THEO VAN GOGH METAMORPHOSEN: JENSEITS VON „ICH – ES  – ÜBER-ICH“!

DAS KOMMENDE HUMANUM WIRD NICHT WIEDER-ZU-ERKENNEN SEIN !

Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz

Die Subjektivität wohnt der Wertschöpfung im Technokapitalismus inne. Mehr noch: Die Technologie hat dazu beigetragen, dass sich all die verschiedenen Logiken des Kapitalismus im Subjekt überschneiden und es von ­innen heraus umgestalten.

Mein zentraler Punkt in den vorangegangenen Überlegungen war dieser: Unsere emotionale Subjektivität speist den Motor des Technokapitalismus. Sie ist das Rohmaterial, aus dem ein enormer ökonomischer Wert gewonnen wird. Das hat drei weitreichende Konsequenzen: a) Verlust der Erfahrung, b) animierte Einsamkeit und c) verschwimmende Realität.

Wie jedes Jahr seit 1927 kürte auch 2006 das Nachrichtenmagazin „Time“ seine „Person des Jahres“. Fällt diese Wahl gewöhnlich auf Staatsoberhäupter, Wissenschaftler oder Filmstars, so zeigte die Titelseite diesmal einen leeren ­Computerbildschirm mit der Aufschrift „You“. Darunter stand folgende Bildunterschrift: „Ja, du. Du kontrollierst das Informationszeitalter. Willkommen in deiner Welt.“ Die Zeitschrift wollte damit den Millionen von Menschen Tribut zollen, die anonym nutzergenerierte Inhalte zu Websites wie Youtube, Facebook, ­Wikipedia und anderen beitragen, ohne dass ihnen dies vergolten würde. Vielleicht lag darin auch eine Anerkennung der Tatsache, dass dieses „Du“ in den Mittelpunkt von Technologie und ­Wirtschaft gerückt war: des Technokapitalismus.

Dasselbe Du ist auch der Schlüssel zum Verständnis unserer Zukunftsaussichten. Zwei scheinbar unzusammenhängende Phänomene veranschaulichen, wie Wirtschaft und Kultur durch das Du hindurchgehen: der Prosum und die Kultur der Selbsthilfe. „Prosum“ ist der Prozess, im Zuge eines Konsumvorgangs Wert zu schöpfen. Die sharing economy (Ko­konsum) ist ein Beispiel für einen solchen Prosum. Sie schöpfen Wert aus Ihrer Couch, indem Sie deren Nutzung anderen auf Airbnb anbieten, haben diese Couch aber auch gekauft, also konsumiert, um auf ihr fernzusehen. Im Prosum verwandelt das Individuum einen Konsumgegenstand in eine Quelle ökonomischen Werts und verschmilzt so Konsum und Produktion nahtlos. Es war Alvin Toffler, Autor des Buchs „Der Zukunftsschock“, der diesen Begriff in den Siebzigerjahren prägte.

Die Selbsthilfekultur wiederum verfügt über eine ähnliche Doppeleigenschaft, die seltsamerweise nie bemerkt wird: Eine gewaltige Industrie, deren Produkte von Milliarden Menschen auf der ganzen Welt konsumiert werden, bietet eine Reihe von Techniken an, um ein besseres Selbst zu gestalten und herzustellen, das im selben Moment produziert und konsumiert wird. Ein Workshop zur Wutkontrolle oder zur Überwindung einer Abhängigkeit vermittelt Techniken der Selbstkontrolle (Atemtechniken oder solche zur Meditation, zum Aufschreiben der eigenen Gedanken und so weiter), die dazu beitragen sollen, ein neues, weniger wütendes oder ab­hängiges Ich hervorzubringen. Diese ­doppelte Bewegung der Produktion und ­Konsumption eines Selbst mittels psycho­logischer Techniken bezeichnet einen entscheidenden Wandel der Kultur und Identität in allen westlichen Demokratien im Anschluss an die Sechzigerjahre.

Ich möchte im Folgenden untersuchen, wie Gefühle fortlaufend von und mittels Technologie konsumiert und produziert werden. Das mag kontraintuitiv klingen, insofern Technologie, Künstliche Intelligenz und Robotik üblicherweise so dargestellt werden, dass sie die Menschheit ihrer Emotionalität berauben, indem sie etwa menschliche Interaktionen durch Algorithmen erkennbar und steuerbar machen und dafür sorgen, dass Maschinen Menschen zunehmend nachahmen und mit ihnen interagieren können. In Wirklichkeit aber ist das Gegenteil der Fall: Wir erleben eine beispiellose Emotionalisierung des Selbst und der Technologie, weil Gefühle zu jenem Rohmaterial gemacht worden sind und weiterhin gemacht werden, das im Technokapitalismus durch Technologie gewinnbringend gefördert wird. Bestand der Industriekapitalismus in der Gewinnung von Bodenschätzen und ihrer Verarbeitung durch güterproduzierende Industrien, so gewinnt der Technokapitalismus Wert aus dem Selbst, der vom Selbst selbst konsumiert wird. Dies führt mit zur Erzeugung eines technokapitalistischen Selbst.

Konsumerlebnisse, Technologien und Gefühle bilden eine einzige Matrix, in der jedes Glied die anderen ermöglicht und erzeugt, und diese Matrix produziert gewaltige wirtschaftliche Werte. Wenn das für Sie eher nach Science-Fiction klingt als nach der Welt, die Sie kennen, dann irren Sie sich, denn es ist bereits unsere Welt. Ob durch Science-Fiction oder ständige Innovationen in einer Geschwindigkeit, die in der menschlichen Geschichte beispiellos ist, lebt die Zukunft mitten unter uns und erschüttert regelmäßig unsere Gegenwart.

Die These, die ich hier verfolgen möchte, lautet, dass Technologie und Gefühle einander wechselseitig hervorbringen und dies auch in absehbarer Zukunft auf mindestens fünf unterschiedliche Weisen tun werden.

 

  1. Emotionales Messaging

1A: Die Internettechnologie wird zunehmend darauf ausgerichtet, enge zwischenmenschliche Interaktionen und Gefühle nachzuahmen. Drei Besonderheiten smarter Technologien mögen diese Behauptung veranschaulichen: Emojis kodifizieren, visualisieren und standardisieren eine Reihe grundlegender Gefühle und bauen sie in die schriftliche Kommunikation ein. Das Wort Emoji stammt aus dem Japanischen und be­deutet eigentlich Bildschriftzeichen (e für Bild und moji für Schriftzeichen). Die ersten Emoji-Sets wurden in den späten Achtziger- und Neunzigerjahren von japanischen Herstellern tragbarer elek­tronischer Geräte auf den Markt gebracht. Heute verwenden zweiundneunzig Prozent der Internetnutzer in ihrer Kommunikation Emojis. Täglich werden fünf Milliarden eingesetzt – in Kurznachrichten, E-Mails und sozialen Medien. Grindr, eine Dating-App für homo- und bisexuelle Männer, bietet eine besonders pointierte Form der Emoji-Kommunikation. Die wird von der Plattform explizit gefördert und über geschützte „Gay­moji“-Sets kommerzialisiert, die den Nutzern verkauft werden und mit denen sie etwa ihre sexuellen Vorlieben signalisieren können.

