtschaftlichen Untergang der Ukraine nach 1991 unschuldige Volk als Opfer einer korrupten Elite gezeichnet, die Putin bezichtigt, die Ukrainer – sozusagen in zeitversetzter Kollaboration mit den Bolschewiki – dem „großen russischen, dem dreieinigen Volk der Großrussen, Kleinrussen und Belorussen“ entreißen zu wollen.

Es gab eine ukrainische Sowjetrepublik

Die Behauptung von der angeblich zersprengten Dreieinigkeit ist für Kappeler eine „Halbwahrheit“. Tatsächlich habe die Sowjetregierung im Gegensatz zu den Zaren die Existenz einer ukrainischen Nation nicht nur anerkannt und ihr eine eigene Sowjetrepublik zugeordnet. Sie habe in den Zwanzigerjahren auch die ukrainische Sprache und Kultur gefördert. Putins Geschichtsklitterung setzt Kappeler zufolge noch früher ein. Er unterschlage, dass die „ukrainische Nationsbildung schon in der Frühen Neuzeit ihren Anfang nahm, in der Nationalbewegung fortgesetzt wurde und sich in den Revolutionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts intensivierte, was in der Ausrufung der unabhängigen Ukrainischen Volksrepublik Ende 1917 und der Westukrainischen Volksrepu­blik ein Jahr später gipfelte“.

Die turbulenten Ereignisse am Ende des Ersten Weltkriegs und unmittelbar danach übergeht Putin jedoch keineswegs. Im Gegenteil, er beschreibt, wie der ukrainische Nationalrat mit den Mittelmächten ein separates Abkommen schloss und daraufhin den Schutz deutscher Truppen genoss. Doch er tut dies nur, um daran zu erinnern, dass die Deutschen den Nationalrat im April 1918 zugunsten einer eigenen Marionettenregierung absetzten – was für den Kreml-Chef eine Lehre abwirft: „Jenen, die heute die Ukraine vollständig externer Verwaltung überlassen haben, stünde es gut zu Gesicht, sich daran zu erinnern, dass eine ähnliche Entscheidung damals, im Jahr 1918, dem herrschenden Regime in Kiev zum Verhängnis wurde.“

Dass aus Putins Sicht, der an dieser Stelle unverblümt das alte Feindbild Deutschland beschwört, schon länger eine „externe“ Übernahme der Ukraine droht, steht im Einklang mit seiner neo-sowjetischen und imperialistischen Auffassung vom Nachbarland als einem vom Westen gelenkten „Anti-Russland“. Hier sieht Kappeler ein „bipolares Weltbild eines sowjetisch sozialisierten Geheimdienstlers“ am Werk, in das die Vorstellung nicht passe, dass es die demokratisch gewählte ukrainische Führung sei, die eine Annäherung an die EU und die Nato anstrebe – und diese Initiative gerade nicht von den Westmächten ausgehe. Kappeler befürchtet, dass Russland die von Putin in Verzerrung der Realität an die Wand gemalte „Verfolgung und Diskriminierung der ethnischen Russen und Russischsprachigen in der Ukraine zum Vorwand für indirekte oder gar direkte Interventionen nehmen könnte“.

Noch deutlicher als Kappeler hebt Behrends hervor, dass die kulturellen Eigenheiten, die Putin der Ukraine zugesteht, sich nach Auffassung des russischen Präsidenten nur in einer Symbiose mit Russland produktiv entfalten könnten. Beide Wissenschaftler zitieren die Stelle, an der Putin nicht nur vor der „Schaffung eines ethnisch sauberen ukrainischen Staates“ warnt, sondern deren Folgen mit dem „Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen uns“ vergleicht. Dem Rat der beiden Historiker, Putins Text ernst zu nehmen, sollte man folgen.