SAVE HASANKEYF : Riesenstaudamm bedroht Mensch und Umwelt

Von Frank Nordhausen – Berliner Zeitung – 16.10.2013 – Im Südosten der Türkei baut die Regierung Erdogan einen riesigen Staudamm. Er bedroht Mensch, Umwelt und Kulturerbe. Jahrzehntelanger Widerstand blieb erfolglos. Nun gibt es für die Naturschützer neue Hoffnung. – Der Häuptling vom Amazonas steht am Tigris und ist beeindruckt. Megaron Txucarramae vom Stamm der Kayapo blickt wie gebannt hinüber auf die andere Seite der Schlucht.

Wie eine Märchenstadt liegt dort Hasankeyf, eine pittoreske Felsensiedlung aus safrangelben Sandsteinspitzen, verfallenden Wohnresidenzen und Moscheen. Unten fließt breit und mächtig der Tigris. Der Mann mit dem zum Zopf gebundenen Haar sagt, er wolle nun Kontakt aufzunehmen „mit dem Geist des Wassers“. Er will den Strom spüren, der hier, im äußersten Südosten der Türkei, einen gewaltigen See bilden wird, wenn der Staudamm von Ilisu das Tal flutet und Hasankeyf darin versinkt. Der Häuptling klettert den Hang hinunter, zieht seine Sandalen aus und lässt das Wasser seine Füße umspielen.

Im Wasser des Tigris standen schon viele. In dieser Region soll der Mensch vom Jäger zum sesshaften Bauern geworden sein. Manche nennen Mesopotamien die Wiege der Zivilisation. Hier standen die ersten menschlichen Siedlungen, fanden die ersten großen Schlachten statt, wurden die ersten Tempel errichtet. Fast nirgends liegt menschliche Geschichte so dicht übereinander wie in Hasankeyf, das heute 2 900 Einwohner zählt. Schon von Weitem sieht man Ruinen von Brückenpfeilern im Fluss stehen und Hunderte von Höhlen, die einst in die Sandsteinfelsen geschlagen wurden.

Megaloman und rücksichtslos

Hasankeyf ist nicht nur die einzige aus dem Mittelalter erhaltene Stadt in Mesopotamien, ihre Geschichte reicht sogar über zehntausend Jahre zurück. Da sich hier der Tigris relativ leicht überqueren lässt, kamen Hethiter, Sumerer und Römer, Araber, Mongolen und Kurden und schließlich Türken. Doch nur ein winziger Teil der Region ist bisher archäologisch erschlossen worden. Der Berliner Bauforscher Adolf Hoffmann, langjähriger Direktor der Istanbuler Filiale des Deutschen Archäologischen Instituts, hat jahrelang in Hasankeyf gegraben. „Das war ein komplexer Stadtorganismus. Was da verloren geht, mag man sich gar nicht ausmalen“, sagt er. „Noch liegt das meiste in der Erde. Mir fehlt jedes Verständnis dafür, dass man Hasankeyf fluten will.“

Die Einwohner von Hasankeyf lebten immer mit und vom Tigris, sie gaben ihren Töchtern oft sogar den Namen Dicle, Türkisch für Tigris. Jetzt sind es noch drei Jahre, bis Tausende Jahre Geschichte hinweggeschwemmt werden. Für etwa 1,2 Milliarden Euro baut die Regierung fünfzig Kilometer flussabwärts den 135 Meter hohen und zwei Kilometer breiten Ilisu-Damm, der den Tigris zu einem 313 Quadratkilometer großen See stauen wird. Das Wasser wird ein Kraftwerk speisen, das dem Land mehr Unabhängigkeit von ausländischem Öl und Gas bringen soll. Nur die Spitze des Minaretts der El-Risk-Moschee aus dem Jahr 1409 wird in Hasankeyf noch aus dem Wasser ragen. Bis zu 70 000 Menschen, meist kurdische Bauern, müssen umgesiedelt werden.

Zwar treffen auf Hasankeyf neun von zehn Kriterien zu, die die Unesco für den Status Weltkulturerbe fordert; die Chinesische Mauer erfüllt nur fünf, das indische Taj Mahal gerade eines. Die Türkei hat sich aber gar nicht erst bemüht, den Status für Hasankeyf zu bekommen, weil dies den Dammbau verhindern würde. Stattdessen ist Ilisu nun ein weltweites Symbol für eine megalomane, rücksichtslose Dammbaupolitik. Die Gegner des Bauwerks bezeichnen es als ein Projekt, das sämtliche internationalen Standards für den Schutz von Kulturgütern ebenso verletzt wie jene zum Schutz der Umwelt. Noch beherbergt der Tigris das einzige unzerstörte Fluss-Ökosystem der Türkei. Mit dem Damm werden zahlreiche Fisch- und Vogelarten, die es nur hier gibt, ihren Lebensraum verlieren.

