THEO VAN GOGH : 1. ADVENT – ECCE HOMO (Seht, welch ein Mensch!)

Der gemarterte Gott. Die Kreuzigung von M. Grünewald / Wolfgang Sofsky Grünewalds Karlsruher Kreuzigung

Schwer hängt der tote Gott am Kreuz. Unter der Last verbiegt sich der rohe Querbalken. Das Gewicht hat ihm die Schultern ausgekugelt und die Arme verdreht. Derart sind die Sehnen gespannt, daß sich die Finger im Krampf aufspreizen, als wollten sie in den Himmel hinausgreifen. Die Wunden an den Händen sind eingerissen, Dornen und Holzsplitter stechen ins Fleisch. Scharfe Striemen hat die Geißelung hinterlassen. Das Blut aus der Seitenwunde ist bereits angetrocknet. Schroff treten die ausgerenkten Rippen über dem Unterleib hervor. Bis zum Bersten ist der Brustkorb aufgetrieben. Die Knie sind nach innen gedreht, die beiden Füße übereinander gezogen und mit einem einzigen Eisennagel durchbohrt. Bis an den Nagelkopf ist das Fleisch aufgequollen, die Zehen sind blau angelaufen. Knapp über der Fußrast hat man die Füße angenagelt, damit sich der Gekreuzigte nicht abstützen kann.

Die Dornenkrone drückt den Kopf auf die Brust herab. Dunkel sind die Augen unterlaufen, unter den halb geschlossenen Lidern zeichnen sich die Pupillen ab. Über dem ausgebluteten Antlitz liegt die Starre des Todes. Im letzten Schmerz hat sich der Unterkiefer nach vorn geschoben. Der Krampf hält den Mund halb geöffnet, so daß die Zähne sichtbar werden.

Überlebensgroß erhebt sich der gemarterte Gott. Das Ereignis des Heils ist dicht an die Bildrampe gesetzt. Die kleineren Seitenfiguren, Maria und Johannes, gehören einer anderen Welt an als der Gott am Kreuz. Seine Erscheinung erfüllt den gesamten Bildraum. So nahe steht der Pfahl am vorderen Bildrand, daß Haupt und Füße des Gekreuzigten fast aus dem Bild herauszutreten scheinen. Der Rahmen überschneidet den Mittelbalken, die Zehenspitzen und den Mantel des Jüngers. Noch im Tod ist der Gott übermächtig. Sein Körper zieht alle Blicke auf sich: die Finger, das zerrissene Lendentuch, der eingeknickte Leib, die ineinander verkrallten Zehenglieder. Seine Heilswirkung gewinnt das Bild durch die Kraft der Wunden. Der Blick des Betrachters unterliegt dem Zwang der Passion.

Die “Kreuzigung”, die einst für die Stadtkirche von Tauberbischofsheim bestimmt war und seit einem Jahrhundert in Karlsruhe ausgestellt wird, ist Grünewalds fünfte und letzte Version des Themas. Angefertigt wurde sie rund zwanzig Jahre nach dem ersten Tafelbild, der Basler “Kreuzigung” von 1505, und zehn Jahre nach der Vollendung des “Isenheimer Altars” in Colmar. Gegenüber allen früheren Fassungen ist die Darstellung reduziert und der Ausdruck ins Extrem gesteigert. Das Lendentuch wirkt noch zerschlissener als in Colmar, die Dornenkrone wuchert wilder, das Gesicht des Toten ist von Pein verwüstet. Die Stelle des Täufers hat der wütend klagende Johannes eingenommen. Das Gotteslamm und die Figur der Magdalena sind gestrichen. Maria sinkt nicht ohnmächtig in sich zusammen, sondern scheint in Trauer zu Stein erstarrt.

