THEO VAN GOGH ISRAEL/DEUTSCHLAND – AUFARBEITUNG VON VERBRECHEN DURCH VERBRECHEN! /EINE DOKUMENTATION
Welche Verantwortung trägt Deutschland?
Recherchen der ZEIT zeigen, wie sehr sich die Ampelregierung bemühte, Waffen an Israel zu liefern. Ohne die Öffentlichkeit zu informieren
Von Kai Biermann, Alice Bota, Luisa Hommerich, Luise Land, Christina Schmidt und Pia Schreiber – ZEIT Nr. 35/2025 Aktualisiert am 14. August 2025, 9:51 Uhr
Welche Verantwortung trägt Deutschland? –
Der Matador-Raketenwerfer ist eine mächtige Waffe: ein Rohr aus Fiberglas, ein Meter lang, 7,5 Kilogramm schwer. Ein Soldat legt ihn sich auf die Schulter, entsichert, drückt ab und kann mit dem Geschoss Panzer oder Wände durchschlagen. Die perfekte Waffe für den Häuserkampf.
Gefertigt wird der Matador in Burbach im Siegerland, in deutsch-israelischer Kooperation, von der Firma Dynamit Nobel Defense. Zu den Abnehmern gehörte schon in der Vergangenheit die israelische Armee (Israel Defense Forces, IDF). Die Waffe wird aktuell im Gazakrieg eingesetzt. Nach Informationen der ZEIT genehmigte die Bundesregierung unter Olaf Scholz noch in der zweiten Jahreshälfte 2024 eine Ausfuhr nach Israel – zu einem Zeitpunkt also, als den IDF längst Kriegsverbrechen vorgeworfen wurden. Doch Kritik der Öffentlichkeit glaubten die Entscheider nicht fürchten zu müssen. Sie hatten vorgesorgt.
Rüstungsexporte sind in Deutschland grundsätzlich Verschlusssache. Bei Waffenverkäufen ins Ausland geht es immer um militärische Details und diplomatische Rücksichtnahmen, das braucht Vertraulichkeit. Besonders bei Rüstungsgeschäften mit Israel. Sie zählen zu den heikelsten Fragen der deutschen Politik.
Gestützt auf als geheim eingestufte Dokumente und Gespräche mit rund 20 Beteiligten, die alle auf Anonymität bestanden, erlaubt eine Recherche der ZEIT jetzt erstmals Einblicke in die Entscheidungsprozesse der Ampelkoalition zu Waffenlieferungen an Israel nach den Terrormassakern der Hamas vom 7. Oktober 2023.
Die Recherche zeigt ein Gewirr aus politischen Abwägungen, juristischen Bedenken, diplomatischem Druck, Machtkämpfen, Gewissensnot und Gremientricksereien, alles ausgetragen auf der Hinterbühne. Mit einem Ziel: Israel mit Waffen zu versorgen, ohne die Öffentlichkeit zu informieren.
Und das, obwohl es dabei um Fragen geht, die das Selbstverständnis der Bundesrepublik im Innersten berühren. Konkret: Was folgt aus der historischen deutschen Schuld am Holocaust – bedingungslose Unterstützung Israels? Oder die bedingungslose Einhaltung des Völkerrechts?
Im Zentrum steht eine streng geheime Runde, die für die Genehmigung besonders heikler Waffenexporte zuständig ist: der Bundessicherheitsrat. Unter Eingeweihten heißt der Rat nur das “große Gremium”. Getagt wird im Kanzleramt in abhörsicheren Räumen, wer Inhalte nach außen trägt, macht sich strafbar.
Der Kreis der Teilnehmer ist klein: Neben dem Bundeskanzler und seinem Kanzleramtschef sind nur die wichtigsten Ministerinnen und Minister dabei – Innen und Außen, Verteidigung, Finanzen, Justiz, Wirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit.
Daneben aber, das zeigt die Recherche, gab es weitere Player mit erheblichem Einfluss. Jens Plötner etwa, damals sicherheitspolitischer Berater des Kanzlers. Und andere hohe Ministerialbeamte. Die einen trieben, die anderen bremsten.
Unumstritten war nur eines: Deutschland würde Israel mit U-Booten aus deutschen Werften versorgen. Diese Boote sind für die Selbstverteidigung Israels gegen potenzielle nukleare Angriffe essenziell, ihre Lieferung ist Kern der deutschen Staatsräson.
