SPECIAL REPORT: UN Bericht zu extralegalen, standrechtlichen & willkürlichen Hinrichtungen

Demokratisches Türkeiforum, Sonderbericht vom 09.12.2012

Nach einem Besuch von Christof Heyns, dem Berichterstatter der UN zu extralegalen, standrechtlichen und willkürlichen Hinrichtungen (en: United Nations Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions) vom 26-30 November 2012 hat dieser einen vorläufigen Bericht über seine Beobachtungen heraus gegeben. Er wurde am 30. November 2012 in Ankara veröffentlicht und ist in voller Länge (Englisch) auf dieser Seite der UN zu finden:(http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=12850&LangID=E . Das DTF hat daraus eine zusammenfassende Übersetzung gemacht.

Vorbemerkungen

Der Besuch erfolgte auf Einladung der Türkei und führte nach Ankara, Diyarbakir und informell auch nach Istanbul. Es fanden Treffen auf ministerieller Ebene statt. Daneben wurde das Gefängnis in Sincan besucht. In Diyarbakir gab es ein Gespräch mit dem stellvertretenden Gouverneur. Daneben fanden viele Gespräche mit Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO), Richtern, Staatsanwälten und Akademiker statt. Es ging bei den Gesprächen um das Recht auf Leben und wie ungesetzliche Tötungen verhindert werden können. Hinzu kam die Frage, wie Rechenschaft für Ereignisse in der Vergangenheit verlangt und die Familien der Opfer entschädigt werden. Ein endgültiger Bericht wird dem Menschenrechtsrat der UN bei der 23. Sitzung im Jahre 2013 vorgelegt werden.

Der letzte Bericht der Vorgängerin von Herrn Heyns, Frau Asma Jahangir hatte im Jahr 2001 stattgefunden. Seitdem hat die Türkei einen enormen Fortschritt im Bereich der Menschenrechte und auch in Bezug auf der Recht auf Leben gemacht. Die dunklen Tage der 1990er Jahre sind vorüber. Für extralegale Hinrichtungen, Folter und Fälle von Verschwindenlassen gelten neue Maßstäbe. Die Abschaffung der Todesstrafe im Jahre 2004 war ein Durchbruch. Besorgnis zum Recht auf Leben aber bleibt, sowohl was Tötungen aus der neueren Zeit als auch was Rechenschaft für vergangene Ereignisse anbetrifft.

Die Regierung hat versprochen, Informationen über ungesetzliche Tötungen bereitzustellen. Sie werden mit den Angaben von anderen Quellen verglichen werden. Es gab Berichte zu folgenden Akten von Morden: bei terroristischen Aktionen als auch bei Aktionen zur Abwehr von Terrorismus, Anwendung extremer Gewalt durch Sicherheitskräfte, Todesfälle in Haft und in Folge von Folter, zweifelhafte Todesfälle im Militär, Morde durch unerkannte Täter, Ehrenmorde und Gewalt in der Familie, wobei es besonders zu Morden an Frauen und Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender Personen kommt, Morde an Journalisten und Menschenrechtlern, Morde an Angehörigen religiöser Minderheiten sowie Tote durch Landminen und Explosiva.

Übertretungen durch staatliche Akteure

Während des Besuches wurde wiederholt auf Tötungen durch Anwendung übertriebener Gewalt von Akteuren des Staates, besonders bei Festnahmen und Demonstrationen hingewiesen. Es sollte nur im äußersten Notfall zur Anwendung von tödlicher Gewalt kommen. Die gesetzliche Grundlage bieten das Gesetz 3713 zur Bekämpfung des Terrorismus (ATG = Anti-Terror-Gesetz), das 2006 geändert wurde, das Gesetz 5681 zu Pflichten und Kompetenzen der Polizei (Fassung von 2007) und das Gesetz 2803 zur Organisation, den Pflichten und Kompetenzen der Gendarmerie.

Die erst vor Kurzem verabschiedeten Gesetze gewähren der Polizei und den Sicherheitskräften vage und daher potentiell weite Rechte, Gewalt anzuwenden, die über international eingeräumte Rechte hinaus gehen… Es sollte auch notiert werden, dass “nicht tödliche Waffen” wie Pfeffer- oder Tränengas zu tödlichen Waffen werden können. Diese Fälle müssen, wenn es nicht um die Rettung von Leben ging, als ungesetzliche Tötungen angesehen werden.

