THEO VAN GOGH AUFKLÄRUNG – FAZ CHEF KAUBE GEHT AUF DISKRETEN ABSTAND ZU ROBERT HABECK = DEN ER SEINERZEIT ÜBERSCHWENGLICH INAUGURIERTE: „Ein Minister als Freund des Wortes und des Denkens: Robert Habeck erhält aus den Händen Jürgen Kaubes den Börne-Preis.“
Volksabstimmungen : Kann direkte Demokratie den Siegeszug der Populisten stoppen?
Von Jürgen Kaube 10.01.2025, FAZ
Die „Landsgemeinde“ in Glarus ist eine der ältesten Formen direkter Demokratie: Dabei treffen sich stimmberechtigte Bürger des Schweizer Kantons unter freiem Himmel, um über wichtige politische Angelegenheiten zu entscheiden.
Die Wahlerfolge der AfD und die allgemeine Unzufriedenheit hängen auch damit zusammen, dass viele Bürger den Eindruck haben, im politischen Entscheidungsprozess abgehängt zu sein. Weshalb also nicht mehr direkte Demokratie wagen?
Im Jahr 1998, die Grünen waren erstmals in der Landesregierung, durften die schleswig-holsteinischen Bürger in einem Volksentscheid über die Rechtschreibreform abstimmen. Sie lehnten sie mit einer Mehrheit von 56,4 Prozent ab. Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) hatte zuvor angekündigt, ein solches Ergebnis durch den Landtag ohnehin wieder außer Kraft setzen zu wollen. Robert Habeck, der erst zehn Jahre später in den Kieler Landtag einzog, kommentierte das 2021 dann so: Die Menschen neigten zum Festhalten an der Vergangenheit, doch sei das Ergebnis der Volksabstimmung „nicht der Weisheit letzter Schluss“ gewesen. „So hob der Landtag den Beschluss wieder auf.“
So. Habeck vermied das „Also“, deutete es nur an. Ob die Rechtschreibreform ihrerseits für ihn der Weisheit letzter Schluss war, bleibt dadurch offen. Immerhin hält er fest, dass am Ende alle Seiten beschädigt waren. Vor allem das Verfahren selbst war ad absurdum geführt worden. Einstimmig hatten die Abgeordneten mitgeteilt, sich vom Volk nichts sagen zu lassen. Dass die Rechtschreibreform keinen einzigen der versprochenen Effekte hatte, ist nur eine Fußnote zu diesem demokratischen Desaster.
Vorbild Schweiz
Wer sich für mehr direkte Bürgerbeteiligung einsetzt, wird das kaum unter der Kieler Voraussetzung tun wollen, dass Volksentscheide keinerlei bindende Wirkung entfalten.
Von etwa zweihundert Staaten weltweit kennt derzeit etwa ein Viertel die von Bürgerinitiativen ausgelöste Volksabstimmung. Ein Fünftel, darunter Deutschland, kennt keinerlei direktdemokratische Sachentscheidungen auf nationaler Ebene. In mehr als der Hälfte aller Staaten kann die Regierung oder das Parlament eine Volksabstimmung anberaumen, in mehr als der Hälfte gibt es obligatorische Referenden, die in Deutschland etwa bei Neugliederungen des Bundesgebiets fällig wären. Wäre das Grundgesetz 1990 neu geschrieben worden und die DDR dem bestehenden Grundgesetz nicht nur beigetreten, so hätte auch das verpflichtend zu einem Referendum geführt.
Das Ergebnis der Volksabstimmung sei „nicht der Weisheit letzter Schluss“, sagte Robert Habeck 2021.
Im Folgenden soll es um den ersten Typ der direkten Demokratie gehen: die Volksabstimmung über Sachfragen. Bekannt ist sie vor allem durch die Schweiz. Die jüngsten Volksinitiativen auf der dortigen Bundesebene betrafen beispielsweise das Mietrecht, die Finanzierung der Krankenversicherung, die erneuerbaren Energien und die Massentierhaltung. Eine Abstimmung kommt zustande, wenn 100.000 Stimmberechtigte eine Gesetzesänderung beantragen. Das Parlament hat das Recht zu einem Gegenentwurf. Die Wahlbürger werden mit Informationsmaterial zur Abstimmungsfrage ausgestattet, eine gerichtliche Überprüfung der Finanzierung von Abstimmungskampagnen kann erfolgen. 2024 gab es ein Dutzend solcher Volksabstimmungen mit einer Wahlbeteiligung zwischen 40 und 58 Prozent. Für Bewohner des Kantons Zürich kamen weitere sieben Referenden hinzu. Auch hier pendelten die Wahlbeteiligungen um 50 Prozent.
