THEO VAN GOGH  GASTKOMMENTAR. Die Zeitbombe eines umfassenden Konflikts mit Taiwan wird noch zu Xi Jinpings Amtszeit explodieren. Darauf sollte die Welt gefasst sein

Chinas kriegsähnliche Militärmanöver rund um die «abtrünnige» Insel Taiwan sind vorbei. Sie waren keineswegs eine spontane Reaktion auf den Besuch von Nancy Pelosi, sondern schon länger vorbereitet. Es fragt sich, was genau sie bezweckten und was die Folgen sind.Junhua Zhang14.08.2022, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Auch Taiwan übt für einen möglichen Krieg – Artilleriegeschosse sinken über dem Meer nieder.

Es ist nicht zu übersehen, dass die chinesische Führung mit ihren grossangelegten Militärmanövern zu Luft, zu Wasser und im Cyberspace einen Angriff auf Taiwan simuliert hat. Die Übung einer Umzingelung der «abtrünnigen» Insel war seit langem vorbereitet und gut organisiert, sie erregte weltweit Aufsehen. Die Frage ist, was Xi Jinping damit über das Austesten der militärischen Fähigkeiten hinaus beim heimischen wie beim internationalen Publikum bezweckt hat.

Das Ausmass der Warnungen und Einschüchterungen, welche Peking im Vorfeld des seit Frühjahr angekündigten Taiwan-Besuches von Nancy Pelosi aussprach, war beispiellos in der Geschichte der chinesischen Diplomatie. Dennoch liess sich Pelosi nicht beeindrucken und absolvierte ihren Besuch bei der taiwanischen Präsidentin Tsai Ing-wen. Dies geschah nur drei Monate vor dem 20. Nationalkongress der Kommunistischen Partei Chinas, was Xi Jinpings Image als «grosser Führer» seines Landes zweifellos beschädigt hat.

Pekings Zorn, Taipehs Zurückhaltung

Für Xi Jinping steht sehr viel auf dem Spiel, denn er will auf dem Kongress in der Grossen Halle des Volkes für eine längere Periode zum Führer gewählt werden. Zum einen muss er um sein Ansehen innerhalb der Partei bangen. Kritik an seiner Politik kursierte intern auch vor Pelosis Besuch, sowohl in der Aussenpolitik wie in der Wirtschaftspolitik. Nun droht die Stippvisite der ranghohen Amerikanerin seinen Plan für die dritte Amtszeit als Parteichef zu torpedieren.

Zum anderen muss er dem scharfen Urteil der vielen «patriotischen» Chinesen standhalten. Die Mehrheit der Festlandchinesen, insbesondere die junge Generation, ist nach jahrzehntelanger Gehirnwäsche daran gewöhnt, zumindest verbal eine radikale Haltung gegenüber Taiwans «Unabhängigkeitsbestrebung» einzunehmen.

Es führt in die Irre, zu glauben, dass Xi Jinpings Position derzeit schon so geschwächt sei, dass der 20. Parteitag zum Flop werden könnte.

Dank den verschärften Militärübungen sowie einigen ökonomischen Massnahmen zur «Bestrafung» Taiwans und der USA ist es Xi Jinping offenbar gelungen, seine Position zu festigen. Zumindest gegen innen kann er behaupten, eine «rechtzeitige und starke Antwort» auf die «Provokation» Pelosis und der taiwanischen Regierung gegeben zu haben. Allerdings ändert dies nichts an der Tatsache, dass es um seinen aussenpolitischen und ökonomischen Leistungsausweis dürftig bestellt ist. Mit seinem Einmarsch in die Ukraine ist der beste Freund Wladimir Putin zum Problemfall geworden, und die Null-Covid-Politik hat mit den damit verbundenen Disruptionen den chinesischen Wirtschaftsmotor arg ins Stottern gebracht.