Morde durch nicht-staatliche Akteure

Hier geht es in erster Linie um die so genannten Ehrenmorde an Frauen. Einer Menschenrechtsorganisation zufolge wurden 2011 neun Frauen das Opfer von Ehrenmorde. In einer Statistik, die die Regierung zur Verfügung stellte, waren es 35 Ehrenmorde in den ersten neun Monaten des Jahres 2012. Die zivile Gesellschaft und das Ministerium für Familien und Sozialpolitik sollte für das Gesetz 6284 vom 8. März 2012 gelobt werden, in dem es um den Schutz der Familie und die Verhinderung von Gewalt gegen Frauen geht. Die Regierung muss die Umsetzung dieses Gesetzes beobachten und offizielle Stellen müssen Offenheit für Organisationen der zivilen Gesellschaft zeigen, damit die gesetzlichen Bestimmungen erfolgreich sind.

Zu loben ist auch die Ratifizierung der Konvention des Europarates zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (die “Istanbul Konvention”). Das neue Strafgesetz aus dem Jahr 2005 betont die Ernsthaftigkeit von Gewalt gegen Frauen. Enttäuschend aber ist, dass der Artikel 82 von Morden wegen eines “Brauches” (tr: töre) und nicht von Ehrenmorden (tr: namus cinayetleri) spricht.

Straflosigkeit

Das Problem der Straflosigkeit bei ungesetzlichen Morden besteht sowohl für die 1990er Jahre, aber auch bezüglich Morde aus jüngerer Zeit. Zu den Morden in den 1990er Jahre gibt es nur eine Handvoll von Strafverfahren. Der politische Wille scheint zu fehlen und je länger solche Verfahren hinaus gezögert werden, um so schwerer wird es, verlässliche Beweise zu sichern, die Verantwortlichen zu Lebzeiten zur Verantwortung zu ziehen und auch das Problem der Verjährung existiert.

Ich wurde auch auf die Existenz von Massengräbern in der Türkei aufmerksam gemacht. Sie sollen aus der Zeit nach 1980 stammen und in ihnen sollen sowohl Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen als auch illegale Militante beerdigt sein. Es haben einige Ausgrabungen stattgefunden, aber ich möchte die Bedeutung des politischen Willens betonen, der es möglich macht, dass die Wahrheit zu diesen Gräbern ans Tageslicht kommt. Hier sollte nach dem Minnesota Protokoll der Vereinten Nationen vorgegangen werden.

Auch die Ermittlungen bei Morden der jüngeren Vergangenheit sind langsam und nicht geeignet, um Verfahren in Fällen, in denen Personen umkamen, zu eröffnen. Neben der Gerichtsbarkeit (Staatsanwälte und Richter) trägt auch die Gerichtsmedizin eine große Verantwortung. Es gibt auch keinen unabhängigen Beschwerdemechanismus. Es gibt durchaus Anstrengungen, Verfahren in der Türkei zu beschleunigen. Dazu gehört das 3. Reformpaket der Justiz und die Erhöhung der Anzahl von Richtern am Kassationshof.

Hinzu kommt das Problem der Verjährung. Morde, die vor der Gesetzesreform von 2005 verübt wurden, verjähren nach 20 Jahren (nach dem Gesetz 765). Nach dem neuen Strafgesetz dürfen Verfahren, in denen die Höchststrafe (erschwerte lebenslange Haft) gefordert ist, bis zu 30 Jahren dauern. Nur Völkermord und Verbrechen gegen die Menschheit verjähren nicht. Mir wurde gesagt, dass im 4. Reformpaket der Justiz vorgesehen ist, dass es auch bei Folter keine Verjährung mehr geben soll. Es sollte in allen Fällen von Mord keine Verjährungsfristen geben. Obwohl mittlerweile nach dem Gesetz 4483 keine Erlaubnis mehr notwendig ist, um gegen Beamte zu ermitteln, denken viele Staatsanwälte, dass dies immer noch der Fall ist, und verzichten daher auf die Eröffnung von Ermittlungen.

Ein weiteres Hindernis für die Eröffnung von Verfahren ist die Einschüchterung der Familien der Opfer oder von Menschenrechtsorganisationen. Auch die geringen Erfolgsaussichten halten viele Leute davon ab, Anzeige zu erstatten. Ein oft angewandtes Mittel besteht in der Eröffnung von Gegenverfahren, in denen behauptet wird, dass das Opfer sich gewaltsam gegen eine Festnahme oder polizeiliche Anordnung wehrte. Solche Verfahren werden oft schneller eröffnet als die Verfahren wegen der eigentlichen Straftat und oft werden in diesen Verfahren höhere Strafe gefordert, als in Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen.