GIFs (Graphic Interchange Format) erweitern und verfeinern die Emojis. Es handelt sich dabei um kurze Animationen, mit denen ein Gefühl noch plastischer und realistischer zum Ausdruck gebracht werden kann. Die Plattform Giphy gibt an, täglich 700 Millionen Nutzer ­ zu haben, die zehn Milliarden Inhalts­elemente konsumieren.

Ein Sticker ist eine detailliertere Abbildung einer Figur, die für eine Emotion oder Handlung steht, genauer eine Mischung aus Cartoon und smileyähnlichem Emoji, die über Instant-Messaging-Plattformen verschickt wird. Die Firma Line war vor mehr als einem Jahrzehnt ein Pionier der Sticker-Ökonomie. Als die Sticker zum ersten Mal vorgestellt wurden, wurden sie noch im Unternehmen entwickelt. 2014 aber hatte Line eine neue Idee, die zur neuen Du-Wirtschaft passt: Die Firma „eröffnete den Nutzern den Raum, ihre eigenen ­Sticker zu erstellen und damit Geld zu verdienen. Seitdem hat sie eine solide Gemeinschaft von Sticker-Erstellern aufgebaut, die davon träumen, digitale Sticker-Millionäre zu werden“. Die Top Ten der Sticker-Ersteller verdienen zehn Millionen Dollar mit der Plattform, auf der insgesamt vier Millionen Gestalter Sticker für Line erschaffen.

 

Emojis, GIFs und Sticker weisen in dieselbe Richtung: Die Technologiedesigner haben eine emotionale Sprache entwickelt, die flächen­deckend in die Nachrichtensysteme verschiedener Plattformen integriert worden ist. Das Wort „Sprache“ ist nicht übertrieben. Die meisten Emojis oder GIFs sind keine visuellen Übersetzungen von Gefühlswörtern. Sie drücken Gefühle aus, für die es kein bestimmtes Wort gibt, und haben auf diese Weise das verfügbare emotionale Wörterbuch beträchtlich erweitert. Kein Wort etwa ­entspricht genau dem beliebtesten, am häufigsten verwendeten Emoji, einem ­lachenden Gesicht mit zwei Tränen. Das gilt für die meisten Sticker, Avatare und GIFs. Dieses neue visuelle Vokabular der Emotionen überbrückt eine fünftausend Jahre alte Kluft zwischen geschriebener Sprache und mündlicher Mitteilung. Tatsächlich hat es noch nie eine Schriftsprache (im weitesten Sinne) gegeben, deren ausschließliche Bestimmung es war, Interaktion und Gefühlsausdruck zu imitieren. Die Expressivität der Maschinen ist so hoch entwickelt, dass die Emoticonologie dazu neigt, die persönliche Kommunikation tatsächlich zu ersetzen und nicht nur zu ergänzen. Eine Untersuchung ergab, dass sage und schreibe fünfundsiebzig Prozent der Millennials es vorziehen, zu texten, statt zu sprechen, was auf einen tiefen Wandel der Kommunikationsmuster hindeutet. Und der „U.S. Emoji Trend Report 2022“ des Unternehmens Adobe ermittelte, dass „32 Prozent der Angehörigen der Generation Z schon einmal eine Beziehung mit jemandem durch ein Emoji beendet haben“.

1B: Die Emotionalität sozialer Netzwerke. Soziale Netzwerke werden oft unter dem Aspekt analysiert, wie viele Verbindungen sie herstellen oder welche Art Information sie übermitteln. Mein Vorschlag lautet, sie primär als Leitungen zu verstehen, die emotionale Energieflüsse transportieren. Ursprünglich sollten die sozialen Netzwerke Kanäle für positive Gefühle sein. Ein Software-Entwickler von Facebook (Meta Platforms) erläutert, warum das Unternehmen den „Gefällt mir“- oder „Daumen hoch“-Button eingeführt hat: „Ich dachte darüber nach, ob es eine Möglichkeit gibt, positive Grundeinstellungen in dem System zu vermehren. (. . .) Nicht sie zu erzwingen, sondern die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass Facebook zu einer Welt beiträgt, in der die Menschen sich gegenseitig eher aufbauen als herunterziehen.“ Dieser Entwickler dachte offensichtlich daran, das soziale Netzwerk mit einer Art emotionaler Energie zu erfüllen, die den Umlauf von Postings vervielfachen und die Zustimmung der Freunde steigern würde.

Seit ihrer Einführung hat es Billionen Likes oder mehr gegeben, und zwar als Resultat des gezielten Ver­suchs, mehr positive Emotionen in das System einzuspeisen. Ein „Like“ bewirkt, dass ein Posting in den Feeds der Freunde erscheint, und treibt den Algorithmus dazu an sicherzustellen, dass das Posting gesehen und darauf reagiert wird, um den Kreislauf der aktiven Beteiligung aufrechtzuerhalten. Ein Like-Button ist somit gleichermaßen eine emotionale wie technische Funktion zur Steigerung der Verbreitung einer Nachricht. Im Februar 2016 führte Facebook weitere Reaktionsmöglichkeiten ein – darunter „Love“, „Haha“, „Wow“, „Sad“ und „Angry“.

Die über affektive Buttons vermittelte emotionale Energie zeichnet sich durch eine Reihe von Merkmalen aus: Sie wird oft unmittelbar aus­gedrückt, sie verbreitet sich schnell, sie ist eine quantitative Alternative zum Schreiben von Inhalten, als Reaktion ist sie oft das Resultat einer holistischen und diffusen Gesamteinschätzung statt einer durchdachten Meinung. So werden etwa „süße“ oder „niedliche“ Videos und Bilder am meisten gemocht, und doch ist Niedlichkeit nicht in Worten zu analysieren. Und schließlich schafft der Like-Button ein Verlangen nach weiteren positiven Reaktionen, ja, er konstruiert es gewissermaßen technisch. Viele Zeugnisse bestätigen, dass Menschen durch die Erwartung von Zustimmung und Positivität eine emotionale Bindung an ihren Social-Media-Account entwickeln. Diese Gier nach Zustimmung basiert auf quantifizierbaren Mechanismen zur Messung positiver Einstellungen.

