Syrien-Krise und Türkei: Der Friedensprozeß, die Türkei, PYD und die PKK

MESOP GASTKOMMENTAR : CENGIZ CANDAR

12. Februar 2013 – Cengiz Çandar – Dieser Beitrag erschien zuerst in der türkischen Tageszeitung “Radikal” vom 8.2.2013.

Können die als „Imrali-Prozess“ bezeichneten Friedensgespräche mit den türkischen Kurden unabhängig von den Entwicklungen in Syrien geführt werden, obwohl diese die syrischen Kurden direkt betreffen?

Die seit zwei Monaten dauernden bewaffneten Auseinandersetzungen vor der Haustür der Türkei sind in den letzten beiden Wochen noch weiter eskaliert. Diese Kämpfe haben das Potential, den Friedensprozess auf Imrali mit dem PKK-Führer Öcalan erheblich zu stören. Dennoch scheint dies – zumindest noch – niemand in der Türkei so wahrzunehmen. Die Bedeutung dieses Umstands scheint schier ignoriert zu werden.

Ich spreche von den heftigen Gefechten zwischen den YPG-Einheiten (bewaffneten Einheiten), die dem PKK-Ableger PYD in Syrien angehören, und den arabischen Organisationen, die, wie man behauptet, von der Türkei unterstützt werden. Diese Gefechte finden in Ras al-Ain (kurd.: Serekaniye) gegenüber dem türkischen Grenzort Ceylanpinar (Provinz Sanliurfa) statt.

Serekaniye und Ras al-Ain haben dieselbe Bedeutung: Sie heißen übersetzt „an der Quelle“, was auf Türkisch „Pinarbasi“ heißt. Mit dem benachbarten Ceylanpinar sind sie also auch etymologisch verwandt. Die ganze Region besteht quasi aus einer einzigen Ortschaft, die durch eine Eisenbahnlinie getrennt wird. Die Eisenbahnlinie bildet zugleich die offizielle Grenze zwischen den beiden Ländern. Wie fast überall an der türkisch-syrischen Grenze verläuft die Trennlinie also nicht hauptsächlich zwischen den Türken und Arabern. Die Grenze trennt vielmehr die Kurden.

So sprechen die dortigen Kurden nicht von der Türkei und von Syrien. Sie beschreiben ihren Wohnort mit den Worten ‘Ser xat’ (oberhalb der Linie) und und ‘Bin xat’, (unterhalb der Linie) – gemeint ist die Eisenbahnstrecke.

Diese Eisenbahn- bzw. Grenzlinie ist lang. Es gibt viele gegenüberliegende Orte auf diesem Streifen wie Kamışlı-Nusaybin, Mardin-Nusaybin oder Amude, Tel Abyad-Akçakale oder Carablus-Karkamış. Hier und in Kobani direkt gegenüber Suruç, sowie in Afrin mitten im Dreieck Hatay-Gaziantep-Kilis, herrscht der PKK-Ableger PYD. Dennoch kommt es an all diesen Punkten nicht zu Auseinandersetzungen. Warum also wird in Serekaniye (Ras al-Ain) gekämpft?

Die Bevölkerung von Serekani besteht zumeist aus Kurden; es existieren hier auch arabische Viertel und eine Minderheit von assyrischen Christen. Aber diese multi-ethnische Zusammensetzung charakterisiert die ganze Region. Warum also Serekaniye?

Diese Frage beantwortet der PYD-Führer Salih Muslim gegenüber der in Erbil erscheinenden und von Nechirvan Barsani kontrollierten Zeitung Rudaw wie folgt: „Wenn die Araber die Kontrolle über Serekaniye erlangen, werden sie die ganze Region von Derik bis Haseke kontrollieren.“ Und noch wichtiger: „Wenn Serekaniye [durch die arabischen Kämpfer] eingenommen wird, verlieren die von der PYD regierten Städte Kobani (Ain al-Arab) und Afrin ihre geographische Verbindung zu der kurdisch bewohnten Region Al Djesira“; d.h. es entstünde ein arabisch kontrollierter Korridor und die kurdisch besiedelten Gebiete würden in zwei getrennte Gebiete geteilt.

Derik befindet sich unmittelbar im Süden von Cizre. Haseke ist das Zentrum der syrischen Provinz al-Djasira in direkter Nachbarschaft zum Irak und zur Türkei; sie beherbergt Syriens Öl- und Erdgasreserven.

So betrachtet entscheiden die Kämpfe in Serekaniye gegenüber von Ceylanpinar über das Schicksal der syrischen Kurden.

Seit Wochen gibt es Gerüchte, dass die Mitglieder der an-Nusra-Front über die türkische Provinz Hatay und Ceylanpinar nach Serekaniye eingeschleust werden. In seinem Interview mit Rudaw stellt Salih Muslim eine neue Behauptung auf. Demnach hätte die Türkei Navaf Baschir, dem Anführer einer Organisation namens „Befreiungsfront für Al Djasira und den Euphrat“ 200 Millionen USD gegeben, damit er mit seinen Milizen die kurdischen Kämpfer in Serekaniye und Al Djasira angreift.

