THEO VAN GOGH : DER PHILOSOPHDER BRD = HABERMAS VERLIERT DEN GLAUBEN / ROLLE RUCKWÄRTS?

Habermas versteht die Welt nicht mehr / Von  Moritz Rudolph veröffentlicht am 28 März 2024 philomag

Jürgen Habermas‘ Denkweg schien abgeschlossen: Von Marx über Hegel zu Kant, vom Umsturz der Verhältnisse zur Revolution der Denkungsart. Doch nun kommen ihm Zweifel.

Die meisten Philosophen durchlaufen Phasen. Ihr Werk ist von Aufbrüchen, Bekehrungserlebnissen und Enttäuschungen durchzogen und stellt die Interpreten vor die schwierige Aufgabe, alle Richtungswechsel in eine Geschichte zu packen. Für Jürgen Habermas schien diese Geschichte schon geschrieben. Der Meister selbst hatte sie lanciert, als er seinen Weg als Bildungsroman von Marx über Hegel zu Kant beschrieb: Auf die revolutionäre Stimmung der 1950er Jahre, irgendetwas sei in der Gesellschaft grundsätzlich schief angelegt, folgte der Versuch, deren Vernunft zu erkennen und sie mit systematischer Sammelleidenschaft auf den Begriff einer Theorie des kommunikativen Handelns (1981) zu bringen. Diese führte ihn schließlich über das Bestehende hinaus, ohne jedoch einen radikalen Bruch zu erzwingen: Mit Kant entdeckte Habermas in den 1990er-Jahren die Möglichkeit einer weltbürgerlichen Vernunft, die in Europa ihren Ausgang nimmt und irgendwann den gesamten Globus ergreift, der miteinander deliberiert und keine Kriege mehr führt.

 

Die Unvernunft der Wirklichkeit

Doch diese Erzählung bekommt nun Risse. In seinem neuen Buch Der Philosoph. Habermas und wir schildert Philipp Felsch einen Besuch bei Habermas in Starnberg im Herbst 2023. Felsch sei „geradezu bestürzt“ gewesen, wie resigniert dieser eigentlich „letzte Idealist“ auf ihn gewirkt habe: Europa, der Westen, die kommunikative Vernunft, die Überwindung des Krieges als Mittel der Politik – alles, wofür er gekämpft habe, gehe nun „Schritt für Schritt“ verloren, so Habermas.

 

Deutet sich hier erneut eine Wende in seinem Denken an? Treten Vernunft und Wirklichkeit, die er als weitgehend versöhnt betrachtet hatte, wieder auseinander? Dieser Eindruck entstand bereits in seinem letzten Buch über den neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit (2022). Habermas, der lange an der Möglichkeit einigermaßen vernünftiger Verständigung festhielt, trat nun plötzlich als Verfallsdiagnostiker auf: Die Digitalisierung der Öffentlichkeit bewirke eine Einigelung in Filterblasen, ein Auseinandertreten der Wahrheitsansprüche und einen schwindenden Konsens über die Grundlagen von Welt und Handeln. Die Vernunft werde von den „wüsten Geräuschen“ einer beschädigten Kommunikation übertönt.

Das klang nun gar nicht mehr kantianisch, nicht einmal hegelianisch, und auch nicht marxistisch. Habermas schien in ein neues Denkstadium eingetreten zu sein, das andere Referenzen verlangt. Er selbst hat keinen entsprechenden Hinweis gegeben und keine Namen genannt, aber die Stimmung erinnert doch an eine Denktradition, die an den Anfängen seiner mittleren Phase stand: die Kritische Theorie der ersten Generation. Habermas war ab 1956 Assistent bei Adorno, wurde 1964 Professor in Frankfurt und avancierte nach dem Tod der beiden Zentralfiguren Adorno 1969 und Horkheimer 1973 zum Kopf des Frankfurter Projekts. Allerdings hat er einen anderen Kurs eingeschlagen und sich ausdrücklich von der negativen Geschichtsphilosophie der Dialektik der Aufklärung (1944) distanziert. Stattdessen suchte er nach Spuren des Positiven in der Negativität. Viele haben das als Verrat an der Kritischen Theorie verstanden – oder waren begeistert, dass nun endlich jemand politische Handlungsmöglichkeiten aufzeigt, die aus der Misere herausführen.

