THEO VAN GOGH : NACH DER SCHÖPFUNG HERRSCHT NUN ENTSCHÖPFUNG / LAST ORDERS
Nur wer der Toten gedenkt, wird auf die Dauer und aus der Tiefe leben können: was uns die alten Griechen gerade hier und heute zu sagen haben
Wir modernen Bewohner der Erde beuten den Planeten aus und verdrängen den Tod. Das hängt miteinander zusammen. Und es ist ein grosses Missverständnis. – Giorgio Agamben
Ob Antike oder Mittelalter: Der Tod war in alten Zeiten stets nah und Teil des Alltags. (Szene aus dem Berner Totentanz, Bild 9: Tod und Waldbruder / Tod und Begine, 1649, Gouache auf Papier, Bernisches Historisches Museum.)
I.
Im klassischen Griechisch hat die Erde zwei Namen, die zwei unterschiedlichen oder gar entgegengesetzten Realitäten entsprechen: gē (γῆ) oder gaia (γαῖα) – und chthōn (χϑῶν). Entgegen einer heute verbreiteten Theorie bewohnt der Mensch nicht allein Gaia, sondern hat in erster Linie mit Chthon zu tun.
Tatsächlich benennen chthōn und gē zwei sozusagen geologisch gegensätzliche Aspekte der Erde: Chthōn ist die Aussenseite der unteren Welt, die Erde von der Oberfläche abwärts, gē ist die Erde von der Oberfläche aufwärts, die dem Himmel zugewandte Seite der Erde. Diesem stratigrafischen Unterschied entspricht die Ungleichheit der Tätigkeiten und Aufgaben: Chthōn kann nicht kultiviert werden und gibt keine Nahrung, entzieht sich dem Gegensatz Stadt/Land und ist kein Gut, das man besitzen kann; gē hingegen, wie der gleichnamige Hymnus Homers nachdrücklich in Erinnerung ruft, «nährt alles auf chthōn» (epi chthoni) und bringt die Ernten und Güter hervor, die den Menschen bereichern: für diejenigen, denen gē ihr Wohlwollen erweist, «sind die lebenspendenden Furchen des Ackerbodens voller Früchte, auf den Feldern gedeiht das Vieh, das Haus füllt sich mit Reichtümern, und sie regieren mit gerechten Gesetzen die Städte der schönen Frauen».
Die Theogonie des Pherekydes enthält das älteste Zeugnis für die Beziehung zwischen gē und chthōn, zwischen Gaia und Chthonia. Ein erhaltenes Fragment des Clemens von Alexandrien bestimmt die Art ihrer Beziehung und gibt an: Zeus ist mit Chthonìe verheiratet, und wenn die Braut gemäss dem Hochzeitsritus der anakalypteria ihren Schleier lüftet und nackt dem Bräutigam erscheint, bedeckt Zeus sie mit «einem grossen und schönen Mantel», in den er «mit verschiedenen Farben Gē und Ogeno [Ozean]) eingewoben hat». Chton, die untere Erde, ist also etwas Abgründiges, das sich in seiner Nacktheit nicht zeigen kann, und das Gewand, mit dem der Gott sie bedeckt, ist kein anderes als Gaia, die obere Erde.
Ein Abschnitt aus Porphyrios, «Über die Nymphengrotte», unterrichtet uns darüber, dass Pherekydes die chthonische Dimension als Tiefe charakterisierte und «von Höhlen (mychós), von Gruben (bóthros), von Grotten (ántron) sprach», gedacht als die Tore (thyras, pylas), die die Seelen bei Geburt und Tod durchschreiten. Die Erde ist eine doppelte Wirklichkeit: Chthonia ist der formlose und verborgene Grund, den Gaia mit ihrer vielfarbigen Zierde aus Hügeln, blühenden Landschaften, Dörfern, Wäldern und Herden überzieht.
Auch bei Hesiod in der Theogonie hat die Erde zwei Gesichter. Gaia, «unerschütterliche Grundlage aller Dinge», ist das erste Geschöpf des Chaos, doch das chthonische Element wird unmittelbar danach erwähnt und, wie bei Pherekydes, mit dem Begriff mychós definiert: «der dunkle Tartarus in der Tiefe der weitläufigen Erde (mychoi chthonos eyryodeies)». Mit grösster Klarheit tritt der stratigrafische Unterschied zwischen den beiden Aspekten der Erde in Homers Hymnus an Demeter hervor.
