Syrische Flüchtlinge – In der Falle / Kritik an PYD (PKK) in Qamishli

Taz Berlin 31.10.2012 – Cedric Rehman. Die syrische Armee hat sich aus den Kurdengebieten zurückgezogen. Immer mehr Syrer fliehen vor dem Krieg in das Gebiet der PKK. Es droht ein Hunger-Winter.

Der Stacheldraht schneidet ins Fleisch. Der Zaun, der die Türkei und Syrien trennt, lässt sich herunter oder zur Seite schieben, trotzdem, irgendein Metallstachel sticht immer. „Dschalla, dschalla“ – schnell, schnell!“ Bekar Dilsar* hat sein Gesicht mit dem Kufija genannten bunten Kopftuch bedeckt. Er trägt es zum Schutz gegen den Staub, aber auch, damit man ihn nicht erkennt.

Bekar Dilsar war schon Schmuggler, als hier noch die syrische Armee die Grenze bewachte. Jetzt lauern die Kämpfer der PKK auf den verlassenen Grenztürmen. Dilsars Angst ist geblieben. Jede Sekunde könnte ein Schuss fallen.

Sobald die Sonne untergeht, bricht die Dunkelheit über Qamischli herein. Mal gibt es Strom, oft auch nicht. Dann surren die altersschwachen Dieselgeneratoren, die Glühbirnen erhellen die Barbiersalons und Einkaufsläden nur schwach. Auf den Ständen vor den Schaufenstern türmen sich Granatäpfel. Das Regal des Schnapshändlers ist voll mit Jack-Daniels-Flaschen. Männer sitzen auf Klappstühlen auf dem Gehsteig und saugen an ihrer Wasserpfeife. Es sieht aus wie Frieden mitten im Krieg.

Das Rätsel der vollen Auslagen in den Schaufenstern hat etwas zu tun mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die in der Türkei, aber auch im Irak, Iran und in Syrien für ein unabhängiges Kurdistan kämpft. Als im Juli der Bürgerkrieg in Syrien die großen Metropolen Aleppo und Damaskus erreichte, zogen sich die Regierungstruppen aus der Kurdenregion im Nordosten Syriens zurück. In das Machtvakuum trat die PKK, die sich in Syrien PYD (Partei der Demokratischen Union) nennt.

Sie übernahm die Kontrolle in Qamischli und Umgebung. Die Gewehre dafür bekam sie über Schmugglerpfade vom türkischen Flügel der PKK. Darüber hinaus drückte ihr die Armee Assads die Schlüssel für ihre Waffenlager in die Hand. Im Gegenzug duldet die PYD die Präsenz des syrischen Geheimdienstes und von Resten der Armee in und um Qamischli.

Syriens Binnenflüchtlinge

Das Amt für humanitäre Angelegenheit der Vereinten Nationen (Ocha) schätzt die Zahl der Binnenflüchtlinge im syrischen Bürgerkrieg auf 1,2 Millionen. Die Zahl beruht auf Angaben des syrischen Roten Halbmondes, der das Internationale Rote Kreuz in Syrien vertritt. Internationale Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Vereinten Nationen sind aufgrund der Sicherheitslage kaum noch im Land vertreten. Die Zahl derjenigen, die im Land dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, schätzt man auf 2,5 Millionen Menschen. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR warnt davor, dass die einheimische Bevölkerung aufgrund des Zusammenbruchs der Wirtschaft und der schwierigen Versorgung kaum noch in der Lage ist, Kriegsopfer und Flüchtlinge mitzuversorgen. Derweil sind aktuell zirka 320.000 Syrer in die Nachbarländer Irak, Türkei, Libanon und Jordanien geflohen.

Doppelspiel der Extremisten

Die PYD hat auch die Kontrolle über die Vorratslager, sagt Ferhan Chalaf* vom revolutionären Volkskomitee in Qamischli. Das Komitee organisiert in Qamischli – so wie zahlreiche Volksräte in anderen syrischen Städten – den zivilen Kampf gegen das Regime. Jeden Freitag gibt es Demonstrationen gegen das syrische Regime, an denen auch die PYD teilnimmt. Ferhan Chalaf glaubt, dass die kurdischen Extremisten ein Doppelspiel treiben. „Sie sind irgendwie für und irgendwie gegen das Regime.“ Deswegen bedeutet für ihn Widerstand auch Widerstand gegen die PYD. Auch weil diese den Kurden das Essen stehle.

„Sie holen im Moment alles aus den Vorratskammern, um den Menschen zu zeigen, dass sie die Situation unter Kontrolle haben“, sagt Chalaf. Und nicht nur das: Lastwagenweise schicke die PYD Weizen von der Vorkriegsernte nach Damaskus. Zurück käme allerdings schon seit vielen Monaten kein Treibstoff mehr. „Dieses Jahr hatten wir keinen Diesel für Traktoren und keinen Dünger. Es gibt keine Ernte, die sie uns nächstes Jahr wegnehmen können.“

Die PYD ist nicht die einzige kurdische Partei in Syrien. Das Volk mit seiner eigenen Kultur und Sprache hat unter dem Regime in Damaskus gelitten, wie alle, die sich nicht einfügen wollten in die von der Baath-Partei verordnete arabische Identität. Wer Kurdisch sprach oder das Neujahrsfest Newroz feierte, musste in Qamischli oder anderen Teilen Syriens mit Haft, Folter oder Tod rechnen. Im Jahr 2004 schlug die syrische Armee kurdische Proteste in Qamischli blutig nieder, die nach einem Fußballspiel ausbrachen.

Die PYD gelte vielen als Handlanger der syrischen Regierung, als Verräter an der kurdischen Sache, erklärt Ferhan Chalaf. Der Regimegegner sitzt unter einem Bildnis von Maschaal Tammo, der Ikone der liberalen Kurdischen Zukunftsbewegung. Tammo wurde im Oktober 2011 von maskierten Männern in seinem Haus erschossen. Anhänger der Partei vermuten ein Attentat der PYD.

Tammos Sohn Fares ist nach dem Mordanschlag in die Türkei geflüchtet und organisiert von Istanbul aus die Arbeit der Partei. Das ist kein Zufall. Denn die einzige kurdische Partei, die auch Mitglied im Zusammenschluss der syrischen Opposition, dem Syrischen Nationalkongress ist, sieht in der Türkei keinen Gegner. „Wir kämpfen nicht für ein Großkurdistan, sondern für kulturelle Selbstbestimmung aller Syrer in einem demokratischen System“, sagt Ferhan Chalaf.

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