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Im Kruzifix gelangt die Quintessenz des christlichen Glaubens zur Darstellung. Jesu Tod bedeutet für die Christenheit das Ende des Alten Bundes, die Überwindung des Gesetzes und den Anfang der Kirche. Am Kreuz hat Jesus über den Tod triumphiert, die Vorfahren aus dem Limbus befreit und den Gläubigen den Himmel erschlossen. Indem er die Todesstrafe auf sich nahm, hat er alle menschliche Schuld gesühnt. Doch so eindeutig der Sinn der Szene zu sein scheint, jede Darstellung der Kreuzigung ist ästhetisch prekär. Den Fallstricken der theologischen Paradoxien ist kaum zu entkommen. Wie läßt sich eine Gottheit am Kreuz zeigen, die zugleich tot und lebendig, Mensch und Gott ist? Wie kann ein Leichnam einen lebendigen Gott verkörpern? Christus als Toten abzubilden, verleitet zu dem Irrglauben, er sei nur ein Mensch gewesen. Wie kann ein Gott, dessen Essenz seine Unsterblichkeit ist, überhaupt der übelsten Strafe unterworfen werden, die sich denken läßt, der Strafe der Sklaven, Straßenräuber und Wegelagerer? So schändlich war sie, daß sie nicht nur den Henker befleckte, sondern jeden Zuschauer. Für einen römischen Bürger von Stand ziemte es sich nicht, einer Kreuzigung beizuwohnen. Wie aber kann der Betrachter eines Kreuzigungsbildes vor der schwarzen Magie der Schandstrafe, vor der vernichtenden Kraft des Unheils bewahrt werden?

Kaum weniger strittig ist die Darstellung des gekreuzigten Körpers. Ist der Leichnam vor Verwesung zu bewahren, weil Gottes Leib unvergänglich ist? Das Kruzifix zeigt das Sterben einer Gottheit, die Fleisch geworden ist und sich im Leib eines Menschen offenbart hat. Der Gekreuzigte ist die Verkörperung des unsichtbaren Gottes. Es ist Gott selbst, der getötet wird. Sein Leib ist entstellt, preisgegeben der Marter. Nur im nackten, vergänglichen Körper ist Gott erkennbar. Das Blut beweist seine Existenz. Es kündet von der Wahrheit seines Opfers. Das Kreuz der Verbrecher und Aufrührer ist sein Thron. Doch dies widerspricht allen Idealbildern, die sich Gläubige von der Unversehrtheit ihres Gottes zu machen pflegen. Die Kunst des Mittelalters war weithin eine Kunst des bekleideten Menschen. Die Körper wurden von Gewändern kunstvoll umspielt. Maßvolle Nacktheit war allein dem Heiligen Sebastian und dem Gekreuzigten vorbehalten. Aber jedes Passionsbild steht zwischen der Verheißung, der Messias sei das schönste aller Menschenkinder, und dem Wort des Propheten, wonach das Antlitz des Gekreuzigten verhüllt und verachtet sein würde.

Die christliche Mythologie war bemüht, dem Kreuzestod höchste Weihe zu verleihen. Hinweise, welche an ein Gründungsopfer für die neue Religionsgemeinschaft erinnern könnten, wurden gestrichen. Die Hinrichtung Jesu durch die römische Obrigkeit hat man entweder den Juden angelastet oder sogleich zur Gottesgabe umgedeutet. Mit diversen Umdeutungen wurde die Todesstrafe sakralisiert. Entweder verstand man Jesu Tod als Sühneopfer und verglich den Gekreuzigten mit dem jüdischen Passahlamm, eine irrige Parallele, da das Passahopfer mit Schuld und Sühne nichts zu tun hat. Mit dem Lamm danken Juden Jahwe für den Bund und die Errettung aus Ägypten. Oder man taufte das mythische Menschenopfer in ein freiwilliges Selbstopfer um. Jesus habe für die sündige Menschheit den Tod auf sich genommen und damit alle Schuld gelöscht. Schließlich kehrte man die Rollen im Opferritual einfach um und erklärte Gott selbst zum Opferherrn. Er habe für die Menschen seine “schönste Frucht”, seinen Erstling hingegeben. Nicht einem zürnenden Gott wurde danach auf Golgatha eine Gabe gebracht, sondern den Menschen, insbesondere den Christen. Gott selbst tilgte die Schuldenlast seiner Anhänger, indem er ihnen seinen Sohn als Nahrung zum ewigen Leben überließ. Zugleich vergöttlichte man nicht nur den Opferherrn, sondern auch das Opfer. Jesus wurde zu Gottes Sohn, zum Teil der Trinität, zur gottgleichen Figur. Auf Golgatha wurde kein Mensch, sondern eine Art Gottmensch getötet. Die Leiden des Sohnes waren auch die Leiden des Vaters; der Tod Jesu war der Tod Gottes. Gemartert wurde kein Priester oder Prophet, sondern Gott selbst.

