THEO VAN GOGH OPINION: ATOMKRIEG ? RISKIEREN WIR ES !?

Vorausschauend: „Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow: Ukrainische Soldaten seien seit Jahren auf Kursen im Westen gewesen. Sie könnten jeden Panzer fahren, vom amerikanischen Abrams bis zum deutschen Leopard 2“

Droht ein Dritter Weltkrieg? : Die große Angst vorm großen Krieg – Konrad Schuller FAZ -17.4.2022

Die Ukraine braucht Waffen, um zu überleben, aber manche im Westen zögern. Ziehen wir in eine Katastrophe wie die Schlafwandler von 1914? Oder wiederholen wir die Fehler der Alliierten von 1939?

Es ist jetzt viel vom Weltkrieg die Rede. Führende Politiker bis hinauf zum Präsidenten der Vereinigten Staaten erinnern an die Blutbäder des 20. Jahrhunderts, um die große Vorsicht zu erklären, mit der sie Russlands Überfall auf die Ukraine entgegentreten. Es soll nicht werden wie 1914. Damals war die Welt fahrlässig in den Ersten Weltkrieg getaumelt, die „Urkatastrophe“ der Moderne. Mobilmachung folgte auf Mobilmachung, blinde Begeisterung fegte alles fort, und am Ende waren Millionen tot.

Der Historiker Christopher Clark hat für die Politiker und Monarchen von damals das Wort von den „Schlafwandlern“ geprägt. Dieses Wort kommt jetzt wieder. Der amerikanische Admiral James Stavridis hat es unlängst warnend benutzt, ein gewesener Oberbefehlshaber der NATO. Und wenn Joe Biden über die Ukraine redet, spricht er von der Gefahr eines „dritten Weltkriegs“. Pensionierte deutsche Offiziere wie Brigadegeneral Erich Vad, bis zum Jahr 2013 immerhin ein Berater Angela Merkels, benutzen die Wendung ebenfalls und verbinden sie mit der Aufforderung, den Ukrainern nur ja keine schweren Waffen zu liefern.

Dabei heißt „Weltkrieg“ immer zugleich „Atomkrieg“. Der russische Präsident Wladimir Putin hat dafür gesorgt, dass diese Assoziation unvermeidlich ist. Schon vor Jahren hat er begonnen, diese Verbindung zu knüpfen. Im Juni 2020 unterzeichnete er ein Dekret, das russischen Generalen den Ersteinsatz von Atomwaffen auch in konventionellen Kriegen erlaubt. Dort heißt es, Moskau behalte sich vor, Atombomben nicht nur als Antwort auf einen Angriff mit Massenvernichtungswaffen zu benutzen, sondern auch „im Fall einer Aggression gegen die Russische Föderation mit konventionellen Waffen, wenn die Existenz des Staates in Gefahr ist“.

2021 legte er dann in einem pseudohistorischen Aufsatz nach und behauptete, die Russen und die Ukrainer seien keine getrennten Völker, sondern ein „geeintes Ganzes“. Jeder Versuch, die Ukraine von Russland zu lösen, sei „vergleichbar mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen uns“. Zuletzt, unmittelbar bevor er die Ukraine überfiel, ließ Putin dann eine fürchterliche Drohung folgen: Wer sich Russland in den Weg stelle, müsse wissen, dass so ein Schritt Folgen haben werde, „wie ihr sie in eurer ganzen Geschichte nicht erlebt habt“. Gleich danach stellte Putin sicher, dass seine Worte nur als nukleare Drohung verstanden werden konnten. Ende Februar ließ er die nuklearen „Abschreckungskräfte“ in Bereitschaft versetzen, und Mitte März benutzte er für einen konventionellen Angriff gegen ein Ziel in der Westukraine die Hyperschallrakete Kinschal, die auch für Atomschläge geeignet ist.

Schlafwandeln kann genauso schlimm sein wie feiges Nichtstun

Manche nehmen die Drohungen ernst. Biden zum Beispiel hat schon in den Monaten vor dem Krieg, als Putin vor aller Augen seine Truppen zum Angriff aufmarschieren ließ, keine Gelegenheit verstreichen lassen, zu versichern, dass Amerika auf gar keinen Fall gegen Russland Krieg führen werde. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz hat immer wieder gesagt, sein erstes Ziel in dieser Tragödie sei es, Deutschland aus dem Krieg herauszuhalten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat dem Westen deshalb Appeasement vorgeworfen und hinzugefügt, so wie die verzagten Führer Frankreichs und Großbritanniens 1939 für den Zweiten Weltkrieg mitverantwortlich gewesen seien, weil sie Hitler nicht entgegentraten, so seien die westlichen Führer von heute mitverantwortlich für Russlands Aggression. Vor allem dieser Vorwurf – Appeasement wie 1939 – ist es dann gewesen, der Amerikaner und Deutsche motiviert hat, das Gegenmodell „1914“ hervorzuholen: Ebenso schlimm wie feiges Nichtstun, sagt die Analogie, sei eben das unbesonnene „Schlafwandeln“ in den Krieg – und zwar in den Atomkrieg.