Dadurch, dass sie zu Kanälen des Ausdrucks und Austauschs von Gefühlen werden, erschaffen soziale Netzwerke eine neue Aufmerksamkeitsökonomie, in der Gefühle eine Schlüsselrolle spielen. Was wir als „Viralität“ bezeichnen, ist eine neue Form des öffentlichen Transports von emotionaler Energie, der Gefühle ansteckend macht, schnell und weit verbreitet und einen Fokus der Aufmerksamkeit bildet. Wenn etwas viral geht, ist dies somit im Grunde ein emotionales Phänomen. Wir wissen aus der Forschung, dass Botschaften, die Empörung oder moralische Entrüstung ausdrücken und an zentrale moralische Werte appellieren, am ehesten viral gehen. Insoweit ist Viralität eine neue Art der Ver­breitung von Gefühlen im öffentlichen Raum, um Aufmerksamkeit zu stiften.

Diese Affektivität hat einen neuen Berufsstand hervorgebracht: Influencer, deren Begabung darin besteht, Aufmerksamkeit zu erzeugen, indem sie eine emotionale Verbindung zu den Menschen herstellen, die ihnen folgen. Ein Influencer ist jemand, dessen ausschließliches Ziel darin besteht, die Zahl seiner Follow­er zu maximieren, um sie in eine andere Zahl umzutauschen, die seines eigenen ökonomischen Werts. Aufmerksamkeit zu erzielen ist dabei ein zentrales Ziel dieses Verhältnisses, wie es auch allgemeiner das zentrale Merkmal der kapitalistischen Wirtschaft und der Öffentlichkeit ist. Da es Influencern oft an Abschlüssen, Geld oder einer Berufsausbildung fehlt, nutzen sie ihre wichtigste Ressource: sich selbst, ihr alltägliches Leben und ihre Gefühle. So postete Bella Hadid, Topmodel und Influencerin zugleich, Bilder von sich, die sie weinend zeigen, und erklärte, sie fühle sich so authentischer. Die eigenen Tränen auszustellen, ist zu einem neuen Trend in den sozialen Medien geworden, weil es die Aufmerksamkeit auf sich zieht oder verstärkt – und damit die Zahl der Follow­er. Andere posteten ihre Tränen anlässlich einer Trennung.

Ich nenne diese Beispiele, weil die öffentliche Zurschaustellung der eigenen Tränen einen dramatischen Bruch allgemein akzeptierter Normen bezüglich des Weinens darstellt. Die Vermutung liegt nahe, dass die Technologie über die Macht gebietet, neue emotionale Verhaltensweisen auszulösen, denen wiederum die ökonomischen Erträge zugrunde liegen, die im Erregen von Aufmerksamkeit impliziert sind.

Influencer können Aufmerksamkeit erzeugen, weil sie über die beiden von Werbetreibenden am meisten begehrten Eigenschaften verfügen: Vertrauen und Authentizität. Genau das ist es, was Bella Hadid mit ihren Tränen erreichte. In­fluencer verwandeln das tägliche Leben und ihr eigenes wahres authentisches emotionales Selbst in eine erweiterte Form von Werbung.

Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz

1C: Techno-Gefühlswaren. Das sind kommerzielle Apps, deren ausdrücklicher Zweck es ist, einem bei der Kontrolle der eigenen emotionalen Subjektivität zu helfen. Meditations-Apps etwa zeugen von der Popularisierung eines Trends, dessen Ursprünge sich in das Hightech-Milieu im Silicon Valley der Neunzigerjahre zurückverfolgen lassen, als es unter den Firmenchefs Mode wurde, ein spirituelles Leben zu führen und sich dabei vor allem auf buddhistische Grundsätze zu beziehen.

Die sogenannten Meditations-Apps bieten Smartphone-Nutzern „Sitzungen“ zum Meditieren an, die zwischen einer Minute und einer halben Stunde dauern. Hunderte solcher – kosten­loser oder bezahlpflichtiger – Apps finden sich heute in den App-Stores von Google und Apple unter Namen wie „Head­space“, „Calm“, „Insight Timer“, „Buddhify“, „Smiling Mind“ oder „OMG! I Can Meditate“. Sie umfassen im Wesentlichen dieselben Dienstleistungen und Funktionen: eine umfassende Bibliothek von Sitzungen, aus denen man wählen kann, zumeist ­angeleitete Meditationsübungen in der Form von Audioaufnahmen, aber auch Klanglandschaften, Musikaufnahmen, Videos, Animationen, Anleitungen – oft mit Gratis-Inhalten und „Premium“-, also bezahlten Funktionen. Dabei kann es sich um geführte Tonspuren, beruhigende Musik, idyllische Bilder oder sogar zeitlich festgelegte Stille handeln, die durch den Alarmton einer „authentischen tibetanischen Klangschale“ beendet wird.

Diese Übungen zielen direkt auf Gefühle, seien es positive oder negative: Sie „beschwichtigen Ängste“ oder das „Gefühl, überfordert zu sein“, „begegnen Traurigkeit“ und „Ungeduld“, fördern aber auch Glücksgefühle oder erlauben es, „durch Achtsamkeit und Selbst­mitgefühl Freude zu erleben“. Diese Apps verstärken die Quantifizierung des emotionalen Konsums, indem sie Statistiken über unsere Meditationspraxis und die unserer Onlinefreunde er­stellen. In ­soziale Netzwerke eingebettet, dienen sie als Bausteine zur Konstruktion einer glücklichen und gesunden ­Onlinepersönlichkeit. Der Grund, warum sie so hoch entwickelt sind, liegt darin, dass sie auf einem emotionalen Prosum beruhen, bei dem die Nutzer über den Konsum einer App und ihrer Techniken ihr eigenes positives Selbst hervorbringen.

Solche Apps bezeichne ich als Techno-Gefühlswaren, das heißt Gefühle, die über die Technologie als Ware produziert und erworben werden. Techno-Gefühlswaren werden vermittels Onlinegeräten als Techniken zur Steigerung der emotionalen Kompetenz, der Leistung und der mentalen Gesundheit verkauft und konsumiert. So hilft die vom Center for Emotional Intelligence der Universität Yale entwickelte App „How We Feel“ Menschen dabei, „das richtige Wort zu finden, um zu beschreiben, wie sie sich fühlen, während sie gleichzeitig ihren Schlaf, ihre Fitnessübungen und ihre Gesundheitstrends aufzeichnet, um Muster im Zeitverlauf zu erkennen“. Headspace bietet eine Applikation namens „Ebb“ an, die Therapiesitzungen imitiert: „Direkt in die Headspace-App integriert, ist Ebb dein immer anwesender einfühlsamer KI-Begleiter. (. . .) Ebb hilft dir dabei, deine Gedanken und Gefühle mit personalisierten Meditationen und Aktivitäten für jeden Gefühlszustand zu verarbeiten.“ Ein Chatbot namens „WoeBot“ dient dazu, Symptome zu diagnostizieren und mit Patienten in ein Gespräch einzutreten, um sie dazu zu bringen, an ihren Problemen zu arbeiten. Eine neue innovative Therapie behandelt Psychosen mit Avataren. Menschen, die Wahnsymp­tome aufweisen und Stimmen im Kopf hören, sollen mit diesen Stimmen in der Form von Avataren interagieren, ein Vorgehen, das ihnen hilft, die Kontrolle zurückzugewinnen und die Stimmen zu vertreiben.