Salih Muslim behauptet ferner, dass Navaf Baschir ein arabisches Stammesoberhaupt sei und nur nach finanziellem Eigeninteresse trachte. Sein Stamm stehe gar nicht hinter ihm, seine Kämpfer seien allesamt Söldner. Gerade in einer Zeit, in der von der „Entwaffnung der PKK“ die Rede ist, erscheint auch folgende Behauptung Salih Muslims bezüglich der türkischen Unterstützung der „Befreiungsfront für Al Djasira und den Euphrat“ bemerkenswert: „Ihr Plan ist es eigentlich, die syrischen Kurden zu entwaffnen. Das hat mit der syrischen Revolution nichts zu tun. Das dient auch nicht der syrischen Revolution. Das geht auf den türkischen Auftrag zurück, die Kurden zu eliminieren.“

Offensichtlich meint Salih Muslim mit den „Kurden“ eigentlich die PYD. Aber auch sein erbitterter Rivale Abdulhekim Baschar, ehemaliger Vorsitzende des Kurdischen Nationalrats, unter dessen Dach alle syrisch-kurdischen Organisationen außer der PYD zusammengekommen sind, kritisiert die Türkei mit denselben Argumenten. Baschar ist einer der engsten Anhänger Barzanis in Syrien; zwischen ihm und der Türkei existieren ebenso die engsten Beziehungen. Die Kämpfe in Serekaniye scheinen – und das ist seltsam genug – rivalisierende kurdische Gruppen einander näher zu bringen.

Die Zeitung Rudaw interviewte am selben Tag auch Navaf Baschir. Der in Istanbul lebende Baschir (59) beschuldigt die PYD, diese hätten die Kämpfe in Serekaniye begonnen. Er will aber auch die türkische Unterstützung nicht leugnen: „Die Türkei unterstützt uns in militärischer, moralischer und menschlicher Hinsicht“, sagt er, „wir sind ihr zu großem Dank verpflichtet.“

Gegenüber der Zeitung Rudaw sagt Baschir hinsichtlich der Zukunft der Region Haseke: “Als eine Gruppe von arabischen und kurdischen Stämmen werden wir versuchen, eine Nationale Front für die Zukunft Syriens zu gründen. Wir werden nicht zulassen, dass die Separatisten diese Provinz kontrollieren. Denn diese Provinz ist das reichste Gebiet Syriens und besitzt neben Erdöl und wertvollen landwirtschaftlichen Flächen viele andere natürlichen Ressourcen.“

Der arabische Stamm oder die Stämme, die unter dem Namen “Befreiungsfront für Al Djasira und den Euphrat“ türkische Unterstützung zu bekommen scheinen, haben mit der Freien Syrischen Armee nichts zu tun. Sie sind auch nicht die an-Nusra-Front, also keine Al Qaida. Wie es aussieht, benutzt die Türkei – um welche Türkei es sich auch immer handelt – jede dieser Gruppen einzeln gegen die syrischen Kurden oder plant zumindest, dies zu tun.

Da sollten wir uns noch einmal anhören, was der in Erbil lebende Führer der syrischen Kurden, Vorsitzender der Demokratischen Partei des Syrischen Kurdistan, Abdulhekim Baschar gegenüber der Zeitung Rudaw bezüglich der Türkei kritisch äußert:

„Die Türkei macht einen großen Fehler. Sie will sich gegen die Kurden positionieren. Sie will die kurdische Frage aus der Welt schaffen. (… ). Manche Kräfte, die ich als Terroristen bezeichne, sind nach Serekaniye gekommen. Sie zetteln einen kurdisch-arabischen Konflikt an. Das wird in den Augen der Welt die syrische Revolution diskreditieren. In Syrien ist bereits eine Sektenfehde zwischen den Aleviten und Sunniten im Gange. Wenn nun auch Kämpfe zwischen Kurden und Arabern eskalieren, wird dieses Regime niemals gestürzt.“

Abdulhekim Baschar beantwortet die Frage, ob er hinter den arabischen Kräften, die nach Serekaniye entsandt wurden, „einen ausländischen Staat“ vermutet, wie folgt:

„Wir sehen die Türkei als einen befreundeten Staat an, aber leider erleichtert sie das Einsickern bewaffneter Araber in Serekaniye. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Türkei die kurdische Frage in Syrien eliminieren will. Aber dann entsteht für die Türkei ein noch größeres Problem. Die Kurdenfrage innerhalb der Türkei eskaliert und an der türkisch-syrischen Grenze lassen sich radikale Islamisten nieder. Das mag nicht der ausdrückliche Wille der türkischen Regierung sein, aber wie ich erfahren habe, hat der türkische Geheimdienst MIT hier seine Hände im Spiel.“

Was Abdulkerim Baschar in Rudaw auf den Einwand, „der MIT sei doch unter der Kontrolle der türkischen Regierung“ zu sagen hat, ist noch interessanter:

„Innerhalb des türkischen Staates unterstützt eine Fraktion derartige Kräfte (gemeint sind radikal islamische Kräfte). Es muss keine politische Entscheidung dahinterstecken. Ich kann auch nicht sagen, welche Fraktion das ist. Dieses Verhalten dient weder unserem Interesse noch dem türkischen. Wenn die Türkei tatsächlich die syrische Revolution unterstützt, ist ihr Vorgehen falsch. Wenn sie der Freund der syrischen Kurden ist, ist das ebenso falsch. Wenn sie ihre Grenzen schützen will, dann ist es großer Fehler, die bewaffnete Opposition der radikalen Islamisten zu unterstützen.“

Wir wollen hier auch eine Frage in den Raum werfen, über die es nachzudenken lohnt:

Können die als “Imrali-Prozess” genannten Friedensverhandlungen mit den türkischen Kurden angesichts dieser Ereignisse denn unbeeinflusst von all diesen Entwicklungen bleiben und unabhängig davon voranschreiten und zum Ziel führen?

Cengiz Çandar arbeitet als Journalist in der Türkei.