SKEPTISCHE BETRACHTUNGEN ZUM SOGENANNTEN „FRIEDENSPROZESS“

Reportage mit Bahoz Erdal über den Rückzug der Guerilla

Der Journalist Hasan Cemal hat sich für eine Reportage, die am 14.05.2013 in der unabhängigen Internetzeitung T24 veröffentlicht wurde, mit dem führenden Kommandanten der Volksverteidgungskräfte (HPG) Bahoz Erdal getroffen.

Hasan Cemal: Warum haben Sie sich der PKK angeschlossen?

Bahoz Erdal: Weil sie uns betrogen haben! Früher gab es hier im Osmanischen Reich keine Grenzen. Die KurdInnen pendelten zwischen dem Norden und dem Süden hin und her. Die Grenzen wurden später gezogen. Wie in Syrien, Irak und der Türkei … Wir waren keine Staatsangehörige in diesen Länder. In unseren Papieren in Syrien stand, „Migranten aus der Türkei“. Und die Türkei nennt mich „syrischer Terrorist“ …

Ich spreche mit ihm über den Rückzug. Bahoz Erdal, der für den Rückzug der bewaffneten Kräfte der PKK aus dem türkischen Staatsgebiet verantwortlich ist, sagte, dass sie die Phase sehr ernst nehmen, es jedoch einige Bedenken gebe. Erdal erklärte: Es gibt keinerlei Papiere, die von Seiten des Staates unterzeichnet wurden. Es gibt keine Einigung oder einen Beschluss des Parlaments. Zwei bewaffnete Kräfte haben sich 29 Jahre lang bekämpft. Jetzt, wo der Rückzug begonnen hat, gibt es ein hohes Risiko, dass Gefechte zwischen diesen beiden bewaffneten Kräften aufflammen könnten. Der Staat hat keinen Waffenstillstand verkündet … Wir haben als PKK, sowohl über Instrumente, als auch schriftlich unseren Kadern gesagt: „In der Phase des Rückzugs wird geplant, organisiert und zielstrebig keine einzige Kugel abgefeuert“. Es gab bis jetzt keine Gefechte. Aber die Guerilla zeigt sich sehr umsichtig. Damit es zu keinen Gefechten kommt, werden eigentlich einstündige Wege in den Bergen auf bis zu 3 bis 4 Stunden verlängert. Diesen Prozess hat unser Vorsitzende initiiert. Wir unterstützen diesen. Nicht weil wir dem Staat vertrauen. Wir bewegen uns nachts, denn wir wollen das Risiko von Gefechten auf ein Minimum reduzieren.

Bahoz Erdal ist jemand, der emotional und gestenreich redet und diskutiert. Er erklärt weiter: Wir tragen unseren Teil bei. Ich rede jeden Tag über das Radio. Das türkische Militär ist angespannt. Bei einer falschen Bewegung würde seine Geduld platzen. Daher müssen wir sehr vorsichtig sein!

Bahoz Erdal hat bezugnehmend auf diesen Punkt einige Kritikpunkte an die türkische Seite. Er fasst diese unter vier Punkten zusammen:

1. Das Ausspionieren durch Drohnen über den Bergen …

2. Das Ansteigen der Anzahl der Dorfschützer …

3. Der beschleunigte Ausbau von Militärposten …

4. Das deutliche Ansteigen militärischer Einheiten und Aktivitäten

Bahoz Erdal erklärte, dass diese vier Punkte auf ihrer Seite „Nervosität“ erzeugt und fuhr wie folgt fort: Es nicht so viele Drohnen. In Amed haben 48 und in Dersim 22 Bauarbeiten für Militärposten begonnen. All diese Punkte haben das Potential uns zu provozieren. Es gibt eine Waffenruhe. Warum so viele Militärposten? Warum so viele Drohnenflüge? Warum so viele Dorfschützer? (…)

Während des Gesprächs über 1999 kommt Bahoz Erdal auf den Rückzug von 1999 zu sprechen: Wir werden nicht erlauben, dass etwas wie 1999 wieder passiert. Wir werden nicht erlauben, dass es zu Situationen kommt mit Potentialen von Gefechten. Ab schauen Sie, die eine Seite verlässt den Kriegsplatz und die andere nicht. (…) Wenn die Guerilla sich nicht in Bewegung befände, wäre das Risiko von Gefechten sehr gering. Es ist im Moment 10.30 Uhr abends und dutzende Guerillas befinden in Bewegung von Norden nach Süden. Daher muss man aufpassen, damit die Phase des Rückzugs nicht unterbrochen wird.

Auf meine Frage, wann der Rückzug abgeschlossen sein wird, antwortet er wie folgt: Falls der Staat die Waffenruge beibehält, wird der Rückzug der bewaffneten Einheiten der PKK weitgehend in zwei Monaten abgeschlossen sein. Falls jedoch die oben genannten Punkte weitergehen, wird der Rückzug bis zum Herbst dauern.

Hasan Cemal: Sind sie glücklich über diese Phase?

Bahoz Erdal: Wir sind glücklich über den Frieden. Aber nicht weil wir dem Staat vertrauen, sondern weil wir unseren eigenen Kraft vertrauen.