Nicht alle überzeugt die Schlafwandler-Analogie, zu ihnen gehört der frühere österreichische Offizier Gustav Gressel. Er ist Fachmann für Sicherheitspolitik beim European Council on Foreign Relations und meint, der russische Präsident bluffe nur, um den Westen so zu schockieren, dass er die Ukraine ungestört vernichten kann. „Putin“, sagt Gressel, „spielt bewusst mit der Angst vor einem Atomkrieg“ – und er tue es vor allem mit dem Ziel, diejenigen in Europa und Amerika zu verschrecken, die der Ukraine helfen wollten. „Er weiß, dass der Nachschub aus dem Westen jetzt kriegsentscheidend ist. Deshalb versucht er, die Bereitschaft zur Hilfe im Westen durch psychologische Zermürbung aufzulösen.“ Und zu dieser Taktik gehöre eben auch „das Gerede vom Atomkrieg“.

In Deutschland sieht Generalleutnant a. D. Heinrich Brauß das ähnlich. Als Beigeordneter NATO-Generalsekretär war er lange einer der höchsten deutschen Offiziere, heute verfasst er Expertisen für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik. Auch er hört die Sorgen mancher Fachkollegen: dass Putin zum Äußersten fähig sein könnte, wenn die Ukrainer seinen Überfall mit westlichen Waffen stoppen sollten. Dass Russland einen „selektiven nuklearen Einsatz“ wagen könnte, um Europa von der Unterstützung der Ukraine abzubringen. Aber Brauß hat da Zweifel. „Würde Putin dies wirklich tun?“, fragt er. Der russische Präsident müsste ja dann fürchten, dass die NATO nuklear antworte, und zwar gegen russisches Territorium. Brauß kann deshalb „nicht erkennen, welchen gesicherten strategischen Vorteil Putin erringen würde, wenn er nuklear eskalierte“. Die Grundsätze der Abschreckung zwischen NATO und Russland seien nach wie vor so überzeugend, „dass er davon die Finger lässt“.

„Undurchdachtes Beschwören der Apokalypse“

Brauß untermauert seine Einschätzung mit einer weiteren Überlegung: Putin, glaubt er, ist nicht auf einen totalen Sieg angewiesen. Auch wenn die Ukraine ihn mit westlicher Hilfe etwa dort stoppe, wo er heute stehe, könnte er die bisherigen Eroberungen, also den Donbass und die Landbrücke zur Krim, zu Hause als „Sieg“ darstellen. Putin selbst spreche ja neuerdings davon, dass es ihm vor allem um die Befreiung der Region Donbass gehe, wo die Ukraine angeblich einen Genozid an Russen verübe. Wenn er die heute schon besetzten Gebiete sicherte, wäre das vielleicht schon genug „für eine Siegesparade am 9. Mai“ in Moskau. Nukleare Drohungen wären dann nicht mehr wahrscheinlich. Für Brauß erscheint das westliche „Gerede von einer Eskalation in einen dritten Weltkrieg“ in diesem Licht nur noch wie „undurchdachtes Beschwören der Apokalypse“. Er nennt das „Selbstabschreckung“.

Gegen diese Überlegungen lässt sich einwenden, dass sie Spekulationen sind. Dass sie Voraussetzungen haben, die keiner überprüfen kann. Zum Beispiel, dass Putin nicht irre ist. Dass er nicht durchdrehen wird, wenn er sein Maximalziel verfehlt: die Zerstörung der Ukraine.

Allerdings gibt es faktische Hinweise dafür, dass Brauß und Gressel recht haben können. Wie die F.A.S. erfuhr, ist Putin nach Ansicht der zuständigen Dienste nicht krank. Es heißt, er sei zwar „risikoaffin“, aber intellektuell funktionsfähig und zu rationalen Kalkülen fähig. Außerdem ist zu hören, Putin habe seinen nuklearen Drohungen zuletzt keine konkreten Schritte folgen lassen. Zum Beispiel wisse man, dass die Hauptverwaltung 12 der russischen Streitkräfte, welche Russlands Atomsprengköpfe verwahrt, ihre Depots nicht geöffnet habe. Die schießenden Einheiten seien nicht mit Nuklearwaffen bestückt worden. Alles liege in den Bunkern wie eh und je, und seit dem demonstrativen Einsatz der Kinschal Mitte März habe es auch keine atomaren Einschüchterungsversuche mehr gegeben. Gressel fügt hinzu, dass auch Russlands nukleare U-Boot-Flotte zum Normalbetrieb zurückgekehrt sei. Am Anfang des Krieges seien zwar mehrere Boote ausgelaufen, jetzt aber patrouilliere nur noch je eines im Atlantik und im Pazifik. Wie immer.

