THEO VAN GOGH: PROBLEME BEI DER VERRECHTLICHUNG DER PRAKTISCHEN „ANTISEMITISMUS-KEULE!“

Gaza & das Grundgesetz -FRANKFURTER RUNDSCHAU

Stand: 24.10.2024,

Das European Legal Support Center mit Sitz in den Niederlanden versteht sich als Verteidigerin von Grund- und Bürgerrechten und unterstützt Menschen, die wegen ihres propalästinensischen Engagements Probleme mit der Justiz bekommen. Von Hannah El-Hitami

Am 10. November 2023 ging Iris Hefets in Berlin demonstrieren. Gut ein Monat war seit dem Hamas-Angriff auf Israel und dem Beginn der israelischen Militäroffensive im Gazastreifen vergangen. Gegen diese Operation wollte Hefets, Vorstandsmitglied des 2003 gegründeten Vereins „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ protestieren.

An jenem Abend im November war sie als Rednerin auf einer Demonstration für Waffenruhe und Kunstfreiheit angekündigt. Bei sich trug sie ein Schild mit der Aufschrift: „Als Jüdin und Israelin: Stoppt den Genozid in Gaza“, das sie auf dem Pariser Platz in die Höhe hielt. „Während der Demo gab es plötzlich neue Auflagen von der Polizei“, erinnert sich Hefets bei einem Gespräch im Mai 2024. Das Skandieren von „Stoppt den Genozid“ sei verboten worden. Sie habe nicht skandiert, sagt sie, sondern ihr Schild gehalten. „Dann wurde ich festgenommen.“

Welche Meinung ist in Deutschland geschützt und welche strafbar?

Selten waren die Regeln dafür so unklar und im Wandel wie seit dem 7. Oktober 2023. Im November wurde Iris Hefets im Zuge ihrer Festnahme wegen Volksverhetzung angezeigt, weil sie von einem Genozid in Gaza gesprochen hatte. Ob Israel in Gaza einen Völkermord begeht, ist unter Völkerrechtlern und in der Öffentlichkeit extrem umstritten – dem Staat das vorzuwerfen ist aber nicht illegal. „Die Nutzung des Begriffes Genozid respektive Völkermord ist grundsätzlich nicht strafbar“, teilt die Berliner Polizei auf Nachfrage mit, „und kann folglich nicht Grundlage für eine Strafanzeige wegen Volksverhetzung sein.“ Werde der Begriff Genozid oder Völkermord jedoch „in Verbindung mit einer pauschalisierenden Aussage etwa gegenüber der Bevölkerung Israels verwendet, könnte eine strafrechtlich relevante Aussage gegeben sein.“ Hierbei handele es sich „um kontextbezogene Einzelfallentscheidungen. Aus diesem Grund könnte die Nutzung der oben genannten Begriffe untersagt worden sein.“

Im März wurde das Verfahren eingestellt, ohne Begründung, wie aus dem Schreiben der Staatsanwaltschaft hervorgeht. Wie viele andere aus den vergangenen Monaten, sagt Anwältin Nadija Samour, die Hefets in dem Rechtsstreit vertrat.

Die Rechtsanwältin Nadija Samour arbeitet für das European Legal Support Center (ELSC). Die Organisation mit Sitz in den Niederlanden versteht sich als Verteidigerin von Grund- und Bürgerrechten. Sie unterstützt mit juristischen Mitteln Menschen in Europa, die wegen ihres propalästinensischen Engagements Probleme bekommen haben, ob mit der Polizei, dem Arbeitgeber oder der Ausländerbehörde. Am aktivsten ist das ELSC zurzeit in Deutschland. Hier zeichnet sich inzwischen ab, dass sich manches Vorgehen der letzten Monate mit dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nicht in Einklang bringen lässt. Verfahren wurden seitdem eingestellt, Demonstrations- und Einreiseverbote gekippt. Doch die Verunsicherung bleibt, sagen Mitarbeiter des deutschen ELSC-Büros, vor allem für Menschen ohne deutschen Pass, denen teils schwerwiegende Konsequenzen drohen.

Der Streit um die Definition von Antisemitismus ist nicht neu. In Deutschland wird dieser Streit aus historischen Gründen besonders heftig geführt. Eine breite Definition von Antisemitismus, die auch Kritik am israelischen Staat umfasst, führt seit Jahren zu Kündigungen, Demonstrationsverboten oder Absagen von Vorträgen und Veranstaltungen. Gegen solche Fälle wollen Samour und ihre Kollegen vorgehen. Sie betreiben damit sogenanntes movement lawyering: Sie nutzen juristische Mittel, um eine politische Bewegung zu unterstützen. In einem Verfahren vor dem Berliner Verwaltungsgericht vertritt das ELSC zum Beispiel eine deutsch-palästinensische Wissenschaftlerin. Sie klagt gegen zwei Organisationen, weil diese ein diffamierendes Dossier über sie erstellt und zirkuliert hätten. Die Wissenschaftlerin wirft den Organisationen vor, gegen den Datenschutz verstoßen zu haben, indem sie sie überwacht und Informationen über sie verbreitet hätten, die sie als Antisemitin und Terrorismus-Sympathisantin darstellten. Sie sei infolgedessen von einer Veranstaltung der Linken ausgeladen worden, wo sie über antimuslimischen Rassismus und rechte Netzwerke in Deutschland referieren sollte. Auch eine Freiberuflerin, die infolge von Social-Media-Posts Aufträge verloren hat, berät das ELSC gerade. Außerdem unterstützte die Organisation Anfang des Jahres eine propalästinensische Aktivistin in Berlin, die gegen einen rufschädigenden Artikel im „Tagesspiegel“ klagte. Die Zeitung hatte Aussagen von ihr aus dem Kontext gerissen und musste dies nach einer einstweiligen Verfügung des Landgerichts unterlassen.

Das ELSC wurde 2019 gegründet, im selben Jahr hatte der Bundestag zwei Resolutionen beschlossen, deren Folgen sich das ELSC künftig widmete. Zum einen verurteilte der Bundestag die BDS-Bewegung, die zu Boykott und Sanktionen gegen Israel aufruft, und bezeichnete diese als antisemitisch. Außerdem bekannten sich die Parlamentarier mit einer Resolution zur Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und verabschiedete auch eine Erweiterung, die besagt, dass „auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein“ kann. Damit setze sie „eine Verurteilung des israelischen Vorgehens gegen die palästinensische Bevölkerung mit der menschenverachtenden Ideologie des Antisemitismus gleich“, sagt Rechtsanwältin Samour bei einem Gespräch im Berliner ELSC-Büro.

Die IHRA stellt klar, dass Kritik an Israel nicht antisemitisch sei, wenn sie mit der Kritik an anderen Ländern vergleichbar ist. Doch hier eröffnet sich ein Interpretationsspielraum: wer entscheidet, was mit der Kritik an anderen Ländern vergleichbar ist?

Die Amadeu-Antonio-Stiftung bezeichnet beispielsweise den Begriff „Apartheid“ als antisemitische Delegitimierung Israels, während Amnesty International darin einen klar definierten juristischen Begriff sieht, dessen Kriterien vor Ort erfüllt würden.