Bahoz Erdal betonte, dass die Kurden in der Türkei 90 Jahren lang betrogen worden sind:

90 Jahre lang wurden Kurdinnen und Kurden betrogen, assimiliert, turkisiert und massakriert. Nun fragen Sie, wie sie der PKK vertrauen sollen. Doch es herrscht das genaue Gegenteil: In diesem Land wurde den Kurdinnen und Kurden ihre Sprache verboten, wer will diesem Land vertrauen? Viertausend Dörfer wurden niedergebrannt und zerstört. Wir mussten all dies erleiden. Wir müssten eigentlich fragen: Wie sollen wir solch einem Staat vertrauen?

Zum diesem Thema fährt Bahoz Erdal wie folgt fort: Wird denn geglaubt, dass muttersprachlicher Unterricht die Türkei spalten wird, und die Assimilations- und Verleugnungspolitik sie zusammenbringt? 

Nach unserem nächtlichen Gespräch mit Bahoz Erdal im Haus eines Dorfes, haben wir am nächsten Morgen in einem PKK-Camp, einem Guerillastützpunkt, im Metina-Gebiet unsere Diskussion fortgeführt. Meine Frage an Bahoz Erdal richtete sich auf einen möglichen Abbruch des Friedensprozesses: 

Hasan Cemal: Wenn die AKP in Hinblick auf die Demokratisierung keine genügenden Schritte tätigt, wenn sie keine Basis für einen Frieden schaffen, wird dann der bewaffnete Kampf zu einer Alternative?

Bahoz Erdal antwortete mit einer Aufzählung:

1. Für unseren Vorsitzenden ist der Prozess von einer langfristig strategischen Bedeutung. Es handelt sich also um kein taktisches Vorhaben. Auch der Staat sollte den Prozess auf dieselbe Weise bewerten.

2. Beide Seiten sollten den gegenwärtigen Prozess weder als einen persönlichen Sieg über die andere Partei noch als eine persönliche Niederlage bewerten. Ein Lösungsprozess käme hingegen einem Erfolg für beide Seiten gleich.

3. Ich denke auch, dass weder eine zu optimistische Grundhaltung noch eine pessimistische Einstellung gegenüber dem Prozess angebracht sind. Beide Haltungen gibt es allerdings sowohl auf kurdischer als auch auf türkischer Seite.

4. Gegenüber der PKK sollte nicht gesagt werden, „sie sind wie 1999 auf und davongegangen“. Damals wurden vier Jahre verschwendet. Es ist in jener Zeit [nach dem Rückzug 1999] nichts geschehen. Das darf sich nicht wiederholen. Wenn der Staat sich erneut einbildet, die PKK spalten oder gar eliminieren zu können, dann werden wir die Reaktion unserer Bevölkerung hierauf nicht aufhalten.

5. Der gegenwärtige Prozess war und ist für unsere Seite mit Schwierigkeiten verbunden. Unsere Kräfte davon zu überzeugen, aus Nordkurdistan hierher zu kommen, ist nicht einfach gewesen. Wenn Sie hier an den Funkgeräten gewesen wären, hätten sie das mitverfolgen können. Die häufigste Frage, die uns gestellt wird, ist, wie es um unseren Vorsitzenden stehen wird. Das ist für die Guerilla ein sehr sensibles Thema. Sie wollen natürlich ihren Vorsitzenden, vielleicht über den Weg des Hausarrests, in Freiheit sehen.

Schauen Sie, wir tun alles, was in unserer Hand liegt. Ein Waffenstillstand ohne Bedingungen, ein Rückzug ohne Bedingungen … Der Staat sollte das auch sehen … Jetzt aber die Forderung nach Niederlegung der Waffen anzuführen, wäre der falsche Zeitpunkt. Das zu diesem Zeitpunkt zu fordern, kommt einer Aufforderung zur Selbstaufgabe gleich. Und sagen wir die PKK würde dem Nachkommen ohne, dass die kurdische Frage gelöst wird. Dann versichere ich Ihnen, dass andere Organisationen entstehen würden, die vielleicht zehn Mal so radikal wie die PKK sind, und sich diesem Kampf annehmen würden. Es geht also nicht darum, die Waffen niederzulegen, es geht um die Lösung der kurdischen Frage. Es geht also darum, die Ursachen dafür, dass die Menschen in die Berge gehen und die Waffe in Hand nehmen, aus der Welt zu schaffen.“ 

Als wir auf den türkischen Nationalismus zu sprechen kommen, gibt es von Bahoz Erdal einiges an Kritik, die mit folgenden Worten zum Ausdruck bringt: In diesem Land [Türkei] gibt es mindesten 20 Mio. Kurdinnen und Kurden. Was wollt ihr nun machen? Ihr konntet diese Kurden nicht assimilieren. Der türkische Nationalismus baut auf der Feindschaft zu den Kurden auf. Der Staat hat dies seit 80 Jahren gefördert. Die offizielle Geschichtsschreibung hat dies niedergeschrieben und manifestiert. Hier bedarf es eines ernsthaften Mentalitätswechsels. 

Quelle: t24.com, 14.05.2013, ISKUhttp://t24.com.tr/yazi/bahoz-erdal-bugun-silahi-bir-kenara-koyuyoruz-ama-bu-silahi-birakmak-demek-degil/6696