Das Motiv der rituellen Gottestötung mit nachfolgender Auferstehung entstammt nicht der jüdischen Tradition, sondern den hellenistischen Mysterienkulten, in deren Zentren das paulinische Christentum seine ersten Gefolgsleute fand. Die Idee von der gefallenen Welt und einer Erlösung durch Gottes Tod ist dem Judentum, als dessen Nachfolger sich manche Vertreter des Christentums gelegentlich ausgeben, völlig fremd.

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Grünewalds Verismus entfernt sich von aller Beschönigung. Die Qual ist um nichts gemildert. Der gekreuzigte Gott wirkt nicht müde oder erschöpft, er ist gezeichnet von der Tortur. Der Körper ist nicht schlank, makellos und mit einem blutroten Rinnsal dekoriert. Ausgezehrt, verkrümmt, entstellt hängt er da. Die Fasern der Armmuskeln sind bereits verhakt. Der malträtierte Leichnam ruft die Passion in all ihren Details in Erinnerung. Mit seinem Leib bezeugt Gott, daß er herabgestiegen und Mensch geworden ist. Nirgendwo weist der christliche Gott mehr Attribute des Menschlichen auf als in der Sterblichkeit seines Leibes. Grünewalds Kruzifixus ist kein vergöttlichter Mensch, sondern ein vermenschlichter Gott.

Trost gewährt dieser ästhetische Realismus nicht. Grünewalds Kreuzigung ist ein Bild der Unversöhnlichkeit und Verlassenheit. Es zeigt den Karfreitag in seiner ganzen Härte und Gottlosigkeit. Sein Christus ist nicht, wie die Heilige Schrift berichtet, mit “Zittern und Zagen”, “mit großem Geschrei und Tränen”, schließlich mit den Worten des Psalms auf den Lippen gestorben. Er starb wie jede menschliche Kreatur – durch Ersticken. Das vorgeschobene Kinn erinnert an das letzte Wimmern und verbissene Stöhnen. Der Schmerz hat den gekreuzigten Gott von der Welt und von sich selbst getrennt. Die Gottverlassenheit hat einen physischen Grund. Die Qual hat den Gemarterten in sich selbst eingeschlossen, hat ihm zuletzt Stimme und Sprache geraubt. Der gekreuzigte Gott ist an sich selbst verzweifelt, an der Verletzbarkeit seines Leibs. Umgeben von Finsternis ist er gestorben. Nur schemenhaft zeichnen sich Hügel und Felsen in der Dunkelheit ab. Die Nacht von Golgatha bedeutet den Tod Gottes. Sie ist die Nacht des unendlichen Schmerzes, der letzten Gottesferne. Der Tod hat triumphiert. Ein letztes Mal bäumte sich der Leib auf, dann sackte er in sich zusammen. Schwer fiel der Kopf nach vorn.

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Grünewalds Kruzifixus ist strikt asymmetrisch komponiert. Das rohe Kreuz ist leicht nach links gedreht, der Körper in sich verrenkt. Das Gewicht des Kopfes zieht den Brustkorb nach rechts; Unterleib, Hüfte und Beine sind dagegen nach links verdreht. An der Lanzenwunde stoßen Bauch und Brust hart gegeneinander. Die rechte Hüfte ist nach vorn gezogen, die Knie sind nach innen gedrückt. Die Gestalt hat nichts von dem parallelen Gleichmaß oder dem eleganten Schwung, mit dem der Gekreuzigte sonst dargestellt wird. Schon die Silhouette erscheint quälend verformt und verzerrt. Die imaginäre Achse verläuft nicht durch die Körpermitte, sondern entlang der rechten Balkenkante. Mehrfach ist dieser Körper in sich gebrochen. An Rumpf und Gliedern ist seine innere Einheit zerschlagen.