Während diese Apps Sprach-, Atem- und Bildgebungstechniken zur Verfügung stellen, haben haptische Geräte unmittelbarer die körperlichen Dimensionen von Gefühlen erschlossen. Es gibt KI-basierte Lösungen für psychische Probleme in Form von Wearables, die mittels Sensoren körperliche Signale interpretieren und notfalls ihre Hilfe anbieten können. Vernetzte Objekte, die Emotionen anhand von Herzschlag und Atmung erkennen, sollen den Nutzern helfen, ihr Stressniveau zu senken und ihren Schlaf, ihre Effizienz oder ihre Konzentration zu verbessern. So sammelt Biobeat Informationen über Schlafmuster, körperliche Betätigungen und Veränderungen in Puls und Herzrhythmus, die zur Beurteilung der Stimmung und des kognitiven Zustands der Anwender genutzt werden. Diese Daten werden mit aggregierten und anonymisierten Daten anderer Nutzer verglichen und erlauben Vorwarnungen, wenn womöglich ein Eingreifen erforderlich ist. Psychische Gesundheit, emotionale Selbstkon­trolle, Wohlbefinden und Gefühlsverbesserung werden inzwischen aktiv durch Künstliche Intelligenz und Apps bewirtschaftet.

1D: Die vierte Dimension der gewinnorientierten Emotionalisierung des Internets ist in dem Umstand zu finden, dass die Gefühlsäußerungen der Anwender – durch Worte oder Icons – von Unternehmen zunehmend „ausgewertet“ und quantifiziert werden, um ihnen andere Waren verkaufen zu können (oder sie für politische Plattformen anzuwerben). Der Skandal um Cambridge Analytica ist nur ein Beispiel. 2010 kam heraus, dass Millionen von Facebook-Nutzern zum Ziel von politischem Marketing geworden waren. Zu diesem Zweck wurden die Daten gesammelt, die sie in Facebook eingegeben hatten. Cambridge Analytica wertete das öffentliche Profil, die Likes, das Geburtsdatum und den Wohnort aus, um mit diesen detaillierten Daten psychographische Profile der Zielpersonen anzulegen. Psychographie ist eine zusammengesetzte Bezeichnung aus „psychologisch“ und „Demographie“. Die Disziplin ist definiert als „Marktforschung oder Statistik, die Bevölkerungsgruppen nach psychologischen Variablen klassifiziert“. Sie versucht, die Werte, Orientierungen und psychologischen Profile von Nutzern zu ermessen. Für eine bestimmte politische Kampagne legten die Informationen jedes Profils nahe, welche Art von Werbung am effektivsten wäre, um eine bestimmte Person an einem bestimmten Ort für ein politisches Ereignis zu gewinnen. Wir haben es hier mit einem beachtlichen Potential zu tun, die Marktforschung zu subjektivieren und emotionale Reaktionen und Orientierungen in die Zielausrichtung politischer oder kommerzieller Werbekampagnen einzubeziehen.

Ein weiteres Beispiel für eine solche Subjektivierung ist eine von Apple entwickelte Software, die Augenbewegungen, Pupillenerweiterung und Lidschlag verfolgt, um zu messen, auf welches Produkt man sich beim Einkaufen konzentriert und wie hoch der Grad der Aufmerksamkeit ist. Diese Technologie misst also den visuellen Fokus und die Aufmerksamkeit beim Einkaufserlebnis, das in Datenform an Unternehmen verkauft wird, die ihre Produkte oder Produktplatzierung entsprechend anpassen.

1E: Die fünfte und letzte Dimension der Emotionalisierung von Technologie über das Selbst findet sich in virtuellen Welten. Spiele beziehungsweise das Gaming sind das offensichtlichste Beispiel für virtuelle Welten und Inter­aktionen. Videospiele, die es bereits vor dem Internet gab, die aber mit dem Massively Multiplayer ­Online Game (Massen-Mehrspieler-Online-Spiel, MMO) weitaus komplexer wurden, stellen vir­tuelle Welten dar.

MMOs ermöglichen die Interaktion mit fiktiven Figuren in virtuellen Welten durch fiktive Avatare. Die Spieler tauchen in Geschichten ein, die es ihnen ermöglichen, eine Bandbreite von Gefühlen zu empfinden, die eine enge Affinität zu dem aufweisen, was Philosophen als fiktionale Emotionen bezeichnen. Vor allem Kendall Walton hat die Gefühle, die wir beim Lesen von Erzählliteratur empfinden, als „Quasi-Emotionen“ bezeichnet, Emotionen also, die wir für Figuren in Handlungssträngen empfinden, von denen wir wissen, dass sie imaginär, inexistent sind, die uns aber trotzdem zum Weinen bringen oder froh machen können, auch wenn wir wissen, dass ihnen nichts Reales entspricht.

Wie fiktionale Gefühle verfügen auch virtuelle Gefühle über denselben kognitiven Inhalt wie ein echtes Gefühl – ein Monster, ob real, fiktiv oder virtuell, ist furchterregend. Virtuelle Gefühle verdanken sich einer Identifikation, sind aber in MMOs im Unterschied zur traditionellen Erzählliteratur durch einen gesteigerten Realitäts­eindruck verstärkt.

Oft als „Präsenz“ bezeichnet, ist dieser Realitätseindruck entscheidend für das immersive Spielerlebnis, das die Grenzen zwischen virtuellen und realen Welten verwischen und die Gefühle der Spielenden einbeziehen kann. Dies geschieht durch eine bestimmte Art Realismus, die sich in verschiedene Kategorien zergliedern lässt.

Der simulative Realismus bezieht sich darauf, wie glaubwürdig ein Spiel Systeme und Umgebungen der echten Welt nachahmt und es den Spielenden erlaubt, sich als Teil einer stimmigen und plausiblen Welt zu fühlen. Der Wahrnehmungsrealismus umfasst die sinnlichen Aspekte eines Spiels wie Grafik und Klang, die zu dem Eindruck der Spielenden beitragen, sich in einer echten Umwelt zu befinden. Der soziale Realismus beschreibt das Ausmaß, in dem die Interaktionen im Spiel solche im realen Leben spiegeln und den Realitätseindruck dadurch stärken, dass sie plausible soziale Dynamiken abbilden.

