THEO VAN GOGH KULTUR-SICHT : DAS „ABENDLAND“ KAM AUS DEM „MORGENLAND“ MESOPOTAMIENS  = AUS UR & NINIVE & DEM EDEN DES MASHREQ / Dem Untergang von Beidem entspringen Trauer &  Melancholie der Romantik: „…Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren / wenn man aus Märchen und Gedichten erklärt die wahren Weltgeschichten“ (NOVALIS) / Magnus Klaue weiss das aber nicht!

LORD BYRON – Romantiker des Ostens

Von Magnus Klaue DIE WELT  21-4-24 – George Gordon Lord Byron (1788 bis 1824)

Was ist eigentlich das Abendland? Lord Byron, weltberühmter Dichter, Spross des englischen Hochadels und sexueller Abenteurer, hatte auf diese Frage eine Antwort, die heute überraschend klingt. Vor 200 Jahren starb er im griechischen Unabhängigkeitskampf.

Gerade einmal 36 Jahre alt war George Gordon Noel, 6. Baron Byron, geborener George Gordon Byron, als er am 19. April 1824 im griechischen Messolongi an den Folgen einer Unterkühlung starb. Ein Jahr zuvor hatte er sich entschieden, Griechenland im Unabhängigkeitskrieg gegen das Osmanische Reich zu unterstützen und sich trotz seiner psychisch und körperlich labilen Konstitution an den Kampfhandlungen zu beteiligen. Infolge eines medizinisch notwendig gewordenen Aderlasses geschwächt, erlag er zwar unmittelbar eher der Kälte als dem Krieg, wird aber trotzdem in Griechenland wie in Großbritannien bis heute als Unabhängigkeitskämpfer verehrt.

INach Ende des Türkisch-Griechischen Krieges 1922 gab sich die südöstlich von Athen gelegene attische Gemeinde Vyronas ihren Namen in Anlehnung an Byrons Familiennamen, und obwohl sein Leichnam nach England überführt und in Hucknall in der Grafschaft Nottinghamshire beigesetzt worden ist, wird Lord Byron, wie sein Autorenname als Lyriker lautete, in seiner Heimat ebenso als Philhellene wie als Brite erinnert.

Dass sich in dieser Erinnerung Realhistorisches und Imaginäres, Fantasie und Biografie eng miteinander verbinden, ist durch Byrons früh abgebrochene Lebensgeschichte begünstigt worden, die wie die Räuberpistole aus einem Abenteuerroman der romantischen Epoche klingt, der er angehörte. Im Gegensatz zur exemplarischen Lebensgeschichte des Bürgers, die zu erzählen deshalb Zeit braucht, weil sie komplex, verweisungsreich und sinnerfüllt im Besonderen das Allgemeine widerspiegelt, ist die romantische Biografie deshalb schwer zu erzählen, weil sie zwar oft kurz, aber verwildert ist und aus einem Dickicht von Angefangenem und Unvollendetem, Vergeblichem und Improvisiertem besteht.

Ruch des Stigmatisierten

In diesem Dickicht verflochten sind bei Byron zur Erquickung seiner späteren neuromantischen Bewunderer nicht nur Dichtung und erotische Exzesse, sondern auch verschiedene Milieus: Aristokratie und Bohème, Republikanismus und Konservatismus. Enkel eines britischen Admirals und Sohn eines Gardehauptmanns der Armee, dem Hochadel angehörend und Absolvent der besten englischen Schulen (er besuchte das Trinity College in Cambridge), musste sich Byron nie Sorgen um den ökonomischen Selbsterhalt machen und konnte ein Leben in Müßiggang und Luxus führen.

Zugleich, und zum Teil deshalb, haftete ihm lebenslang der Ruch des Stigmatisierten, des poète maudit, an, den er teils erlitt, teils selbst beförderte. Weil er eine angeborene Behinderung, einen Klumpfuß, hatte, fühlte er sich in den adligen Zirkeln, in denen er sich nicht nur qua Herkunft, sondern gerne aufhielt, buchstäblich als Fremdkörper, unfähig zu jener Eleganz und Geschmeidigkeit, die sein poetisches Ideal war. Seine homosexuellen Neigungen, die er in der Liebe zu dem Chorsänger John Edleston spürte, dem er in Cambridge begegnet war, machten ihn im damaligen England, wo auf praktizierte Homosexualität die Todesstrafe stand, zum Außenseiter und nötigten ihn zu einem ständigen Versteckspiel.

Gleichzeitig erregten seine Affären mit Frauen, vor allem die 1813 begonnene Liebesbeziehung mit seiner Halbschwester Augusta Leigh, Aufsehen und festigten seinen Ruf als androgyn-dekadenter Dichter, der sich auch in seinen Werken, etwa in dem 1817 erschienenen dramatischen Gedicht „Manfred“, reflektierte, das bis heute sein bekanntestes und dessen Protagonist ein vampirischer, ätherischer, todesverfallender Geisterseher ist.

