Stillstand in der Kurdenpolitik – Der türkische Regierungschef Erdogan spielt auf Zeit

Inga Rogg – Neue Zürcher Zeitung – 23. 7. 2013 – Die Politik der Aussöhnung mit den Kurden in der Türkei ist festgefahren. Die Reformen kommen nicht vom Fleck. Die kurdischen Rebellen werfen der Regierung vor, den Prozess der Annäherung zu sabotieren.

Die Tränengasschwaden sind verflogen, und es ist der erste Tag, an dem Besucher wieder freien Zutritt zum Gezi-Park haben, als sich am Eingang eine denkwürdige Szene abspielt. Auf der Treppe, die vom Taksim-Platz zum Haupteingang führt, versammeln sich kurz nach Mitternacht rund hundert Personen, vor allem Männer, und diskutieren über Parolen für Demonstrationen. Grosser Beliebtheit erfreut sich unter Kemalisten der Slogan: «Wir sind die Soldaten von Mustafa Kemal.» Als ein etwa 30-jähriger Türke dafür plädiert, diesen Slogan sollten alle übernehmen, weil sich darin der fortschrittliche Charakter der Gezi-Bewegung ausdrücke, meldet sich ein junger Kurde zu Wort. «Ich mag Mustafa Kemal nicht so», sagte er. «Als Kurde würde ich eher sagen: «Wir sind die Soldaten von Abdullah Öcalan. Aber das mögen andere nicht. Vielleicht sollten wir einfach auf solche Parolen verzichten.»

Dialog statt Kampf

Nicht nur sein Vorredner, auch andere sind über die Gleichsetzung des Republikgründers mit dem inhaftierten Chef der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sichtlich empört. Die Hände schnellen nach oben, und für kurze Zeit steigt der Spiegel der Emotionen deutlich. Doch der Kurde darf ausreden, und die Diskussion geht ruhig, wenn auch teilweise leidenschaftlich weiter. Dass türkische und kurdische Nationalisten für einmal nicht aufeinander einprügeln, sondern miteinander reden, sagt viel über den Geist der Gezi-Bewegung aus. Der gemeinsame Kampf hat Brücken gebaut. Dabei ist keineswegs alles eitel Sonnenschein.

Eine andere Szene während der zweiwöchigen Besetzung des Gezi-Parks im Juni: Kurden haben auf einer Plattform neben der Treppe einen Stand aufgebaut. Dort wehen Fahnen mit dem Konterfei von Öcalan und Symbolen der PKK, und das mitten in Istanbul. Türkischen Nationalisten, die im Park ein grosses Bild von einem General aufgehängt haben, passt das gar nicht. Zwischen den beiden Seiten kommt es zum Handgemenge, doch Aktivisten trennen die Streithähne. Für den Türken Sirri Süreyya Önder, Abgeordneter der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), ist eines der wichtigsten Ergebnisse der Protestbewegung, dass sie Wege für eine Aussöhnung zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Türkei aufzeige.

Wenn heute in der Türkei nur noch ultrarechte Nationalisten die Existenz der Kurden leugnen, ist das auch der Politik von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zu verdanken. Viel hat sich geändert im letzten Jahrzehnt. Kurdische Dörfer werden heute nicht mehr zerstört, Sonderkommandos verschleppen und ermorden im Südosten keine Menschen mehr, Kurden müssen auch nicht mehr fürchten, im Gefängnis zu landen, nur weil sie kurdische Musik hören. Wirtschaftlich geht es den kurdischen Gebieten, trotz der nach wie vor verbreiteten Armut, besser als früher. Dass die Regierung Gespräche mit Öcalan führt, wäre vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen.

Erdogan ist damit zweifellos ein politisches Wagnis eingegangen, riskiert er damit doch die Stimmen der politisch heimatlosen säkularen, nationalistischen Wähler, die einen grossen Teil zu seinen Wahlerfolgen beitrugen. Wichtig wäre deshalb eine breit geführte öffentliche Debatte über den sogenannten Friedensprozess. Önder trifft mit seinem Hinweis auf die Versöhnung den entscheidenden Kern. Im Gezi-Park ging es nicht nur bunt, lustig und subversiv zu, es wurde auch viel und ernsthaft diskutiert und nach Kompromissen gesucht. «Im Gezi-Park haben wir gelernt, einander zuzuhören und Verständnis für die Probleme von anderen zu entwickeln», sagen Aktivisten oft. Ein kluger Regierungschef hätte diesen Geist aufgegriffen. Denn es ist genau dieser Geist, der dem Land bisher gefehlt hat und der den Friedensprozess voranbringen könnte.