Diese verschiedenen Formen von Realismus heben solche Spiele von der traditionellen Erzählliteratur ab. Es gibt noch einen weiteren zentralen Unterschied: Die Spieler sind frei in ihrer Entscheidung, welche Figur sie sein wollen und wie sich ihre Geschichte entwickeln wird. Sie können sich eine Figur auf der Grundlage ihrer realen oder idealen Selbstdarstellung aussuchen. Das Spiel erlaubt ihnen, zu Ko-Autoren der Geschichte zu werden. Diese Freiheit, die es in der Literatur nicht gibt, verstärkt den Realitäts­eindruck zusätzlich. So beschreibt Grant Tavinor seine Gefühle der Schuld und Scham über den Umstand, dass er sich als Figur in einem Videospiel der Dienste einer Prostituierten bediente und diese dann ausraubte. Diese Art Emotion, stellt er zu Recht fest, lässt sich in traditioneller Erzählliteratur nicht erleben, da dort der epistemische Zugang zur fiktiven Welt viel stärker durch die Erzählung beschränkt ist.

Musik und andere atmosphärische Elemente vertiefen die Versenkung, indem sie die Gefühlsverfassung sowie die Zeitwahrnehmung der Spielenden beeinflussen und damit ebenfalls zum einem Gefühl von Realität beitragen. Fortgeschrittene Systeme der virtuellen Realität und immersive Displays wie am Kopf getragene Anzeigegeräte oder Datenbrillen (Head-Mounted Displays) tragen erheblich zum Gefühl der Präsenz bei, indem sie mehrere Sinne involvieren und eine überzeugendere virtuelle Umgebung erschaffen. Wahrscheinlich wird die tiefere Integration von Computern ins mensch­liche Leben das Resultat von Techniken der virtuellen Realität sein. Die Immersion oder Versenkung bestimmt das Realitätsgefühl selbst neu, das von den empfundenen Gefühlen grundiert wird. Die Virtualität ist eine Form der Realitäts­erschaffung mittels Emotionen.

Ein auffälliger Aspekt der Spielkultur besteht darin, dass sie auf Simulationen der echten Welt ausgeweitet worden ist. Ein Beispiel dafür ist die Website „Replika“. Die in Russland geborene Journalistin Eugenia Kuyda entwickelte Replika in der von ihr mitbegründeten Techno­logiefirma Luka. Ihrer Darstellung zu­folge begann sie 2015, als ein Freund von ihr starb, „Textnachrichten ihres Freundes in einen Chatbot umzuwandeln. Dieser Chatbot half ihr, sich an die Gespräche zu erinnern, die sie zusammen geführt hatten, und wurde schließlich zu Replika.“ Replika ist ein generativer KI-Chatbot und kam im November 2017 auf den Markt. Der Chatbot wird dadurch trainiert, dass seine Anwender eine Reihe von Fragen beantworten; daraus erstellt er ein mathematisches neuronales Netzwerk, mit dessen Hilfe seine eigenen Antworten auf den individuellen Anwender abgestimmt werden. In weniger als einem Jahrzehnt hat er mehr als dreißig Millionen Spieler/Anwender auf der ganzen Welt gefunden und ist zu einer Quelle von Freundschaften und romantischen Kameradschaften geworden.

Das Endspiel dieser virtuellen Kultur könnte nunmehr vom Leiter der Firma Valve begonnen worden sein – einem Großunternehmen der Gaming-Branche. Der Valve-CEO Gabe Newell beschreibt die laufenden Veränderungen als science­fictionhaft: „Ich fühle mich heute unmotiviert.“ Ihm steht eine Welt vor Augen, in der ein solcher Seinszustand nicht mehr als „ein prinzipieller Persönlichkeitszug, der relativ schwer zu ändern ist“, gesehen wird. Stattdessen spricht er von „Vorwärts- und Rückkopplungsschleifen dessen, wer man sein will“. Einfacher gesagt: „Oh, ich werde jetzt meinen Fokus stärken. Meine Stimmung sollte so sein.“ Die virtuelle Welt ist mithin offensichtlich darauf zugeschnitten, symbiotisch mit unserer Gefühlswelt zu verschmelzen.

  1. Die sich überschneidenden Logiken des Kapitalismus

Noch nie zuvor in der Geschichte waren Gefühle so vollständig in die Technologie integriert. Die Subjektivität wohnt der Wertschöpfung im Technokapitalismus inne. Mehr noch: Die Technologie hat dazu beigetragen, dass sich all die verschiedenen Logiken des Kapitalismus im Subjekt überschneiden und es von ­innen heraus umgestalten.

Die Logik der Kommodifizierung: Dabei geht es um die Umwandlung einer ständig wachsenden Zahl von Leistungen und Objekten in Waren, die für Geld gehandelt werden. Die Technologie ermöglicht die Kommodifizierung des Selbst und des alltäglichen Lebens in noch nie da gewesener Weise. Dem Selbst und seinem emotionalen Verhalten wird ein quantifizierbarer Wert zugesprochen, der dann zu Geld gemacht wird, etwa durch Influencer.

Die Logik der Werbung: In einer zunehmend mit Waren und ganzen Galaxien von Inhalten gesättigten Welt wird das Erregen von Aufmerksamkeit noch entscheidender und noch schwieriger. Der Alltag ist ein primärer Schauplatz, um Aufmerksamkeit über die sozialen Medien zu erzeugen. Bilder von Restaurants oder Urlaubs­orten zu teilen, wirbt für zwei Dinge gleichzeitig: die Freizeitwaren, die man konsumiert, und das eigene Selbst. Die sozialen Netzwerke haben Individuen in Dauerwerber für Güter und sich selbst verwandelt und dadurch die Logik der Werbung vollends in das tägliche Leben eingebettet.

Die Logik des Marketings: Um die meisten Nichtbasiskonsumgüter zu verkaufen, wurde das Marketing erfunden, mit dem ermittelt werden soll, welche Waren an wen und wie zu verkaufen sind. Algorithmen bieten inzwischen schnelle und effiziente Formen des Marketings, die auf vergangenen Konsumentscheidungen beruhen. Gefühle formen die Schablone für das algorithmische Marketing, das auf Postings, Likes und Präferenzen beruht. Ein Gefühl, eine Meinung, ein Geschmack und eine Konsumentscheidung sind ununterscheidbar geworden, und es sind die Nutzer selbst, die den Marketingleuten die Scha­blone liefern, um sie als Güter zu vermarkten. Die Logik der Markenbildung besteht darin, Waren zu etwas Einzigartigem zu machen, das über einen nicht austauschbaren Namen und eine Identität verfügt. Augenfällig wird das an der Art und Weise, wie Menschen sich selbst in ihren Profilen in sozialen Medien als wertvolle und einzigartige Waren kennzeichnen. Wir brauchen eine Soziologie der „Profile“, um zu untersuchen, inwiefern das self branding wesentlich für Formen der Selbstdarstellung geworden ist. Influencer verstehen ihr eigenes Selbst als die Ware, die es als Marke zu kennzeichnen gilt.

Die Logik der Quantifizierung: Betriebswirtschaftliche Kennzahlen sind ein Schlüssel dafür, den kapitalistischen Produktionsprozess effizienter zu gestalten. Eine Quantifizierung liegt offensichtlich auch in dem Umstand, dass Menschen ihre Aktivitäten, Gefühle und körperliche Arbeit messen, so wie sie ihren Wert an der Zahl ihrer Follower oder Likes messen. Das quantifizierte Selbst zeigt einen Wandel im menschlichen Selbstverhältnis an.