Byrons Neigung zum Gothic Horror, die sich durch die Freundschaft mit Percy und Mary Shelley, der Autorin von „Frankenstein“, verfestigte, mit denen er Wettbewerbe im Geister- und Vampirgeschichtenschreiben veranstaltete, hat Motive des Dekadenzliteratur des späten 19. Jahrhunderts vorweggenommen. Zu diesen gehören der Kultus um den Dichter als Bohemien und Dandy, um Homosexualität und Inzest, die Byron als das Andere der bürgerlichen Ehe glorifizierte, sowie die Verbindung von Aristokratismus und Libertinage.

Der politische Byron

Dass Byron schon früh ein politisch tätiger Mensch war, steht seiner Neigung zur ornamentalen Wucherung ästhetischer Fantasie nur scheinbar entgegen. Schon 1808, als Zwanzigjähriger, erhielt er seiner Herkunft wegen einen Sitz im House of Lords und unternahm, teils als Politiker, teils als Privatmann, Reisen nach Spanien, Malta, Albanien und Griechenland, weil er im „Osten“, wie er diesen Teil des europäischen Südens nannte, nicht nur die politische Ordnung, sondern speziell die Lebensbedingungen Homosexueller für liberaler denn in seiner Heimat befand.

1816 übersiedelte er nach Venedig, wo er auf der Insel San Lazzaro degli Armeni bei Harutiun Avgerian wohnte, einem armenischen Wissenschaftler, mit dem er eine englischsprachige armenische Grammatik verfasste. In diesen Zeitraum fällt Byrons durch die Beschäftigung mit der Verfolgungsgeschichte der Armenier geschärfte Vorstellung, dass das Abendland, dessen Dichtung ebenso wie dessen Kulturraum er sich nahe fühlte, nicht mit Westeuropa identisch sei, sondern sich Okzident und Orient im Mittelmeerraum vielfältig, aber auch konfliktreich verflochten.

Die Sphäre jener Verflechtung, zu der für Byron nicht nur Griechenland, sondern auch Spanien und Italien zählten, nannte er kontraintuitiv „Osten“, womit weniger ein realer geografischer Raum als ein imaginativ aufgeladener Kulturraum bezeichnet war, den Byron als Ort einer möglichen Verbindung, aber auch unvermeidlicher Konflikte zwischen Abend- und Morgenland ansah.

Obgleich er, darin ganz und gar romantisch, in den Kategorien von organisch entstehenden Kulturen statt von Gesellschaften dachte und die Kulturen sich für ihn in Form ihrer Poesie und ihrer Künste ausdrückten, weshalb er sich für die realen Bedingungen der Entstehung von republikanischer Staatlichkeit kaum interessierte, ergriff er auf der Grundlage solchen Kulturdenkens in den internationalen politischen Konflikten seiner Zeit Partei für die Idee bürgerlicher Nationalstaatlichkeit.

Der Philhellene

Vorspiel für Byrons Wende zum Philhellenismus war seine um 1820, als er sich dem Geheimbund der Carbonari anschloss, vollzogene Selbstbekehrung zur italienischen Einigungsbewegung. Die Carboneri strebten im Zuge des Risorgimento die Umwandlung der nebeneinander bestehenden italienischen Fürstentümer in einen Nationalstaat an, wie sie lange nach Byrons Tod 1861 mit Gründung des Königreichs Italien als konstitutionelle Monarchie besiegelt wurde. Die Unterstützung der Griechen gegen das Osmanische Reich, der sich Byron drei Jahre später anschloss, folgte einer ähnlichen Logik: der Verteidigung der Idee des Nationalstaats gegen die des Reiches und der bürgerlichen Freiheitsrechte gegen äußere Bedrohungen.

MARY SHELLEY

Als ihre Welt für immer unterging

Aber der Philhellenismus, zu dessen Anhängern viele englische Dichter gehörten, dessen Zentrum aber Genf war, wurde neben solchen mehr oder weniger realpolitischen Erwägungen mindestens ebenso von restaurativen ästhetischen Sehnsüchten angetrieben. So sahen viele Philhellenen die Alten Sprachen – das Altgriechische noch mehr als das Lateinische – als Grundlage abendländischer Zivilisation an, die insbesondere durch das Englische in seiner amerikanischen Erscheinungsform gefährdet sei. Dass England ein Zentrum des Philhellenismus war, hatte auch mit einem Bedürfnis der englischen Romantik nach stärkerer Rückbindung des Englischen an die Alte gegen die „kosmopolitisch“ verflachte Neue Welt zu tun.

In diesem Sinne war Byrons Philhellenismus eher kultur- als realpolitisch motiviert und brachte eine nostalgisch-projektive Aufladung von Griechenland als Wiege der Zivilisation zur Geltung, die ebenso gegen den im Osmanischen Reich verkörperten Orient wie gegen die in Amerika verkörperte Neue Welt gerichtet war. Deshalb ist der Beitrag Byrons zur politischen Geschichte der griechischen Unabhängigkeit nicht überzubewerten. Es handelte sich dabei weniger um einen Kampf für politische Rechte als um einen idealistischen Kampf für die Verwirklichung einer poetisch-politischen Fantasie, in dem sich weit eher die Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Zuständen im damaligen England als eine Identifikation mit griechischen Befreiungskämpfern Ausdruck verschaffte.