“Flüsse sind heilig”

Genau deshalb ist Megaron Txucarramae vom Amazonas nach Hasankeyf gekommen. In Brasilien ist der Stammesführer eine Legende, eine Symbolfigur für den Kampf der Amazonas-Indianer um ihre Heimat. Der Mann mit den tiefen Furchen im Gesicht und der bunten Häuptlingskette um den Hals streitet dort gegen den Bau des Riesenstaudamms Belo Monte, der Zehntausende Hektar Urwald überfluten und mehr als 20.000 Menschen die Lebensgrundlage nehmen würde. In Hasankeyf möchte er Gleichgesinnte moralisch unterstützen. „Flüsse sind heilig. Wer einen Fluss zerstört, zerstört die Menschen“, sagt er.

Es ist ein kühler, wolkenverhangener Tag, als Megaron Txucarramae mit seiner Tochter mit einer Gruppe von Staudammgegnern aus der ganzen Welt am Hochufer des Tigris steht. Mit Joshua Angelie aus Kenia, Moira Millan aus Patagonien, Jason Rainey aus Kalifornien, Ulrich Eichelmann aus Wien. „Wir kommen von weit her, ich weiß wenig über die Türkei. Aber wir haben gelernt, dass ihr hier dieselben Probleme habt wie wir“, sagt Megaron in seinem langsamen Portugiesisch, als ihn Einwohner begrüßen und in einer spontanen Demonstration durch Hasankeyf geleiten. „Die Welt ist eins. Wir alle sind für sie verantwortlich.“

Zusammengetrommelt hat die ungewöhnliche Reisegesellschaft die internationale Anti-Staudamm-Initiative Damocracy. Naturschützer und Filmemacher Ulrich Eichelmann ist ein Staudammgegner der ersten Stunde. Er sagt, das einzigartige Kulturerbe dürfe nicht einem Damm mit einer Lebenserwartung von 50 Jahren zum Opfer fallen. „Rund 50 000 große Staudämme gibt es weltweit, mehr als 5 000 sind im Bau oder in Planung. Viele sagen, das sei grüne und saubere Energie, aber das ist ein Mythos. In Wahrheit bedrohen sie selbst die letzten ökologischen Paradiese der Erde, wie das Amazonasgebiet, Patagonien, Alaska, den Mekong, das Kongobecken oder den Balkan. Hasankeyf ist ein Symbol dafür.“

Vielleicht ist die symbolische Wirkung auch ein Grund, warum die türkische Regierung unter dem konservativen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan so unerbittlich an dem Projekt festhält. Der Damm, dessen Turbinen auf eine Leistung von 1 200 Megawatt kommen sollen, sei notwendig für das von Energieimporten abhängige Land, sagen die Politiker in Ankara. Die Regierung plant in den nächsten zehn Jahren den Bau von rund viertausend Staudämmen überall in Anatolien. „In keinem anderen Land der Welt werden so rücksichtslos so viele Staudämme gebaut wie in der Türkei“, sagt Ulrich Eichelmann.

Den Tigris wollte die Regierung in Ankara schon in den Fünfzigerjahren aufstauen. Damals sollte das gewaltige „Südostanatolische Projekt“ den armen kurdischen Südosten in die Moderne führen, mit Bewässerungsprojekten und Elektrizität. Doch nicht überall in der Türkei wird der „grüne Strom“ als Segen empfunden. Nicht in Hasankeyf, wo die verbliebenen Einwohner vom Tourismus leben. Nicht in der ostanatolischen Provinz Tunceli, wo Umweltschützer bisher erfolgreich verhindern, dass der Munzur-Fluss in einem Nationalpark aufgestaut wird. Nicht am Schwarzen Meer, wo Dorfbewohner wochenlang Dammbaustellen blockieren, weil sie um ihr Wasser fürchten.

In Hasankeyf haben die meisten Einwohner inzwischen resigniert. Viele Häuser stehen leer, die Bürger sind gegangen, haben die staatlichen Abfindungen genommen, um sich ein neues Leben in den Großstädten aufzubauen. Wenn der Damm planmäßig fertig wird, steht die Felsenstadt 2016 komplett unter Wasser. „Wir haben alles Mögliche getan, aber es hat nichts genutzt“, sagt der kurdische Souvenirhändler Ugr Ayhan beim Treffen mit den Staudammgegnern. Er zeigt auf einige rosa bemalte Hochhäuser, die auf den Hügeln gegenüber entstehen. „Dorthin sollen wir umziehen. Aber was sollen wir da machen?“ Teile der antiken Stadt sollen nach Plänen der türkischen Regierung zwar versetzt und in einem Kulturpark wieder aufgebaut werden. „Aber das ist Augenwischerei. Es werden keine Touristen mehr kommen, wenn die Stadt weg ist.“ Häuptling Megaron nickt. Am Amazonas würden die Indianer bestochen, um den Staudammprojekten zuzustimmen, sagt er zu dem Händler. „Bei euch passiert dasselbe wie bei uns. Man darf keinen Fluss umbringen, von dem Menschen leben.“