Die Logik der Standardisierung: Diese Logik besteht in der Produktion von Gütern nach indu­striellen Gussformen und Standards. Obwohl Algorithmen einer anderen mathematischen Produktionslogik folgen als jener von Standards, lassen sie uns immer noch ausschließlich dem begegnen, dem wir bereits begegnet sind, wodurch das Selbst zu jenem Standard wird, der sich reproduziert.

Die Logik der Veralterung und Innovation: Durch diese Logik ist Zerstörung die Voraussetzung der Innovation. Die sozialen Medien sind eine unerhört gigantische Maschine zur Produktion von Inhalten, die sich ununterbrochen selbst zerstören und regenerieren. Jedes Jahr werden eine Million Apps erfunden. 2019 wurden zweihundert Milliarden Apps ­heruntergeladen, was das schwindel­erregende Ausmaß veranschaulicht, in dem der Alltag täglich durch die permanente Innovation revolutioniert wird.

All dies sind unterschiedliche Logiken des Kapitalismus, die in technologischen Anwendungen zusammenlaufen und die Subjekte sowie das Verhältnis zwischen technologischen Objekten und Subjekten grundlegend umgestalten. Anders gesagt: Das Selbst ist das Ziel von wirtschaft­licher Produktion und Konsum. Das Selbst an sich – seine Innerlichkeit, Emotionalität, Begierden – erzeugt ökonomischen Wert im doppelten Sinne von Wert, insofern Ideale artikuliert und Gewinne eingefahren werden. So gesehen können wir gar nicht mehr trennen zwischen dem, was Michel Foucault als „Selbstbeziehung“ (rapport à soi) bezeichnet, und den techno-ökonomischen Strömen, die in diesem Selbstverhältnis zirkulieren. Dieser tiefgreifend sich selbst konstituierende Aspekt der ökonomischen und technologischen Subjektivität vermittels Emotionen steht im Zen­trum des von mir so genannten techno-emotionalen Kapitalismus. Um zu illustrieren, wie Gefühle Mehrwert produzieren, möchte ich im Folgenden einige Beispiele für den enormen wirtschaftlichen Wert anführen, den diese Techno-Emotionen produzieren.

  1. Die Ökonomik von Techno-Emotionen

Emotionale Bilderschrift.

Gefühlsarbeit online, die von den Anwendern gratis verrichtet und von den Plattformen ausgebeutet wird.

Der Vollzug des Alltags und des intimen Selbst, der von der Werbeindustrie monetarisiert wird.

Von Marken bezahlte Influencer.

Emotionale Kontrolle und Verbesserung mittels (verbaler und haptischer) Techno-Gefühlswaren.

Die Verwandlung der Nutzerinhalte in eine Ware durch die Produktion von Daten, die anderen verkauft werden (das Publikum als Ware).

Schließlich die Mitwirkung an virtuellen gefühlvollen Narrativen mittels Avataren, die sich in Freemium-Modelle und Mikrotransaktionen übersetzt.

Unter dem Strich bedeutet dies sowohl in ihrem Design als auch in ihrer Nutzung eine tiefgreifende Subjektivierung der Mechanismen, um mittels Technologie wirtschaftlichen Wert zu erzeugen.

Den Beweis führen, dass diese Tendenzen grundlegend für die Zukunft sein werden, kann ich nicht; bekanntlich sind Pro­gnosen schwierig, zumal wenn sie die Zukunft betreffen. Ich kann aber die folgende Übung durchführen, die man vielleicht als beste Annäherung an eine Vorführung dessen betrachten kann, was die Zukunft für uns auf Lager hat: Ich werde ein Werk der Science-Fiction heranziehen und zeigen, dass es vieles von dem enthält, was ich hier beschrieben habe, und zwar die weltbekannte Netflix-Serie „Black Mirror“. Einer der Hauptgründe für ihren Erfolg liegt darin, dass sie genau dasselbe zu tun versucht hat wie ich hier: die ­Zukunft aus Tendenzen der Gegenwart herauszulesen.

  1. Wenn Gefühle zu Science-Fiction werden

4A: „Nosedive“ war die erste Episode der dritten Staffel von „Black Mirror“, die am 21. Oktober 2016 auf Netflix ausgestrahlt wurde. Sie spielt in einer Welt, in der sich die Menschen mit ihren Smartphones für jede Interaktion, die sie mit­einander haben, mit einem bis zu fünf Sternen bewerten können. Wie sie bewertet worden sind, entscheidet wiederum über ihren Status in sozioökonomischen Zusammenhängen. Lacie ist besonders gut darin, zu lächeln und zu kichern, um genau die positive Einstellung hervorzurufen, die ihren Wert steigern wird. Jedes negative Zusammenspiel, ob mit der Person, die ihr einen Kaffee serviert, oder einer Frau im Fahrstuhl, kann ihr Rating nach unten ziehen. Weil sie nicht über den erforderlichen sozialen Kredit verfügt, um das von ihr ersehnte Luxusapartment zu mieten, macht sie ein Foto von einem alten Teddybären, das der viralen Kategorie des Süßen genau entspricht. Das erhöht auch ihre Punktzahl, freilich nicht genug, um den von ihr begehrten Status zu erreichen.

Auf faszinierende Weise zeigt diese Episode, wie die Technologie den Affekt der Positivität durch ein Bewertungs­system durchsetzt, das sie gleichzeitig für alle sichtbar macht. Die Fähigkeit, diesen Affekt zu messen, ist unmittelbar an den sozialen Status rückgekoppelt, dessen Maß sie darstellt. Die Technologie prägt die menschlichen Interaktionen, wertet sie und stuft Personen ein. Das Smartphone und die ihm zugrunde liegende Technologie verwandeln das Selbst in eine Ware, doch ist es bemerkenswerterweise nicht Geld, das Personen und Interaktionen kommodifiziert. Das techno­logische System positiver Bewertungen ist zu seiner eigenen Währung geworden. Beliebtheit (likeability), ein auf Personen im realen Leben angewandter Like-Button, wird zu einer Handelsware, die sich gegen andere soziale und ökonomische Güter eintauschen lässt.

Lacie vereint verschiedene kapitalistische Logiken in einer. Es sind die Beliebtheit und das Bewertungssystem selbst, die der Person einen Platz in einer Hierarchie zuweisen. Wir können somit die These von einer Art Integration der staat­lichen Kontrolle, der Technologie und der emotionalen Subjektivität über den Affekt der Positivität vorschlagen.