Gressel und Brauß folgern aus diesen Überlegungen, dass Waffenlieferungen an die Ukraine den Westen eben nicht sofort in einen Krieg mit Russland ziehen werden und schon gar nicht in einen Atomkrieg. Brauß ist deshalb der Ansicht, die Ukraine solle jetzt schnell alles bekommen, was sie brauche, um den neuen „Zangenangriff“ im Osten des Landes abzuwehren, den Moskau schon angekündigt hat und in dem Russland ihre Hauptmacht im Donbass einschließen und vernichten will. Um die angekündigte Einkesselung zu verhindern, müssten die Verteidiger in der Lage sein, „mit mechanisierten Kräften wirkungsvolle Gegenstöße in Flanken und Rücken der russischen Angriffskeile zu führen“. Das verlange Brauß zufolge Panzerung, Feuerkraft und Beweglichkeit. Um sich gegen die „Feuerwalze“ wehren zu können, die jeden russischen Angriff eröffne, müssten die Ukrainer gegnerische Flugzeuge und Artilleriestellungen bekämpfen können. Dazu aber brauchten sie Aufklärung, bewegliche Panzer- und Raketenartillerie sowie Flugabwehr. Schwere Waffen also.

Soll also Deutschland das alles an die Ukraine liefern? Die Grünen und Außenministerin Annalena Baerbock sind dafür, der Kanzler zögert. Skeptiker in Berlin sagen, Deutschland habe die Waffen gar nicht, die Kiew jetzt brauche. Wenn den Ukrainern schnell geholfen werden solle, müssten Waffen aus sowjetischer Produktion her, mit denen sie umgehen könnten: alte sowjetische Panzer und Kampfflugzeuge zum Beispiel. So etwas hätten vielleicht Polen und Tschechen, aber eben nicht die Bundeswehr.

Die Ukraine lernen schnell, mit westlichen Waffen umzugehen

Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow wischt solche Bedenken in wenigen Sätzen vom Tisch. Ukrainische Soldaten, sagt er, seien seit Jahren auf Kursen im Westen gewesen. Sie könnten jeden Panzer fahren, vom amerikanischen Abrams bis zum deutschen Leopard 2. In Deutschland stimmen Fachleute wie Generalleutnant a. D. Egon Ramms, einer der besten Kenner der Situation in Osteuropa, dieser Einschätzung zu. „Die Ukrainer haben in den letzten Wochen unter Beweis gestellt, dass sie relativ schnell mit neuem Gerät umgehen können“, sagte er am Dienstag im ZDF. Sie könnten sich in die Bedienung westlicher Waffen „sehr schnell einarbeiten“.

Wenn das stimmt, gäbe es einiges, was Berlin zu bieten hätte, und zwar nicht nur Oldtimer wie den Panzer Leopard 1 oder den Schützenpanzer Marder. Gressel nennt auch moderne Waffen wie das Flugabwehrraketensystem IRIS-T SLM. Diese Waffe ist gegenwärtig ein deutscher Exportschlager, zu den Kunden gehören Schweden, Norwegen und Ägypten. Diese Waffe könnte helfen, ukrainische Kinder, Frauen und Männer vor einem plötzlichen Bombentod auf überfüllten Bahnhöfen wie vor wenigen Tagen in der ostukrainischen Stadt Kramatorsk zu bewahren.

Wird das gut gehen? Oder wird Putin NATO-Gebiet angreifen, wenn westliche Waffen ihm seinen Sieg verwehren? Wird er westliche Lieferknoten angreifen, zum Beispiel die Stadt Rzeszow im Osten Polens, wird er im äußersten Fall zu nuklearen Drohungen zurückkehren? Wird er vielleicht unter nuklearen Drohungen ins Baltikum einfallen, um die NATO zum Einlenken zu zwingen?

So einen Angriff fürchtet die Allianz schon seit Jahren, und tatsächlich liegt hier ein Element der Unsicherheit. Vieles aber spricht dafür, dass Putin nach den Fehlschlägen in der Ukraine zu schwach ist für solche Gegenschläge. Gressel weist darauf hin, dass viele der Einheiten, die früher das Baltikum bedrohten, jetzt in der Ukraine stehen. Die 6. Armee aus dem Gebiet um St. Petersburg zum Beispiel oder die 76. Luftsturmdivision von der estnischen Grenze, deren Spuren jetzt inmitten der ermordeten ukrainischen Zivilisten von Butscha gefunden wurden. Für einen Krieg gegen NATO-Länder, welche der Ukraine Waffen liefern, stehen diese Einheiten nicht mehr zur Verfügung. Die ersten von diesen Staaten haben daraus schon ihre Folgerungen gezogen. Die Tschechische Republik hat den Ukrainern Panzer geschickt, die Slowakei Flugabwehrraketen. Und bisher ist von einem Angriff auf diese Länder nichts bekannt geworden.