Schon zu Beginn, wenn der Dichter beschreibt, wie Persephone beim Pflücken von Blumen entführt wird, ist Gaia zweimal erwähnt, in beiden Fällen als die blumengeschmückte Erdoberfläche, dem Himmel zugewandt: «die Rosen, den Krokus, die lieblichen Veilchen auf saftiger Au, die Schwertlilien, nebst Hyazinthen, auch die Narzisse, die Gaia gebar [. . .] nach dem Willen des Gottes» . . . «und des würzigen Dufts erfreute sich weithin der Himmel, alles Land auch umher».
Doch genau in diesem Moment «spaltete (chane) weit sich die weitläufige Erde (chthōn) auf der nysischen Flur, und der empfangsbereite Herr, mit den unsterblichen Rossen, stürzt hier hervor (orousen)». Hier handelt es sich um eine Bewegung von unten zur Oberfläche, unterstrichen durch das Verb ornymi, das «emporsteigen, sich erheben» bedeutet, als wäre der Gott zutage getreten aus dem chthonischen Boden der Erde auf Gaia, die zum Himmel blickende Seite der Erde. Später, als dieselbe Persephone Demeter von ihrer Entführung erzählt, kehrt sich die Bewegung um, und nun ist es an Gaia, sich zu öffnen (gaia denerthe koresen), damit «der empfangsbereite Herr» sie mit seinem goldenen Wagen unter die Erde ziehen könne. Es ist, als hätte die Erde zwei Tore oder Öffnungen: eines, das sich aus der Tiefe zur Gaia auftut, und eines, das von der Gaia in den Abgrund der Chthonia führt.
In Wahrheit handelt es sich nicht um zwei Tore, sondern um eine einzige Schwelle, die ganz und gar zu Chthon gehört. Das Verb, das der Hymnus auf Gaia bezieht, lautet nicht chaino, «sich auftun», sondern choreo, was einfach «Platz machen» bedeutet. Gaia öffnet sich nicht, sondern macht Platz für den Durchgang der Proserpina; schon die Idee eines Durchgangs zwischen oben und unten, die Idee einer Tiefe (profundus: altus et fundus) ist zuinnerst chthonisch, und das Tor zur Unterwelt (porta di Dite) ist, wie die Sibylle Aeneas erinnert, in erster Linie dieser Unterwelt zugewandt («leicht ist der Abstieg zum Avernus», facilis descensus Avernus). Der lateinische Begriff, der chthōn entspricht, ist nicht tellus, das Wort für «Erde», das eine horizontale Ausdehnung bezeichnet, sondern der Ausdruck humus, der eine Richtung nach unten impliziert (vgl. humare, «beerdigen»), und davon ist bezeichnenderweise homo, der Name für den Menschen, übernommen («Er wird Mensch genannt, weil er aus der Erde geboren ist»; hominem appellari quia sit humo natus). Der Mensch in der klassischen Welt ist «human», das heisst irdisch, und das schliesst nicht eine Verbindung mit Gaia ein, mit der zum Himmel aufblickenden Erdoberfläche, sondern vor allem eine innige Verbindung mit der chthonischen Sphäre der Tiefe.
Chthon besagt die Idee einer Lücke und eines Durchgangs, wie sich in dem Adjektiv zeigt, das bei Homer und Hesiod den Ausdruck ständig begleitet: eyryodeia, übersetzt «weitstrassig, weitläufig», doch nur wenn man nicht vergisst, bei odos die Idee des Durchgangs zu einem Ziel einzubeziehen, in diesem Fall zur Welt der Toten – eine Reise, die jedem bestimmt ist (möglicherweise hat Vergil, der vom facilis descensus schreibt, sich an die Formulierung von Homer erinnert).
