THEO VAN GOGH ANMERKUNGEN: CHARAKTER – TEMPERAMENT & GEFÜHL IN DER SERIELLEN GESELLSCHAFT

“Die Zeit der Charaktere ist abgelaufen, Charakterologie eine Sparte der historischen Ästhetik geworden. Die Wahrheit des Charakters ist durch die Authentizität des Gefühlsausdrucks ersetzt, die schlagende Rhetorik der Temperamente durch differenzierten Naturalismus. Die Geizigen und eingebildeten Kranken, selbst die Unbestechlichen und Schwierigen sind in das Schattenreich einer Vorgeschichte der Moderne zurückgeglitten. Für das psychologisch und historisch gesprägte Verständnis menschlicher Individualität, das sich mit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts durchsetzt, ist das alte Rollenspiel nur noch Mummenschanz. Ideologiekritik entzaubert seine Ästhetik. (…)

Physiognomik, Rhetorik und Temperamentenlehre rahmen das Weltbild, in dem noch die Charaktere Molières sich bewegen. Sie alle führen in der Moderne allein ein apokryphes Nachleben. Für die Erklärung der vormodernen Auffassung des Charakters erweist sich zumal die Psychologie als gänzlich unbrauchbar. (…) Wo danach sich noch Verhaltensweisen mit der unmotivierten und unerklärlichen Energie der früheren Charaktere halten, führen sie ein Maulwurfsdasein unterhalb der Kultivation der Moderne: Blindgänger und selbst wenig ansehnlich, kunstfähig nur unter besonderen Auflagen. Sie auf eine Stufe mit dem Komödienpersonal Molières stellen, hieße die Besonderheit ihrer dubiosen Gestalt verfehlen.

Irgendwann ist vielleicht jeder mal albern, faul, selbst noch leidenschaftlich – aber Alberne, Faule, Leidenschaftliche, so wie wir die Porträts der Geizigen oder eingeblideten Kranken kennen? Was hier beschrieben werden soll, gibt es gar nicht. Es sind Namen, dennoch nicht bloß von Ausgedachtem, und doch: im Sinne von zu Ende gedacht. Die Anteile sind schon da, wohl in jedem. Nicht auszudenken, wenn diese Anteile sich aufblähen und die gesamte Person einnehmen würden. Wie gut also, daß nicht alles wirklich werden muß, um vor Augen zu treten oder doch wenigstens vor den inneren Sinn.”

 

Aus: Gert Mattenklott, Blindgänger. Physiognomische Essais, Frankfurt/M. 1986 (darin Texte über Faulheit, Epigonalität, Langsamkeit, Leidenschaft und Albernheit)