Des Weiteren hatten die Kriegsspiele über Taiwan das Ziel, der taiwanischen Regierung zu signalisieren, dass nicht Washington, sondern Peking Herr der Taiwan-Strasse ist und Amerika ausserstande, den Inselstaat militärisch wirkungsvoll zu schützen. Tatsächlich scheint die Militärübung zu belegen, dass Chinas Volksbefreiungsarmee sehr wohl befähigt ist, den Zugang zur Insel zu kontrollieren und eine umfassende Blockade zu errichten. Seit der Militärreform von 2015 wähnt die Volksbefreiungsarmee (PLA) sich in der Lage, integrierte Operationen durchzuführen und die Wiedervereinigung mit Gewalt zu erzwingen.

Peking konnte auch deshalb unbehindert seinem Ärger Ausdruck verleihen, weil Taipeh sich extrem zurückhielt. Der Zwang, passiv zu bleiben, war für die taiwanische Regierung de facto demütigend. Nicht nur lagen Taiwan die sechs Übungsgebiete direkt vor der Nase, es kam auch ein chinesisches Kriegsschiff bis zu zehn Kilometer an die Küste heran, und von den elf Ostwind-Raketen, die die chinesische Luftwaffe am 4. August abfeuerte, flogen vier quer über die Insel. Dieses Manöver war eindeutig als eine Verhöhnung der Souveränität Taiwans gedacht. Es soll sich in Zukunft an Manöver solchen Kalibers gewöhnen.

Es wird wieder Ruhe einkehren

Natürlich waren auch die USA Adressat. In der Strasse von Taiwan, so das Signal, verfügt China über den Standortvorteil. Die immer besser werdende militärische und technologische Ausrüstung der chinesischen Volksarmee sowie ihre Fähigkeit zur koordinierten Kriegsführung geben China militärisch die Oberhand. Selbst die gefürchteten US-Flugzeugträger entfalten keine abschreckende Wirkung mehr.

Aus Xi Jinpings Sicht sind alle drei Ziele erreicht worden. Und natürlich sind ihm die Nebenwirkungen seiner militärischen Machtdemonstration wohlbekannt. So hat Taiwan als vorbildliches demokratisches System wohl noch nie so viel weltweite Aufmerksamkeit und Sympathie auf sich gezogen wie dieser Tage. Sodann hat Pekings Ansehen in den umliegenden Ländern, insbesondere in Japan und Südkorea, stark gelitten. Hinzu kommt, dass sich der aufgeschreckte Westen gedanklich auf einen möglichen Taiwan-Krieg vorbereitet und sich fragt, was er tun kann, um ihn zu verhindern.

Obwohl die Militärübungen noch nicht offiziell beendet sind, dürfte Peking zumindest in diesem Jahr keine aggressiven militärischen Schritte mehr unternehmen. Peking muss ein geopolitisches Umfeld schaffen, in dem China das massgebliche Glied in den globalen Lieferketten und ein wichtiger Standort für ausländische Investitionen bleibt. Xi selbst weiss um die innenpolitischen und wirtschaftlichen Friktionen, die grossenteils mit seiner «Null-Covid-Politik» einhergehen. Es ist deswegen sogar vorstellbar, dass China einzelne Sanktionen gegen Taiwan und die USA zurücknimmt. Es geht um die Gunst der Weltöffentlichkeit, aber auch um einen reibungslosen Verlauf des 20. Parteitags.

So oder so hat die Militärübung deutlich gemacht, dass Xi Jinping ein Drehbuch zur Wiedervereinigung der beiden China im Kopf hat. Xi hat wiederholt betont, dass «die Lösung der Taiwan-Frage und die vollständige Wiedervereinigung Chinas eine historische Mission und eine unerschütterliche Verpflichtung der Kommunistischen Partei Chinas darstellen».

Auch seine Vorgänger hatten im Sinn, dieser historischen Mission irgendwann nachzukommen, doch Xi Jinping setzt auf Dringlichkeit. Er will die Mission während seiner Amtszeit als Teil der nationalen Renaissance, aber auch als Teil seiner eigenen Ambition verwirklichen. Nicht zufällig stürmte in China der Pop-Song «Ich will im Jahr 2035 nach Taiwan reisen» die Charts. Aber auch die jetzige Militärübung «Taiwan-Blockade» ist eine Demonstration dieser Entschlossenheit.