Wechselwählertum als Ausdruck politischer Unzufriedenheit
Volksabstimmungen könnten in Deutschland auf akute Probleme des repräsentativen Systems reagieren, vor allem auf den zunehmenden Eindruck vieler Wähler, der Gesetzgebung und den Regierungen gleichgültig zu sein. Lange Zeit folgten die Parteien großen politischen Ideologien wie Konservatismus, Sozialismus oder Liberalismus, die sie mit ihren Wählern verbanden. Sie unterhielten einen Bezug zu sozialen Milieus. Wählen hieß, ein Bekenntnis zur eigenen Lebensweise ablegen. Selbstverständlich waren die Zugehörigkeiten nicht eindeutig und nicht zwingend, so wie die Interessen vieler Wähler heterogen sind: Es gab sozialdemokratische Bauern, konservative Industriearbeiter, liberale Beamte. Die berühmte „katholische Arbeitertochter vom Land“ war darum nicht nur als Adresse von bildungspolitischen Absichten, sondern auch als Wählerin eine Aufgabe für die Parteiprogramme. Je stärker sich das Wahlverhalten von solchen Milieuvorgaben löste, desto weniger wurden für die Parteien tradierte Ideologien instruktiv. Die Unterscheidbarkeit der Parteien nahm ab. Was manche als das Werk Angela Merkels kritisieren, war nicht viel mehr als der Vollzug einer gesellschaftlichen Entwicklung.
Damit ging hierzulande eine Schwächung stabiler politischer Leidenschaften einher. Was die meisten Parteien anbieten, sind mehr oder weniger unstimmige Versuche, alle zu erreichen. Niemand fühlt sich mehr zu Kohärenz verpflichtet. Viele Bürger, die den „Wahlomat“ ausprobieren, blicken darum erstaunt auf das Ergebnis, das aus der Zusammenfassung ihrer Ansichten zu einzelnen politischen Fragen hervorgeht. Die Zahl der Parteien, die zu einzelnen Themen – Euro, Migration, Ukraine – Positionen vertreten, die bei anderen Parteien nicht integrierbar sind, nimmt zu, das Wechselwählertum als Ausdruck politischer Unzufriedenheit ebenfalls. Nur ein Viertel der Wähler legt sich inzwischen noch strikt auf eine Partei fest. Viele Bürger fühlen sich eher undurchsichtig beherrscht als repräsentiert. Sie wenden einer Politik den Rücken zu, die sie in für wichtig erachteten Fragen nicht berücksichtigt. Oder sie wählen Protestparteien, mit denen danach niemand koalieren will, weil sie abenteuerliche Programme haben.
Der Einbau direktdemokratischer Elemente könnte dem Unbehagen an dieser Situation entgegenarbeiten. Die großen Politikpakete zwingen die Wähler dazu, vieles pauschal zu bejahen, was sie im Einzelnen ablehnen, und außerdem dazu, sich von Koalitionsverträgen überraschen zu lassen. Volksabstimmungen in Sachfragen sind demgegenüber viel besser geeignet, das zu profilieren, was als „Wählerwille“ bezeichnet wird.
Berufspolitiker entschieden vernünftiger?
Viele finden es riskant, mehr direkte Bürgerbeteiligung vorzuschlagen. Volksabstimmungen stehen unter dem Verdacht, momentane Affekte in bindende politische Entscheidungen zu verwandeln. Die Wählerschaft, die sich in einer kontroversen Sachfrage äußern soll, werde massenmedial vermittelten Stimmungen ausgesetzt. Direkte Demokratie begünstige so die Extreme.
Nicht zuletzt die Überraschung des Brexit im Sommer 2016 kostete die direkte Demokratie frühere Anhänger. Vorangegangen waren die Plebiszite in Frankreich und den Niederlanden, die 2005 den Entwurf einer Verfassung für Europa zu Fall gebracht hatten. Parteien, die, wie die Grünen in der Opposition, durchaus Sympathien für Volksabstimmungen auf Bundesebene hatten, räuspern sich inzwischen und schlagen „Bürgerräte“ ohne Entscheidungskraft vor. Dem Volk wird bestenfalls ein Vorschlagsrecht für politische Themen zugetraut. SPD, Grüne und FDP, die einst für mehr direkte Demokratie waren, nahmen diese Forderung 2021 aus ihren Programmen.
Die Sorge, Volksentscheide in Sachfragen wie dem Tempolimit auf Autobahnen, dem bedingungslosen Grundeinkommen oder dem Weiterbetreiben von Kernkraftwerken könnten zu ungewollten Ergebnissen führen, ist je nach Partei nachvollziehbar. Mit welcher Begründung aber will man sie von der Hand weisen? Das Tauschgeschäft „Lasst uns über unsere empfindlichen Positionen nicht abstimmen, dann stimmen wir auch über eure empfindlichen Positionen nicht ab“ zeugt nicht von demokratischem Geist. Drapiert wird es mit Behauptungen wie der, Berufspolitiker entschieden vernünftiger, mehr am Gemeinwohl orientiert. Repräsentation läutere die Interessen.