Es ist dasselbe politisch extrem aufgeladene Umfeld, in dem nun auch Bundeskanzler Friedrich Merz seine Entscheidungen zu Waffenlieferungen an Israel treffen muss.
Zu Zeiten der Ampel wurden aus Deutschland nur überschaubare Mengen an kompletten Kriegswaffen nach Israel geliefert. Zugleich aber viele Waffenteile, ohne die israelische Panzer nach Einschätzung früherer Mitglieder der Bundesregierung irgendwann womöglich nicht mehr hätten rollen können. Im Jahr 2024 wurden Anträge für Rüstungsgüter im Wert von etwa 160 Millionen Euro genehmigt, ein Vielfaches mehr als im Jahr vor dem Krieg.
Erste Risse in der Haltung der Bundesregierung
Unmittelbar nach dem Angriff der Hamas herrschte in der Ampel Einigkeit: Deutschland werde Israel gegen die Terroristen unterstützen, auch mit Waffen. Im selben Monat genehmigte Berlin Rüstungsexporte in erheblichem Umfang, etwa 500.000 Schuss Gewehrmunition und 3.000 Matador-Raketenwerfer.
Schon bald jedoch, im Frühjahr 2024, wuchsen die Zweifel an Israels Kriegsführung, vor allem im Außen- und im Wirtschaftsministerium, beide von Grünen geführt. Es gab Berichte über hohe Zahlen ziviler Opfer, der UN-Hochkommissar berichtete über mutmaßliche Kriegsverbrechen. Zudem verkomplizierten mehrere Gerichtsverfahren die Lage: Ende Januar 2024 verpflichtete der Internationale Gerichtshof in Den Haag Israel zu Sofortmaßnahmen, um einen eventuell drohenden Völkermord zu verhindern. Im März verklagte Nicaragua die Bundesrepublik wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen. Und ab April versuchte die Menschenrechtsorganisation ECCHR, Waffenexporte nach Israel per Eilverfahren vor dem Berliner Verwaltungsgericht zu stoppen.
Wohl unter dem Eindruck dieser Verfahren zeigten sich erste Risse in der Haltung der Bundesregierung. Von März 2024 an wurde im Auswärtigen Amt selbstständig entschieden, bestimmte Ersatzteile für Israels Armee nicht mehr freizugeben – offenbar ohne Wissen des Kanzleramts. Nur das Wirtschaftsministerium soll eingeweiht gewesen sein. Staatssekretäre in diesen beiden Ministerien dürfen Produkte, die als unheikel gelten, ohne den Bundessicherheitsrat durchwinken. Jetzt aber wurden die Anträge einfach nicht bearbeitet – nach Recherchen der ZEIT eine bewusste Verschleppungstaktik, die mit dem Vorgehen der israelischen Armee in Gaza begründet wurde. Die Verantwortlichen wollen sich auf Nachfrage dazu nicht äußern. Bei den Grünen heißt es nur: Angesichts der Haltung von SPD und FDP habe man wohl keine andere Chance gesehen, die Waffenlieferungen zu drosseln.
Im damals von Annalena Baerbock geführten Auswärtigen Amt nahmen die Juristinnen und Juristen offenbar besonders die Klage Nicaraguas ernst. Nach dem Völkerrecht dürfte die Bundesrepublik keine Waffen nach Israel exportieren, wenn sie Kenntnis davon hätte, dass diese für Kriegsverbrechen verwendet werden. Oder falls durch sie ein hohes Risiko schwerer Verletzungen des Völkerrechts bestünde. Ende März wies der Internationale Gerichtshof den Eilantrag Nicaraguas allerdings ab. Begründung: Die Bundesrepublik habe ihre Rüstungsexporte bereits stark reduziert. Die Verschleppungstaktik hatte Deutschland womöglich juristisch genützt. Politisch folgte prompt der Gegendruck.
Im Sommer 2024 meldeten sich israelische Regierungsvertreter in Berlin. Seit Monaten waren keine Anträge bewilligt worden. Jetzt bat Israel um neue Panzermunition, 50.000 Schuss. Das geht indirekt aus einer E-Mail von Anfang August 2024 hervor, die an mehrere Ministerien ging. Besonders dringend, so die Israelis, würden Ersatzteile für Panzer gebraucht.