Horkheimer-Sound

Heute scheint davon nicht mehr viel übrig zu sein. Habermas klingt beinahe wie Horkheimer, der gegenüber Adorno bemerkte: „Die Welt ist verrückt und das bleibt so. Im Grunde kann ich mir vorstellen, daß die ganze Weltgeschichte nichts anderes ist als eine Fliege, die sich verbrennt.“ Der Westen, der sich bislang dagegenstemmte, war für Horkheimer dem Untergang geweiht. Überall sah er Diktatoren auf dem Vormarsch und die Demokratie unter Beschuss, während die Gesellschaft in Banden zerfiel, zwischen denen kein Austausch mehr möglich war –  außer Gewalt. Wer das anders sah, fand in Horkheimers Augen wenig Gnade. Er verweigerte Habermas die Habilitation, weil er ihn zu linksradikal fand. Der musste nach Marburg ausweichen, wo es noch echte Marxisten gab. Heute wäre das nicht mehr nötig, denn er denkt inzwischen ähnlich düster wie Horkheimer.

Damit hat er – um einen großen Bogen zu schlagen – das Rad der eigenen Entwicklung weitergedreht. Allerdings wissen wir nun, dass es rückwärts läuft: Von den Übertreffern der Aufklärung Marx und Hegel zurück zu Kant, der die Aufklärung begründete, weiter zu einem Voraufklärer, der in der Geschichte kein Gesetz der Vernunft erkennen konnte. Möglicherweise bietet sich hier Johann Georg Hamann als Referenz an, Kants Freund und erster Kritiker, der den Aufbrüchen des Geistes mit Pessimismus begegnete. Dieser scheint auch den späten Habermas erfasst zu haben.

Ein anderes Land?

Die Diagnose gewinnt Brisanz vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Habermas der maßgebliche Philosoph der Bundesrepublik ist, wie Felsch schreibt: Ein feines Gespür für Relevanzen und Großwetterlagen erlaubte es ihm stets, mit dem richtigen Wort zur richtigen Zeit zur Stelle zu sein. Hat Habermas, immerhin schon 94, einfach den Draht zur Welt verloren? Oder besitzt er noch immer ein Näschen für Veränderungen? Noch vor drei Jahren hat man ihm das attestiert, als er in der Corona-Politik für einen Vorrang des Lebensschutzes gegenüber der Bewegungsfreiheit eintrat und damit hellsichtig die staatstheoretischen Implikationen der Pandemie erkannte. Ein Jahr zuvor hat er sich in einem Interview als scharfsinniger Beobachter vertaner postnationaler Chancen zu erkennen gegeben. Hier schon mit deutlich pessimistischem Unterton. Seither scheint sich sein Weltbild weiter verdunkelt zu haben. In einer Wortmeldung zum Ukrainekrieg schaute er ungläubig auf eine kriegsbereite deutsche Öffentlichkeit und erntete dafür Unverständnis wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Doch vielleicht sollten wir genau hinhören, was der Weise aus Starnberg zu sagen hat. Unter Historikern heißt es, Deutschland verändere sich alle 70 bis 80 Jahre. Turnusgemäß wäre es jetzt wieder soweit. Und tatsächlich gibt es Verschiebungen – in der Geopolitik, im Parteiensystem und im Umgang miteinander –, die wie Epochenwechsel aussehen. Was aus ihnen folgt, ist unklar. Aber das Alte geht offenbar in die Brüche. Habermas, der als Philosoph der Reeducation wesentlich dazu beigetragen hat, es aufzubauen, könnte als Zeuge seines Untergangs noch einmal eine Rolle spielen. Es ist vermutlich seine letzte. •