Die Haut des Toten hat sich gelbgrün verfärbt. An einigen Stellen ist sie aufgerissen oder aufgeschlagen. Unterschenkel und Füße sind bläulich angelaufen. Die Stauung des Blutes in den Leichenflecken ist präzise nachgezeichnet. Die Gesichtshaut ist fahl, um die Augen, im Nacken, entlang der Rippenbögen und an den Lenden schimmert es bläulich. Die Farben widersprechen allen Konventionen des Gottesideals. Das vom Todesschweiß glänzende Fleisch des Isenheimer Christus wirkt dagegen – trotz der zahllosen Wunden – noch frisch und lebendig. Lediglich die Lippen sind schon bläulich verfärbt. Der Körper des Karlsruher Kruzifixus hingegen weist kaum mehr feuchte Wunden auf. Dafür ist er übersät von Schlagstellen, kleinen Einblutungen und Leichenflecken. Der Prozeß der Verwesung hat gerade eingesetzt. Grünewald, dieser Virtuose farblicher Ekstasen, hat in seiner letzten Kreuzigung jeden Kompromiß vermieden. In den Farben der Zersetzung erscheint der gemarterte Gott. Sie widersprechen allen Vorstellungen vom Sieg der unsterblichen Gottheit über den Tod.

Fahles Licht scheint die Szenerie von oben zu beleuchten. Einsam sind die drei Figuren nebeneinander gestellt. Das grünliche Braun der Verwesung trübt die Atmosphäre des Bildes ein. Es ist die Farbe des irdischen Todes. Nicht finsteres Schwarz oder das Rot von Blut und Wunden sind die Farben des heiligen Todes, sondern die Farben der Erde. Das Spektrum reicht vom warmen Rotbraun am Fuß des Kreuzes über eine Hügellandschaft, die zwischen Grün, Braun und Orange changiert, bis zum undurchsichtigen Himmel in grünblauer Schwärze. Je höher der Blick zum Firmament schweift, desto düsterer die Szenerie.

Zu den ältesten Ausdrucksmitteln für das Numinose zählt das mysteriöse Halbdunkel, das den Betrachter zum Schweigen nötigt. Doch welche Wirkung erlangt eine Figur, die aus dem Nichts mit ungeahnter Größe, Majestät und Erhabenheit hervortritt? Religiöses Empfinden beginnt mit frommer Scheu und schauervoller Erregung. Der Schrecken vor der Übermacht der Gottheit senkt sich ins Innere, setzt sich fort im Pulsieren der Nerven, im Verstummen der Kreatur. Riesengroß erscheint das Heilige. Es versetzt den Gläubigen in Staunen, Furcht und Demut. Völlig auf den Mund geschlagen, steht er vor dem Gottesbild.

Es zieht ihn in Bann, zwingt ihn auf die Knie. Unmittelbar tritt ihm die göttliche Erscheinung vor Augen und ist doch zugleich unbegreifbar fern. Sie affiziert die Sinne und verweigert allen Sinn. Grünewalds „Kreuzigung“ zeigt weit mehr als die Ereignisse auf der Schädelstätte. Seine ästhetische Wirkung rückt das Altarbild in die Nähe eines heiligen Objektes. Die entgleiste, dissonante Farbigkeit, die Verformungen und Verletzungen des gemarterten Körpers, die dramatischen Gebärden, die plastische Beleuchtung der Figuren vor dem Abgrund der Welt, die überwältigende Gestalt des Gekreuzigten – diese Ästhetik der häßlichen Unmittelbarkeit ruft Empfindungen hervor, welche der Erfahrung des Heiligen gleichen.

Der Schrecken der tödlichen Pein verschmilzt mit der Erhabenheit des gekreuzigten Gottes. Der krasse Ausdruck des toten Christus stößt ab und fesselt zugleich. Die Nebenfiguren in ihrer Not bieten dem Betrachter kein Vorbild. Grünewalds Kreuzigung erregt kein Mitleid und spendet keinen Trost. Es stellt den Untergang Gottes vor Augen. Würde im Leichnam Christi noch der unsterbliche Geist durchscheinen, so wäre der tote Gott nur ein Trugbild. Nur weil er tatsächlich zu Tode gemartert wurde, birgt der gekreuzigte Gott jenes geheimnisvolle Wunder in sich, das den gläubigen Christen mit heiliger Ehrfurcht erfüllt: das Wunder der Auferstehung.