Nach 1945 diente das der Suggestion, die Weimarer Republik sei durch die plebiszitär verführbaren Massen, nicht durch Rechtsbrüche und Torheiten ihrer Eliten zu Fall gebracht worden. Tatsächlich gab es auf Reichsebene nach 1919 überhaupt nur zwei Volksentscheide, die beide an der erforderlichen Wahlbeteiligung scheiterten. Dem Ermächtigungsgesetz hatte das Parlament zugestimmt, darunter auch der Abgeordnete Theodor Heuss, der nach 1945 das Volk als „bissigen Hund“ bezeichnete und die Volksabstimmung als „Prämie für jeden Demagogen“. Der vielzitierte Satz Ernst Fraenkels, die Weimarer Republik habe sich in ihrer Geburtsstunde zu einer plebiszitären Demokratie bekannt und in ihrer Todesstunde dafür die Quittung erhalten, ist zweideutig. Er kann sinnvollerweise nur die Wahlen des Reichspräsidenten meinen, samt seiner Befugnis, das Parlament aufzulösen. Das aber betrifft direktdemokratische Sachentscheidungen, die aufgrund von Volksinitiativen herbeigeführt werden, also keine „von oben“ bestellten Referenden sind, nicht im Mindesten.
Sorge vor irrationalen Entscheidungen
Habecks Bemerkung über die „menschliche Neigung zum Festhalten an der Vergangenheit“ ist typisch für den Einwand, direkte Demokratie führe häufig zu innovationsfeindlichen Entscheidungen. Die Erfolgsquote bei Schweizer Volksinitiativen liegt bei zehn Prozent. Doch „Mehr Demokratie wagen“ kann wohl kaum mit „Möglichst viel ändern“ übersetzt werden. Wie oft deklarieren Politiker und eben auch Bürgerinitiativen einen Reformbedarf für etwas, das im Grunde ganz gut funktioniert. In Volksabstimmungen, die oft ein Bürgervotum zu konkreten Fortschrittserwartungen ausdrücken, spielen andererseits Rücksichten auf innovationsfeindliche Absprachen in Koalitionen keine Rolle.
Ein Problem der repräsentativen Demokratie sind die geringen Anreize für Bürger, sich in Fragen zu informieren, über die sie nicht selbst zu entscheiden haben. Wir singen mehrheitlich nicht selbst, wir lassen singen, also merken wir uns weder die Texte der Lieder, noch entwickeln wir einen Sinn dafür, was gute Lieder sind. Direkte Demokratie stärkt nachweislich die Motivation, sich in politischen Sachfragen kundig zu machen. Jedenfalls dann, wenn die Initiative zu Sachfragen bürgerschaftlich erfolgt, wenn Quoren dazu führen, dass nicht ständig über alles abgestimmt werden muss, und wenn eine lebendige Diskussion über die betreffenden Fragen stattfindet.
Die Sorge, Volksabstimmungen führten zu irrationalen Entscheidungen, sollte angesichts der Entscheidungsbilanz der repräsentativen Demokratie kein Argument sein. Es gibt keine Hinweise darauf, dass das so ist. Niemand von Verstand würde umgekehrt Parlamente durch Plebiszite ersetzen wollen. Es geht nicht um eine rousseauistische Republik, der ständigen Abstimmung aller über das Gemeinwohl. Es geht um eine republikanische Ergänzung der Parteiendemokratie.
Dem Gefühl des Abgehängtseins entgegentreten
Direkte Demokratie kann falsche Entscheidungen hervorbringen. Das unterscheidet sie nicht von der repräsentativen. Aber, so die ehemalige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff in ihrem fabelhaften Buch über die Frage, ob Volksabstimmungen zu fürchten seien, „es hat große Vorteile, wenn man die Fehler selber machen darf“. Die Verachtung der Politik, die Wut auf ihre Vertreter, würde unter solchen Umständen abnehmen. So gut wie alle Studien, die es dazu gibt, deuten auf einen Zusammenhang staatsbürgerlicher Zufriedenheit mit direkter Demokratie. Wer eine der zentralen Aufgaben für das Gemeinwesen darin sieht, populistische Wut zu dämpfen und dem Gefühl des Abgehängtseins entgegenzutreten, wird um wirkliche und nicht bloß symbolische Bürgerentscheide kaum herumkommen.
Das führt zurück nach Schleswig-Holstein. Die Ansicht, Bürger seien gut genug, um alle vier oder fünf Jahre Legitimität zu beschaffen, damit aber hätten sie die politische Sache aus der Hand gegeben und seien fürderhin in Sachen Demokratie uninformativ, ist schmählich. Wer sich fragt, was der AfD die Wähler zutreibt, wird um die Diagnose nicht herumkommen, dass viele Bürger den Eindruck haben, mit ihren Vorstellungen nicht durchzudringen. Direkte Demokratie hat den Vorteil, diese Beschwerde außer Kraft zu setzen.