Aufschlussreich ist auch die Tatsache, dass etliche Verfahren nicht aufgrund von Taten gegen Individuen sondern eines Deliktes gegen den Staat eröffnet werden. So wird das Verfahren gegen die überlebenden Führer des Militärputsches vom 12. September 1980, Kenan Evren und Tahsin Sahinkaya nicht wegen den Personen angeklagt, die in Haft starben, getötet oder gefoltert wurden, sondern weil sie das Parlament und die verfassungsmäßige Ordnung beseitigten. Auch der PKK Führer Abdullah Öcalan wurde nicht wegen Mordes angeklagt, sondern weil er einen Aufstand gegen den Staat machte.

Rolle von Mechanismen

Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene wurden eine Reihe von Initiativen gestartet, um gegen die oben geschilderten Missstände vorzugehen. Ein wichtiger Punkt ist, dass Einzelpersonen nun das Verfassungsgericht anrufen können, wenn ihre Menschenrechte verletzt wurden. Am 21. Juni 2012 wurde die Einrichtung einer Menschenrechtsinstitution beschlossen (damit soll das Präsidialamt Menschenrechte ersetzt werden). Es wurden 11 starke Mitglieder in dieses Gremium berufen. Die Kritik an dieser Institution bezieht sich vor allem auf die Abhängigkeit vom Ministerpräsidium (auch in finanzieller Hinsicht) und mangelnde Beteiligung von Organisationen der zivilen Gesellschaft. Es könnte deswegen vielleicht nicht mit der Charta von Paris im Einklang stehen.

Die Ernennung eine Ombudsmans ist ebenfalls ein Schritt in die richtige Richtung. Es könnte aber sein, dass der ernannte Mehmet Nihat Omeroglu nicht das notwendige Vertrauen der Öffentlichkeit gewinnt, weil er als Richter am Kassationshof an der Verurteilung von Hrant Dink wegen Beleidigung der türkischen Nation beteiligt war. In struktureller Hinsicht ist zu kritisieren, dass das Mandat des Ombudsmans sich nicht auf militärische Aktionen der Streitkräfte bezieht. Es steht zu befürchten, dass etliche Übertretungen als militärische Aktionen bewertet werden.

Gesetzliche Lage

Artikel 17 der Verfassung garantiert das Recht auf Leben, um danach aber eine Reihe von unqualifizierten Ausnahmen zu definieren. Es würde internationalen Normen besser entsprechen, wenn formuliert würde, dass jedermann das Recht auf Schutz gegen willkürlichen Entzug des Rechts auf Leben hat.

Wichtig war, dass die Türkei die Anti-Folter Konvention der UN im August 1988 und das Optionale Protokoll dazu im September 2011 ratifizierte. Dieses sieht die Einrichtung eines präventiven Mechanismus vor. Mir wurde gesagt, dass dies momentan diskutiert wird. Eine baldige Umsetzung wäre wichtig. Die Türkei ist der Konvention zum Schutz aller Personen vor erzwungenem Verschwindenlassen nicht beigetreten und auch dem Statut von Rom wurde nicht beigetreten. Beides wäre wichtig für den Schutz der Menschenrechte allgemein und dem Recht auf Leben insbesondere.

Schlussfolgerungen

Es hat eine Reihe vielversprechender und positiven Entwicklungen und Versprechungen für die Zukunft gegeben. Der ultimative Test besteht in der Art wie sie umgesetzt werden. Es besteht eine dringende Notwendigkeit die Straflosigkeit für vergangene und aktuelle Verletzungen der Menschenrechte zu beenden. Weitere Schritte sollten folgen:

  • Ein unabhängiges Gremium für Ermittlungen bei ungeklärten politischen Morden sollte eingerichtet werden, um zu den ausstehenden Fällen zu ermitteln. Das Vorgehen bei der Einrichtung eines solchen Gremiums sollte transparent sein und möglichst viele Kreise einbeziehen.
  • Bis dahin sollten unabhängige gerichtsmedizinische Studien zu den Massengräbern stattfinden, die sich am Minnesota Protokoll orientieren.
  • Die Türkei sollte die Verjährungsfristen nicht nur für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und in Zukunft Folter, sondern auch für andere Verletzungen des Rechts auf Leben aufheben.
  • Die Türkei sollte sich auch überlegen, wie sie besser mit dem Menschenrechtssystem der Vereinten Nationen und der OSZE kooperieren kann.