In Rom stellte eine kreisförmige Öffnung, mundus genannt, die der Sage nach von Romulus zum Zeitpunkt der Stadtgründung ausgehoben wurde, die Verbindung zwischen der Welt der Lebenden und der chthonischen Welt der Toten her. Die Öffnung, die durch einen Stein namens manalis lapis verschlossen war, wurde dreimal pro Jahr geöffnet, und an diesen Tagen, an denen es hiess: mundus patet, die Welt steht offen, und «die geheimen und verborgenen Dinge der Religion der Totengeister (Manen) ans Licht gebracht und offenbar wurden», waren fast alle öffentlichen Tätigkeiten eingestellt. In einem beispielhaften Artikel hat Vendryes nachgewiesen, dass die ursprüngliche Bedeutung unseres Begriffs «Welt» (mundus) nicht, wie immer behauptet, eine Übersetzung des griechischen Wortes kosmos ist, sondern sich gerade von der kreisrunden Schwelle ableitet, die die «Welt» der Toten offenbar werden liess. Die antike Stadt gründete auf der «Welt», weil die Menschen über der Öffnung wohnen, die das Überirdische und das Unterirdische, die Welt der Lebenden und die Welt der Toten, Gegenwart und Vergangenheit eint, und gerade durch die Beziehung zwischen diesen beiden Welten wird es ihnen möglich, ihr Handeln auszurichten und Inspiration für die Zukunft zu finden.
Der Mensch ist nicht nur im eigenen Namen mit der chthonischen Sphäre verbunden, sondern auch seine Welt und der Horizont seiner Existenz als solcher grenzen an die Höhlen von Chthonia. Der Mensch ist im wörtlichen Sinne ein Wesen der Tiefe.
II.
Chthonisch par excellence ist die Kultur der Etrusker. Wer erschüttert die Landschaft Tusziens mit ihren verstreuten Nekropolen durchstreift, nimmt sofort wahr, dass die Etrusker Chthonia und nicht Gaia bewohnten. Das gilt nicht nur, weil das, was im Wesentlichen von ihnen geblieben ist, mit den Toten zu tun hat. Vielmehr waren auch und vor allem die Orte, die sie für ihre Behausungen gewählt haben – sie Städte zu nennen, ist wohl unpassend –, obwohl sie sich scheinbar auf der Oberfläche von Gaia befinden, in Wirklichkeit epichthonioi, sie sind in den vertikalen Tiefen von Chthon zu Hause. Daher ihr Gefallen an Grotten und in Stein gehauenen Höhlen, daher ihre Vorliebe für hohe Schluchten und Klüfte, die Steilwände aus Peperino-Gestein, die zu einem Fluss oder einem Bach hinabstürzen. Wer sich plötzlich vor der Cava Buia (Finstere Höhle) bei Blera oder in den in Fels gegrabenen Gassen von San Giuliano wiederfindet, weiss sich nicht mehr auf der Oberfläche von Gaia, sondern sicherlich vor der Pforte der Unterwelt (ad portam inferi), in einem der Gänge, die die Hänge von Chthonia durchziehen.
Dieser unverkennbar unterirdische Charakter der etruskischen Orte, verglichen mit anderen Gegenden Italiens, lässt sich auch so ausdrücken: Was wir vor Augen haben, ist eigentlich keine Landschaft. Die liebenswürdige, gewohnte Landschaft, die der Blick heiter umarmt und die sich im Horizont entgrenzt, gehört zu Gaia: In der chthonischen Vertikalität entgleitet jede Landschaft, jeder Horizont verschwimmt und überlässt seinen Platz dem grausamen und nie erblickten Gesicht der Natur. Und hier, in den widerständigen Gräben und Abgründen, wüssten wir nicht, was wir mit der Landschaft anfangen sollten, das Land ist zäher und unbeugsamer gegenüber jeder pflichtgemässen pietas der Landschaftsgestaltung – am Tor zur unteren Welt ist der Gott so nah und erdgebunden geworden, dass er nicht mehr nach Religion verlangt.
Wegen dieser unerschütterlichen chthonischen Hingabe bauten und bewachten die Etrusker die Behausungen ihrer Toten mit so unermüdlicher Sorge, nicht umgekehrt, wie man meinen könnte. Sie liebten den Tod nicht mehr als das Leben, doch das Leben war für sie untrennbar mit den Tiefen von Chthonia verbunden; sie konnten die Täler von Gaia nur bewohnen und deren Land nur bebauen, wenn sie niemals ihre wahre, vertikale Bleibe vergassen. Bei den in Fels gehauenen Gräbern oder Grabanlagen haben wir es also nicht nur mit den Toten zu tun, wir stellen uns nicht nur die Körper vor, lagernd auf leeren Sarkophagen, sondern wir nehmen gleichzeitig auch die Bewegungen, Gesten und Wünsche der Lebenden wahr, die sie erbaut haben. Das ist das Vermächtnis, das dieses Volk der Menschheit hinterlassen hat: Das Leben ist umso liebenswerter, je zärtlicher es die Erinnerung an Chthonia in sich wahrt. Es ist möglich, eine Zivilisation zu errichten, ohne jemals die Sphäre der Toten aus ihr zu verbannen. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit und zwischen Lebenden und Toten besteht eine intensive Gemeinschaft und eine ununterbrochene Kontinuität.