Rückblickend ist es übertrieben, Nancy Pelosi persönlich für den ganzen Aufruhr verantwortlich zu machen. Denn auch ohne ihren Besuch hätten solche Militärmanöver früher oder später stattgefunden. Pelosis Solidaritätsvisite in Taipeh lieferte Peking dazu eine taugliche «Rechtfertigung». Schliesslich lässt sich eine Übung dieser Komplexität und Grössenordnung nicht in ein oder zwei Wochen planen. Die PLA hatte sich lange vor Pelosis Reiseplänen auf das Manöver vorbereitet.

Ist der Krieg vermeidbar?

Auch wenn es wieder ruhiger werden wird um Taiwan, wird die Zeit kommen, in der die Frage der Wiedervereinigung zum gefürchteten Grosskonflikt führen könnte. Die Uno-Resolution 2758, welche 1971 die Volksrepublik China als einzig rechtmässige Vertreterin des chinesischen Volkes anerkannte, enthält bereits prozedurale Bestimmungen. Sie geht jedoch nicht auf wichtige Details ein: Soll Taiwan unter der Prämisse eines einzigen China ganz selbstverständlich zu einer Provinz der Volksrepublik werden? Ein weiteres Manko der Resolution ist, dass sie keine Antwort auf die Frage gibt, wie man mit der De-facto-Existenz zweier getrennter und unabhängiger Staatswesen im Rahmen des «einen China» umgehen kann. Wenn es eine Wiedervereinigung geben soll, wie soll sie erfolgen?

Solange diese Fragen ungelöst bleiben, ist ein militärischer Konflikt in der Strasse von Taiwan unvermeidlich. Die Uno ist in ihrem Ist-Zustand nicht in der Lage, das Problem zu lösen. Zudem ist ein Konsens zwischen China und Taiwan derzeit völlig undenkbar. Sodann führt das wachsende Verantwortungsgefühl des Westens, allen voran der USA, für den demokratischen Inselstaat unvermeidlich zu einer Zunahme der Spannungen zwischen Taiwan und China. Angeheizt wird das Ganze durch die entschieden gegensätzlichen Charaktere und Wertvorstellungen von Xi Jinping und Tsai Ing-wen.

Die Frage ist dann nur noch, welche Form der Konflikt annehmen wird: Wird die Situation in eine militärisch-wirtschaftliche Blockade münden, oder wird es eine gewaltsame Rückeroberung, sprich einen umfassenden Krieg, geben?

Es führt in die Irre, zu glauben, dass Xi Jinpings Position derzeit schon so geschwächt sei, dass der 20. Parteitag für ihn nicht nur zum Flop werden, sondern dass er sogar abgewählt werden könnte. Im Gegenteil, der militärische Aufmarsch um Taiwan hat seine Macht gestärkt.

In den kommenden Jahren werden die folgenden Trends zur neuen Normalität werden: Taiwan unter Tsai Ing-wen wird sich weiterhin bemühen, auf internationalem Parkett diplomatische Durchbrüche zu erzielen, und aus dem westlichen Lager werden mehr Persönlichkeiten und Organisationen Taipeh ihre Aufwartung machen. Solch ständiger Besuchsverkehr wird Xi Jinpings Nerven stark strapazieren. China hat daher bereits damit begonnen, Europa davor zu warnen – in Kürze steht eine Reise von EU-Parlamentariern nach Taiwan an.

Die grosse chinesische Militärübung wiederum hat den sicherheitspolitischen Status quo erheblich verändert, da Schiffe und Flugzeuge der PLA künftig routinemässig östlich der bisher respektierten Mittellinie in der Meerenge trainieren werden. Auch als Fischerboote getarnte Schiffe oder Drohnen werden diese Grenze häufiger durchstossen. Und die taiwanischen Behörden werden sich den Kopf darüber zerbrechen, wie sie darauf reagieren sollen.

Mittelfristig haben ausländische Investoren noch ein paar Jahre Zeit, um, vom Krieg verschont, in China aktiv zu sein. Aber die Zeitbombe eines umfassenden Konflikts mit Taiwan wird noch zu Xis Amtszeit explodieren. Darauf sollte die Welt gefasst sein.

Junhua Zhang, 1958 in Schanghai geboren, ist Senior Associate am European Institute for Asian Studies (EIAS).