Ob ein Teil der israelischen Offensive zum Stillstand gekommen wäre, falls Deutschland nicht geliefert hätte, lässt sich kaum sicher sagen. Mehrere Ex-Mitglieder der Bundesregierung, mit denen die ZEIT sprach, gingen davon aus, dass Israels Merkava-Panzer auf Getriebe-Ersatzteile des deutschen Herstellers Renk angewiesen seien. Die erbetene Panzermunition hingegen habe Israel auch von den USA bekommen können.
Dennoch entbrannte in der Koalition ein Streit. Er lässt sich nicht lückenlos rekonstruieren. Beteiligte können oder wollen sich teils nicht an konkrete Zeiten und Orte erinnern. Übereinstimmend sagen sie jedoch, das Kanzleramt habe gedrängt, die Rüstungsexporte wieder hochzufahren. Lediglich die Außenministerin habe in verschiedenen Runden vehement dagegen argumentiert: Die Genehmigungen seien juristisch heikel, es drohten Niederlagen vor deutschen Verwaltungsgerichten.
Finanzminister Christian Lindner (FDP) und sein Staatssekretär Steffen Saebisch sollen dagegen mit Israels Recht auf Selbstverteidigung argumentiert haben: Das Land brauche die Panzermunition, um sich gegen die Terrormiliz Hisbollah im Libanon zu verteidigen. Und gegen Baschar al-Assad, der damals noch in Syrien herrschte.
Das Verteidigungsministerium lieferte ein weiteres Argument, das sich als ähnlich wichtig erweisen sollte. Es geht aus einem als geheim eingestuften Dokument hervor. Die deutsch-israelische Rüstungskooperation, heißt es darin, sei so eng, dass die Bundeswehr in einigen Bereichen, etwa der Luftverteidigung, von Israel abhängig sei. Stoppe man die Rüstungsexporte nach Israel, riskiere man das Ende dieser Sicherheitspartnerschaft – mit potenziell massiven Auswirkungen auf die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr.
Ein trickreicher Ausweg
Nach den Recherchen der ZEIT war es am Ende Jens Plötner, der den Grünen einen trickreichen Ausweg in zwei Schritten vorschlug: Der Berater des Kanzlers regte an, die Genehmigungen für Rüstungsgüter zu portionieren. Statt die Exporte auf einen Schlag zu bewilligen und damit eventuell die Öffentlichkeit aufzuscheuchen, solle, so der Vorschlag, fortan monatsweise abgenickt werden.
Zudem, zweiter Punkt des Plötner-Plans, könne man Israel bitten, der Bundesregierung die Beachtung des Völkerrechts zuzusichern. Auch das sollte offenbar die Gefahr einer juristischen Niederlage reduzieren. Solche Selbstverpflichtungen sind bei Rüstungsexporten nicht unüblich. Die Ukraine etwa musste versichern, deutsche Waffen nicht in Russland einzusetzen.
Weitergehende Forderungen an Israel wurden als realitätsfern verworfen. Man könne von den IDF nicht verlangen, deutsche Waffen überhaupt nicht mehr in Gaza einzusetzen. Einen Panzer ohne deutsches Getriebe nach Gaza rollen zu lassen, einen mit deutschem Getriebe aber an der Grenze anzuhalten – das sei für die IDF nicht umsetzbar, habe es im Kanzleramt geheißen. Ende Juli oder Anfang August sprach Plötner mit dem israelischen Botschafter und bat um die gewünschte Zusicherung.
Bei einer Waffe ging die Bundesregierung sogar zweifelsfrei davon aus, dass sie in Gaza eingesetzt werden würde: dem Matador-Raketenwerfer. Damit, so soll das Kanzleramt argumentiert haben, könnten die Israelis gezielter gegen die Hamas vorgehen. Ob sich diese Hoffnung bestätigt hat, ist unklar. Der ZEIT liegen Videos aus dem Gazastreifen vor, auf denen israelische Soldaten lachend mit Matador-Waffen auf Wohnhäuser feuern.