Ausbau von Polizeiposten

Stattdessen hat sich Erdogan in seinem Verschwörungswahn zur Behauptung verstiegen, die Gezi-Bewegung torpediere den Friedensprozess. Dabei hat sich die BDP während der Proteste zurückgehalten, um diesen nicht zu gefährden. Die BDP hat es auch geschluckt, dass Erdogan sie als Verhandlungspartnerin weitgehend ignoriert und ihre Vertreter zu Boten zwischen Öcalan, der auf der Marmara-Insel Imrali inhaftiert ist, und dem PKK-Hauptquartier in den nordirakischen Kandil-Bergen degradiert hat.

Anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes Newroz hatte Önder im März in der heimlichen Hauptstadt der Kurden, Diyarbakir, den Brief verlesen, in dem Öcalan zu einem Waffenstillstand aufrief. Wenige Wochen später begann die PKK mit dem Abzug ihrer Kämpfer aus der Türkei. Im Gegenzug erwartet die BDP Reformen, doch diese kommen nicht in Gang. Eine Revision des Anti-Terror-Gesetzes zur Stärkung der Meinungsfreiheit im April blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Derweil errichtet die Regierung in Gebieten, die sich wegen der PKK-Präsenz bisher der staatlichen Kontrolle entzogen haben, neue Polizeiposten und baut alte zu Festungen aus.

Die Kurden rebellieren dagegen. Als Jugendliche Ende Juni in Lice, rund 50 Kilometer nördlich von Diyarbakir, gegen einen solchen Posten protestierten, erschoss die paramilitärische Gendarmerie den 18-jährigen Medeni Yildirim. Allein in Istanbul folgten mehrere tausend einem Protestaufruf der Gezi-Aktivisten – wohl erstmals in der türkischen Geschichte demonstrierten auch Türken für die Belange der Kurden. An einer kleinen, von der Stadtverwaltung mehrmals zerstörten, von Aktivisten aber immer wieder errichteten Gedenkstätte im Gezi-Park findet sich auch der Name von Yildirim. Die Regierung hat versucht, den Todesfall als Folge eines Konflikts um Drogengelder darzustellen, doch Menschenrechtler haben dieser Version widersprochen und sehen darin einen Vertuschungsversuch.

Neben dem Ausbau der Sicherheitsposten hat die Regierung das «Dorfschützer»-Programm neu aufgelegt. Hunderte von solchen kurdischen Milizionären, die als Hilfstruppen im Kampf gegen die PKK dienen, wurden in jüngster Zeit rekrutiert. Beobachter sehen darin einen Versuch von Erdogan, die Wählerbasis seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) unter den Kurden zu vergrössern. Für viele Kurden kommt es dagegen fast einer Kriegserklärung gleich. So spielt Erdogan der PKK in die Hände. Die jungen Kurden, wie der Sprecher auf der Treppe zum Gezi-Park, sind ungeduldig. Alle Verbesserungen verdanken sie aus ihrer Sicht dem Kampf von Öcalan und der PKK. Sie wollen mehr, und das schnell. Doch Erdogan zögert, scheint auf Zeit zu spielen.

Laut der BDP hat die PKK mittlerweile vier Fünftel ihrer Kämpfer aus der Türkei abgezogen, Erdogan behauptet dagegen, es seien erst 15 Prozent und hat den kompletten Abzug zur Bedingung für die sogenannte zweite Phase des Friedensprozesses gemacht. Mitglieder des von ihm eingesetzten «Rats der Weisen» sollen im August durchs Land fahren, um die Werbetrommel zu rühren. Mittlerweile fragen sich nicht nur Kurden, wofür sie überhaupt noch werben sollen. Wichtigen Anliegen der Kurden wie die Senkung der Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament oder muttersprachlicher Unterricht an Grundschulen erteilte Erdogan kürzlich eine Absage. Die Parteien müssten eben hart arbeiten, um die Sperrklausel zu überwinden, erklärte Erdogan laut Teilnehmern an einem Treffen des «Rats der Weisen» Ende Juni lapidar. Für Regionalparteien wie die BDP ist das freilich so gut wie unmöglich, sie schaffte den Einzug ins Parlament nur, weil sie ihre Kandidaten als «Unabhängige» ins Rennen schickte.