III.
Im Jahr 1979 veröffentlichte James E. Lovelock, ein britischer Chemiker, der aktiv an den Programmen der Nasa zur Weltraumforschung beteiligt war, das Werk «Gaia: A New Look at Life on Earth». Im Mittelpunkt des Buches steht eine Hypothese, die ein Artikel, verfasst zusammen mit Lynn Margulis fünf Jahre zuvor für die Zeitschrift «Tellus», mit folgenden Worten vorweggenommen hatte: «Die Gesamtheit der lebenden Organismen, aus denen die Biosphäre besteht, kann als eine singuläre Einheit handeln, um ihre chemische Zusammensetzung, den pH-Wert und vielleicht sogar das Klima zu regulieren. Als Gaia-Hypothese bezeichnen wir die Vorstellung der Biosphäre als aktives System der Steuerung und Anpassung, das in der Lage ist, die Erde im Gleichgewicht zu erhalten.»
Sicherlich ist die Wahl des Begriffs Gaia nicht zufällig; er wurde Lovelock von William Golding vorgeschlagen, einem Schriftsteller, der die perverse Berufung der Menschheit in dem Roman «Herr der Fliegen» meisterhaft beschrieben hatte: Wie der Artikel betont, ermitteln die Autoren die Grenzen des Lebens in der Atmosphäre und interessierten sich «nur in geringerem Masse für die internen Grenzen, bestehend aus der Schnittstelle zu den inneren Teilen der Erde, die nicht dem Einfluss von Prozessen an der Oberfläche unterliegen». Nicht weniger bedeutsam ist jedoch eine Tatsache, die – zumindest damals – die Autoren nicht in Betracht zu ziehen scheinen: Die Verwüstung und die Verschmutzung von Gaia erreichten genau dann ihr Höchstmass, als die Bewohner von Gaia beschlossen, die nötige Energie für ihre neuen und wachsenden Bedürfnisse aus den Tiefen von Chthonia zu beziehen, in Form der fossilen Überreste von Millionen von Lebewesen aus ferner Vergangenheit, die wir Öl nennen.
Ganz offensichtlich lässt sich die Identifikation der Grenzen der Biosphäre mit der Erdoberfläche und mit der Atmosphäre nicht aufrechterhalten: Die Biosphäre kann nicht ohne den Austausch und die «Schnittstelle» mit der chthonischen Sphäre der Toten existieren, Gaia und Chthonia, die Lebenden und die Toten, müssen zusammen gedacht werden.
In der Tat geschah es in der Moderne, dass die Menschen ihre Beziehung zur chthonischen Sphäre vergessen und verdrängt haben, sie bewohnen nicht mehr Chthon, sondern nur noch Gaia. Doch je mehr sie die Sphäre des Todes aus ihrem Leben absonderten, desto unlebbarer wurde ihre Existenz; je mehr sie jede Vertrautheit mit den Tiefen von Chthonia verloren und sie wie alles andere auf ein Objekt der Ausbeutung reduzierten, desto mehr wurde die liebenswerte Fläche von Gaia nach und nach vergiftet und zerstört. Und was wir heute vor Augen haben, folgt aus dem extremen Abgleiten in die Verdrängung des Todes.
Um ihr Leben vor einer vermeintlichen, verwirrenden Bedrohung zu retten, geben die Menschen alles auf, was es lebenswert macht. Und am Ende ist Gaia, nunmehr ohne Tiefe – die Erde, die jede Erinnerung an die unterirdische Behausung der Toten verloren hat –, heute ganz in der Gewalt der Angst und des Todes. Von dieser Angst können nur diejenigen geheilt werden, die ihr Gedächtnis an ihre zweifache Bleibe wiedererlangen, die sich daran erinnern, dass ein Leben nur human ist, wenn Gaia und Chthonia untrennbar geeint bleiben.
Giorgio Agamben ist Philosoph. Zuletzt sind vom ihm die Werke «An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik» (Turia + Kant, 2021) und «Der Gebrauch der Körper» (Fischer-Verlag, 2020) erschienen. – Der obenstehende Beitrag wurde von Barbara Hallensleben aus dem Italienischen übersetzt.