Monate nach Plötners Bitte traf schließlich die Selbstverpflichtung aus Tel Aviv in Berlin ein. Das englischsprachige Schreiben vom 8. Oktober 2024 ist unterzeichnet von Ejal Samir, damals Generaldirektor des israelischen Verteidigungsministeriums. Heute ist er Chef der IDF. Der entscheidende Satz lautet nach Informationen der ZEIT: “Wir können versichern, dass alle aus Deutschland gelieferten Waffen oder sonstigen Rüstungsgüter oder solche, die Teile aus Deutschland enthalten, ausschließlich im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht verwendet werden.” Eine Versicherung, keine deutschen Waffen in Gaza einzusetzen, enthält das Schreiben nicht.
Mittlerweile war bis zur Opposition durchgedrungen, dass sich manche Lieferungen monatelang verzögert hatten. Am 10. Oktober warf der damalige Oppositionsführer Friedrich Merz Bundeskanzler Scholz im Bundestag vor, Israel “Material und Munition” zu verweigern. Scholz wirkte angefasst, als er spontan ans Mikrofon trat. “Wir haben Waffen geliefert, und wir werden Waffen liefern”, sagte er. Und: “Wir haben Entscheidungen getroffen in der Regierung, die auch sicherstellen, dass es demnächst weitere Lieferungen geben wird.” Heute heißt es aus Kreisen der damaligen Regierung, Scholz habe die Matador-Raketenwerfer gemeint.
Mehrere Mitglieder der Ampelregierung sagen im Rückblick, Scholz habe damals im koalitionsinternen Streit deutlich gemacht, er sei bereit, von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch zu machen. Mit dieser Drohung hat der Kanzler wohl den Widerstand von Baerbock und Habeck gebrochen. Hinzu kamen der Druck der Opposition und der Bild-Zeitung sowie die ersten Anzeichen eines drohenden Regierungsbruchs. Deshalb habe es “bei dem Thema viel zu verlieren und wenig zu gewinnen” gegeben, sagt ein ehemaliges Regierungsmitglied im Rückblick.
Danach war der Weg frei. Jens Plötner, heißt es, habe die Exportverfahren für Israel nach einer Besprechung im Sicherheitskabinett nochmals angekurbelt – mit einer E-Mail vom 26. Oktober, zehn Tage vor dem Bruch der Ampelkoalition.
Genehmigt wurden: eine unbekannte Zahl Matador-Raketenwerfer. Einige Hundert Renk-Getriebe für Merkava-Panzer, monatsweise portioniert. Und große Mengen an Ersatzteilen. Aus einer als geheim eingestuften Liste, auf der Rüstungsunternehmen aufgeführt sind, die 2024 Exportgenehmigungen für Israel erhielten, lässt sich rückschließen, was wohl dabei war: Panzerungen für Fahrzeuge, Sensoren für Überwachungssysteme, Ventile für Kriegsschiffe. Manches bleibt unklar. Auch die Firma Rheinmetall Waffe Munition bekam 2024 demnach eine Genehmigung. Sie stellt unter anderem Artilleriegeschosse und Panzerkanonen her.
Viele Details lassen sich derzeit nicht rekonstruieren. Vor allem nicht, wer wann welche formellen Genehmigungen erteilt hat. Das war womöglich beabsichtigt. Das Ampel-Kapitel der Waffenlieferungen nach Israel endet mit einer Verschleierung. Eigentlich muss der Bundessicherheitsrat seine Entscheidungen dem Wirtschaftsausschuss des Bundestages mitteilen, in geheimen Berichten. Doch in diesen Geheimberichten tauchte Israel seit Kriegsbeginn nur ein einziges Mal auf: Ende 2023, nachdem die Lieferung eines U-Bootes genehmigt worden war. Alle anderen Entscheidungen zu Exporten nach Israel fehlen. Über die Sitzung des Bundessicherheitsrats am 11. November 2024, der mutmaßlich letzten der Scholz-Regierung, gibt es wohl nicht einmal einen Bericht.
Details über Waffenlieferungen nach Israel waren damit de facto der parlamentarischen Kontrolle entzogen. Die Ampelkoalitionäre wendeten dafür einen bürokratischen Trick an: Statt im Bundessicherheitsrat zu entscheiden, formulierten sie dort oder in ähnlichen Runden bloß Leitlinien und wiesen die Referate in den Ministerien an, nach diesen zu handeln. Auf diese Weise, so die Auffassung von damaligen Mitgliedern der Bundesregierung, sei man niemandem Rechenschaft schuldig.
Mitarbeit: Tina Hildebrandt, Yassin Musharbash, Petra Pinzler und Holger Stark