4B: „Fifteen Million Merits“ war die zweite Episode der ersten Staffel. Bing Madsen lebt in einem Zimmer, in dem er ringsum von Bildschirmen um­geben ist, die ihn aufwecken, aber auch als Spielkonsole dienen, auf der regel­mäßig Werbung läuft. Wir befinden uns in einer Welt, in der Gesundheit hoch bewertet wird und Menschen Punkte sammeln, indem sie auf einem Hometrainer radeln und sich, nach der Anzahl der geleisteten Kilometer, „Meriten“ verdienen. Damit bestreitet er seinen Lebensunterhalt, aber auch die Teilnahme an einer Realityshow wie „A Star Is Born“. Bing verliebt sich in Abi, nachdem er sie singen gehört hat. Er überzeugt sie, bei „Hot Shot“ mitzumachen, einer virtuellen Talentshow, deren Gewinnern ein Leben im Luxus winkt. Bing bietet Abi an, ihr das Teilnahmeticket zu bezahlen, nachdem er Millionen von Meriten von seinem verstorbenen Bruder geerbt hat. Das Ticket kostet mehr, als er dachte, fünfzehn Millionen, fast seine gesamten Ersparnisse, doch er kauft es trotzdem. Abi nimmt an der Show teil.

Die Jury bewertet ihren Auftritt als Sängerin als „überdurchschnittlich“, was allerdings nicht für den ersten Platz reicht, sondern ihr als Trostpreis lediglich die Mitwirkung in dem Porno­sender „WraithBabes“ einbringt. Abi will das eigentlich nicht, doch der Druck seitens des Publikums – das sich ausschließlich aus Avataren zusammensetzt – ist so groß, dass sie einwilligt. Bing sieht schließlich eine Werbung für „Wraith­Babes“ mit Abi, die nun eine Porno­darstellerin ist. Er ist am Boden zerstört.

In wachsender Erregung zertrümmert er frustriert einen Bildschirm und versteckt eine Scherbe unter seinem Bett. Besessen von dem Gedanken, ein weiteres Ticket für „Hot Shot“ zu erwerben, strampelt er wie ein Wilder auf seinem Hometrainer, bis er die nötigen Merits beisammenhat. Mit der Glasscherbe in der Hosentasche nimmt er an der Show teil und zeigt eine Tanznummer auf der Bühne. Dann zieht er die Scherbe heraus und droht, sich die Kehle durchzuschneiden. In einer eindringlichen Rede bringt Bing seine Wut über das herzlose und vorfabrizierte System zum Ausdruck, in dem sie alle leben. Statt ihn hinauswerfen zu lassen, erklärt einer der Juroren diese Wutrede zur am tiefsten empfundenen in der Geschichte von „Hot Shot“ und bietet Bing einen enormen Gewinn an, nämlich eine eigene regelmäßige Show in einem seiner Sender. Bings Protest ist effektiv zur Ware umfunktioniert worden.

Wir sehen dann, wie Bing seine Show aufnimmt, in der er eine Schimpfkanonade loslässt und die Scherbe an seinen Hals hält. Seine Kritik am System verhilft ihm dazu, in einem Luxusapartment zu leben. Die Episode endet damit, dass er aus seinem Zimmer auf einen, wie es scheint, enormen grünen Wald blickt.

Diese Episode von „Black Mirror“ führt eine von Bildschirmen beherrschte Welt vor. Selbst auf diesen Bildschirmen zu erscheinen, ist zu dem begehrtesten Status geworden. Porno­graphie und Realityshows bilden den Hauptinhalt der Sendungen für ein virtuelles Publikum in Form anonymer Avatare. Es ist folglich eine Welt, in der die Unterhaltung hochgradig privatisiert und Sex in einsame Pornographie verwandelt worden ist, da jedes Mitglied dieser Gesellschaft zu Hause hinter einem Bildschirm sitzt und für sein Freizeitvergnügen mit dem eigenen Körper bezahlt. Die Freizeit ist zum Leben selbst geworden. Und diese Welt der Bildschirme, des Anscheins und der Performance belohnt ­Authentizität am höchsten. Durch ­Authentizität verschwindet der Unterschied zwischen Fake und Realität. Bings Wut und angedrohter Selbstmord werden in ein von Avataren konsumiertes Spektakel überführt, weil sie authentisch sind. Genau so wie Bella Hadids Tränen. Das echte Leben ist in eine Spektakelware verwandelt worden, nach der das Publikum permanent giert.

4C: „Striking Vipers“ ist die erste Episode der fünften Staffel der Anthologie-Serie. Die beiden offensichtlich heterosexuellen Freunde Danny und Karl, der eine in einer festen Beziehung, der andere mit wechselnden Verhältnissen, spielen zusammen ein Onlinespiel in ihren jeweiligen Wohnungen. Im echten Leben erstarren sie zur Bewegungslosigkeit, während sie alle Empfindungen ihrer Figuren Lance und Roxette verspüren. Nachdem sie miteinander gekämpft haben, umschlingen sie sich in einer sexuellen Umarmung. Karl (als Roxette) küsst Danny (als Lance), doch macht Danny nach ein paar Sekunden einen Rückzieher, und sie beenden das Spiel. Im Laufe der nächsten Wochen haben Danny und Karl im Spiel in den Körpern ihrer Figuren regelmäßig Sex miteinander.

Zu Dannys nächstem Geburtstag lädt seine Frau als Überraschungsgast Karl ein. Er eröffnet Danny, dass er nicht dazu in der Lage war, ihre Gefühle oder Erlebnisse mit computergesteuerten Figuren oder anderen Mitspielern nachzuempfinden. An jenem Abend begibt sich das Duo ins Spiel und hat leidenschaftlichen Sex, nach dem Karl erklärt: „Ich liebe dich.“ Danny arrangiert daraufhin ein Treffen der beiden im echten Leben, bei dem sie sich mit ihren echten Körpern küssen können, doch als sie es versuchen, befinden beide, das echte Leben löse keine Lust oder Gefühle in ihnen aus.

Diese Episode illustriert den scharfen Bruch zwischen der emotionalen Beteiligung an Spielen und im realen Leben. Um diesen Punkt noch deutlicher zu machen, wird das Spiel sogar dergestalt an der Stirn der Spieler aktiviert, dass ihre echten Körper reglos werden. Die Spieler verlieren das Bewusstsein, während sie spielen, und werden zu leblosen Körpern. Das Gefühlsleben der Avatare entwickelt sich eigenmächtig. Die Avatare können eine unbewusste Ebene erreichen, die sich nicht mit dem Bewusstsein verbindet, und betonen damit ihre Autonomie, ihre Fähigkeit, sich vom realen Selbst zu befreien und eine soziale Persona eigenen Rechts zu werden. Zu guter Letzt legt auch der Unterschied zwischen Danny und Karl etwas nahe: Der eine ist bereit, ein Leben mit virtuellem Sex zu führen, weil sein Sexual- und Gefühlsleben zutiefst unbefriedigend ist. Der andere jedoch, wie leidenschaftlich sein Avatar auch war, lehnt das virtuelle Leben ab. Nicht nur ist die virtuelle Welt somit ein Heilmittel für seelische Nöte, sondern sie kann auch eine neue Ungleichheit schaffen: zwischen denen, die reich an Realität, und denen, die arm an Realität sind.