Die BDP hat für den Sommer Protestveranstaltungen angekündigt, um ihren Forderungen nach Reformen zu mehr Nachdruck zu verhelfen. Dass die Polizei bei der ersten dieser Demonstrationen in Diyarbakir Tränengas einsetzte und es Verletzte gab, ist kein gutes Omen. Gleichzeitig häufen sich in regierungsnahen Blättern Berichte über angebliche Kriegsvorbereitungen der PKK. Dabei wird Cemil Bayik, der im Juli Murat Karayilan an der Spitze der Organisation ablöste, als Hardliner bezeichnet, der Iran nahestehe. In einem Interview mit der NZZ hatte sich Bayik schon 2006 für eine Lösung auf dem Verhandlungsweg ausgesprochen. «Wir wollen keinen Staat und keine Autonomie, sondern volle kulturelle und demokratische Rechte», sagt Bayik damals.

Vertiefung alter Gräben

Angesichts von schätzungsweise 40 000 Toten, die der fast dreissigjährige Krieg gefordert hat, ist das Misstrauen auf beiden Seiten tief. Dass aus den PKK-Kämpfern nicht plötzlich Friedenstauben werden und sie in den Kandil-Bergen weiterhin für den Krieg üben, davon darf man ausgehen. In einer Erklärung sprach die PKK-Führung eine «letzte Warnung» aus. Die Regierung müsse schnellstmöglich konkrete Schritte unternehmen, andernfalls trage sie die Verantwortung für den Stillstand im Friedensprozess, heisst es in der Erklärung. Konkret fordern die Rebellen, dass Öcalans Gesundheitszustand von unabhängiger Seite geprüft wird sowie regelmässige Besuche durch die BDP. Darüber hinaus verlangen sie aber auch, dass die Türkei die angebliche Unterstützung für arabische Extremisten in Syrien gegen die dortigen Kurden einstellt. Neuerdings haben Rebellen vereinzelt Angriffe in der Türkei verübt. Umso wichtiger wäre es, dass Erdogan der BDP entgegenkommt. Der Regierungschef hätte es in der Hand, binnen Tagen die drakonischen Anti-Terror-Gesetze zu entschärfen und damit den Weg für die Freilassung von Hunderten von Kurden, die wegen ihrer Gesinnung im Gefängnis sässen, freizumachen, sagte der BDP-Co-Vorsitzende Selahattin Dermirtas.

Mittlerweile hat sich das Parlament in die Sommerpause verabschiedet, ohne die lange erwartete Reform anzupacken. Die neue Legislaturperiode beginnt im Oktober, im kommenden März stehen Parlamentswahlen und einige Monate später Präsidentschaftswahlen an. Ministerpräsident Erdogan befindet sich bereits voll im Wahlkampfmodus. Mit seiner ständigen Hetze gegen die Gezi-Bewegung hat er das Land enorm polarisiert. Wie in dieser aufgeheizten Atmosphäre der Friedensprozess vorankommen soll, ist ein Rätsel.

Der einzige Hoffnungsschimmer scheinen derzeit Ankündigungen von AKP-Politikern zu sein, die parlamentarische Sommerpause zu verkürzen, um die Gesetzesrevision voranzubringen. Die Entscheidung ist freilich Chefsache. Er sei, wie er sei, hatte Erdogan auf dem Höhepunkt der Proteste seinen Kritikern trotzig entgegengeschleudert. Mit diesem autoritären Stil verschafft er der PKK Rückenwind. Sie hat so viel Zulauf wie seit langem nicht mehr.

http://www.nzz.ch/aktuell/international/auslandnachrichten/der-tuerkische-regierungschef-erdogan-spielt-auf-zeit-1.18121113