Fazit

Mein zentraler Punkt in den vorangegangenen Überlegungen war dieser: Unsere emotionale Subjektivität speist den Motor des Technokapitalismus. Sie ist das Rohmaterial, aus dem ein enormer ökonomischer Wert gewonnen wird. Das hat drei weitreichende Konsequenzen: a) Verlust der Erfahrung, b) animierte Einsamkeit und c) verschwimmende Realität.

Zu a). Gefühle, die zunehmend online und durch Technologie vermittelt ausgelebt werden, werfen unweigerlich die Frage nach dem Absterben der Erfahrung auf. „Die Erfahrung des Verlusts der Erfahrung ist eines der ältesten Motive der Kritischen Theorie“, wie Martin Jay angemerkt hat. Das könnte die bündigste Formulierung für den tiefen kulturellen Umbruch sein, dessen Zeugen und Akteure wir sind. „Etwas von historischen Ausmaßen hat tatsächlich die Möglichkeit von Erfahrung untergraben.“ Für die Frankfurter Schule bilden Verding­lichung und Entfremdung, der Verlust des Erzählens, die Unverständlichkeit massiver historischer Schocks, die Technisierung des menschlichen Lebens, der Verlust der auratischen Qualität menschlicher Begegnungen gleichermaßen Symbole wie Ursachen des Erfahrungsverlusts. Wenn Erfahrung bedeutet, dass wir menschlichen Wesen begegnen, die von uns verschieden bleiben, dass wir die Welt mit den Sinnen erfassen, dass wir auf Hindernisse und Widerstände gegen unseren Willen stoßen und uns auf Interaktionen einlassen, die nicht vorherbestimmt sind, dann ist es offensichtlich, dass Erfahrung in diesem mehrfachen Sinne verkümmert und wir zunehmend mit unserem eigenen Selbst interagieren.

Die Emotionalisierung des Selbstseins führt dazu, dass wir die reale Welt und die Erfahrung weniger brauchen, weil wir uns selbst und die Welt weiterhin spüren. Der Grund, warum wir diese Tatsache im Großen und Ganzen gar nicht bemerken, besteht darin, dass die Welt der Technologie eine entzauberte Welt wieder zu verzaubern scheint: Smileys, magische Algorithmen, Sofortsuchen, märchenhafte Avatare, virtuelle Lieben und Freundschaften – das alles scheint die Technologie mit einigen lange erträumten übermenschlichen Kräften auszustatten.

Der andere Grund, warum wir blind für das Verkümmern der Erfahrung sind, ist, dass sich diese Welten immer um das Du drehen. Für die Kritischen Theoretiker war die Welt der Technologie entmenschlichend, und wir büßten unsere Subjektivität in ihr ein. Das Gegenteil aber ist eingetreten. Wenn wir den Wirtschaftsmotor des Technokapitalismus speisen, dann sind wir es, unser Selbst, unsere Emotionen, unsere Subjektivität, die wir permanent erfahren. Kein Wunder also, dass sich eine Welt ohne Erfahrung so real anfühlt.

Zu b). Einsamkeit könnte die am besten belegte Auswirkung von Technologie sein. Das liegt natürlich daran, dass sie die Freizeit privatisiert wie nie zuvor in der Geschichte, noch entscheidender aber daran, dass sie vom Wunsch, Zeit mit anderen zu verbringen, abzulenken scheint, was ein ganz neues soziologisches Phänomen ist und eines, das Émile Durkheim überrascht hätte, für den Einsamkeit eine Anomie erzeugte. Die Geselligkeit geht seit den Sechzigerjahren langsam zurück: „Von 2003 bis 2023 fiel sie um über 20 Prozent, glaubt man dem American Time Use Survey (. . .). Unter unverheirateten Männern und Menschen unter 25 Jahren betrug der Rückgang mehr als 35 Prozent.“ Dies als bloße Einsamkeit zu beschreiben, träfe es nicht. Es ist eine animierte Einsamkeit, in der sich das Selbst in einer Vielfalt virtueller Interaktionen und Welten engagiert. Auch hier handelt es sich um ein emotionales Engagement, das einen schmerzfreien Rückzug von der Welt ermöglicht. Weil die virtuelle Welt durch seine Gefühle im Selbst lebt, wird sie als eine soziale Welt empfunden, die genau genommen in Konkurrenz zur herkömmlichen Geselligkeit tritt und sie sogar ersetzt.

Zu c). Zuletzt bedeuten das Verkümmern der Erfahrung und die Erzeugung autarker Welten der virtuellen Interaktion nicht den Niedergang der Authentizität. Im Gegenteil. Die Realität ist durch die Vorführung von Authentizität ersetzt worden. Wir haben schon viel über Informationsblasen und Fake News gehört. Aber sie sind nicht der entscheidende Weg, auf dem unser Zugang zum Realen deformiert worden ist. Er ist deformiert, weil wir eine vorgeführte Authentizität der Realität vorziehen. Noch einmal Martin Jay: „Im ‚Jargon der Eigentlichkeit‘ sollte [Adorno] die Bemühungen der zeitgenössischen Adepten der Lebensphilosophie um eine Wiederverzauberung der Welt verspotten: ‚In der universal vermittelten Welt ist alles primär Erfahrene kulturell vorgeformt.‘“ Authentizität ist heute ein mächtiges Instrument, um die Grenze zwischen Realem und Fake zu verwischen. In der Authentizität haben wir die Realität in das emotionale Erleben von Authentizität verwandelt.

Doch die bloße Tatsache, dass wir alle heute Abend hier sind, dass ich einige von Ihnen gelangweilt, beunruhigt oder beklommen gemacht habe, ist ein Zeichen dafür, dass die Realität, Interaktionen von Angesicht zu Angesicht ihr letztes Wort noch nicht gesprochen haben. Wir sollten also auf der Realität der Erfahrung bestehen, auf dem Vorzug der Schein­heiligkeit alltäglicher Interaktionen vor der vorgeführten ­Authentizität und auf einer Welt, die sich unseren Wünschen widersetzt. Vor allem sollten wir darauf bestehen, unsere Gefühle unproduktiv zu machen. Bedenken wir nur für einen Moment die Schönheit, die darin liegt, uns nicht zu verändern, zu messen oder zu verbessern. Um unsere Welt zu be­wahren, müssen wir uns dagegen wehren, unser Selbst unentwegt arbeiten zu lassen.

Eva Illouz lehrt Soziologie in Jerusalem. Ihr Text entstand unter Mitarbeit von Jonas Ferdinand und wurde am 4. Februar als „Stuttgarter Zukunftsrede“ im dortigen Literaturhaus gehalten. Nächste Woche erscheint er als Buch bei Klett-Cotta.

Aus dem Englischen von Michael Adrian.