Gemessen an der Energie, die die türkische Regierung aufwendet, um das kontroverse Projekt durchzusetzen, scheint der Ertrag gering zu sein. Berechnungen zeigen, dass der Damm weniger als zwei Prozent des türkischen Energiebedarfs abdecken wird – nicht genug, sagen Kritiker, um die Zerstörung eines Ökosystems, der Kulturdenkmäler und der Lebensgrundlage Tausender Menschen zu rechtfertigen. „Die Türkei hat weder ihre Energiesparpotenziale noch die enormen Möglichkeiten der Wind- und Sonnenenergie genutzt, die das Land bietet. Sie setzt auf die alte Megatonnen- und Megawatt-Ideologie“, sagt Ulrich Eichelmann.

Orhan Pamuk protestiert

Zwar protestieren weltberühmte Autoren wie Orhan Pamuk und Sänger wie Tarkan gegen den Damm. Genutzt hat es aber nichts – ganz ähnlich wie am Amazonas. Dort kam vor 24 Jahren der Musiker Sting zu den Kayapo-Indios in den Urwald, sie kämpften zusammen gegen den Damm Belo Monte – mit weltweitem Echo. Zwanzig Jahre später war das Projekt wieder auf dem Tisch. „Die Regierung hat keine Achtung vor der Natur“, sagt Megaron Txucarramae.

In Ilisu sah es vor vier Jahren aus, als hätten die Staudammgegner gesiegt. Deutschland, Österreich und die Schweiz kündigten dem Baukonsortium im Juli 2009 Kreditbürgschaften in Höhe von 480 Millionen Euro, weil die Türkei klar gegen die ökologischen, sozialen und Kulturerbe-Standards der Weltbank verstieß. Nach dem Rückzug der Regierungen stiegen auch die europäische Banken und die meisten Baufirmen aus den Verträgen aus. Doch dann begann der Aufstieg des einstigen Schwellenlandes mit billigem Geld aus den USA, und die Türkei konnte die Finanzierung des Megaprojektes selbst finanzieren. Ähnliche Erfahrungen machte Häuptling Megaron in Brasilien, das ebenfalls auf die Hilfe der Weltbank verzichtete und seit 2010 den Dammbau wieder vorantreibt.

Bauherr am Tigris ist ein anatolischer Mischkonzern, der zu den Günstlingen der Regierung Erdogan gehört. Auf die gesetzlich vorgeschriebene Ausschreibung wurde verzichtet. Gab es Widerstand, änderte die Regierung die Gesetze. Vor drei Jahren machte Ankara sogar Kraftwerksbauten in Naturschutzgebieten möglich. Trotzdem erreichte im Januar 2013 die türkische Ingenieurs- und Architektenkammer beim höchsten türkischen Verwaltungsgericht in Ankara einen sofortigen Baustopp in Ilisu. Denn die Türkei hat EU-Richtlinien übernommen, nach denen eine Umweltverträglichkeitsprüfung für den Staudamm vorgeschrieben ist. Die Prüfung fand nie statt. Kurzerhand änderte das Umweltministerium die Vorschriften, und setzte die Umweltgesetze für Ilisu außer Kraft. Doch der Widerstand gegen solche rechtliche Willkür wächst. Erstmals zogen zahlreiche Umweltorganisationen gemeinsam vor Gericht.

Für die Baustelle in Ilisu hat dies freilich keine Konsequenzen. Kilometerweit graben Bagger die Landschaft um, der Tigris wird durch Tunnel umgeleitet, der Damm wächst. Deshalb haben Megaron Txucarramae und die anderen Staudammgegner zuvor für exakt 33 Minuten die Zufahrt zum Bauplatz symbolisch blockiert. Sie hielten Transparente in Englisch und Türkisch hoch, auf denen stand: „Flüsse verbinden – Dämme trennen. Stoppt Ilisu und Belo Monte“. Es war die erste Protestaktion nahe der Baustelle, in einer fast menschenleeren Landschaft mit baumlosen Bergen. Die Sicherheitsleute schauten verdutzt, bevor die angeforderte Verstärkung eintraf, räumten die Blockierer das Feld.

Letzte Hoffnung Friedensprozess

„Es müsste schon ein Wunder geschehen, wenn Ilisu noch zu stoppen wäre“, sagt der 52-jährige Ulrich Eichelmann. „Aber die Aktion sollte zeigen, dass unser Widerstand weitergehen wird, selbst wenn der Bau schon fortgeschritten ist, denn die nächsten Großstaudämme in der Türkei werden bald folgen.“ Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es noch. Die Rettung von Hasankeyf steht auf der Agenda der kurdischen Verhandlungsführer bei den seit Jahresbeginn geführten Friedensgesprächen mit der türkischen Regierung. Die Kurden wollen zumindest die Komplettflutung des Tigris-Tals verhindern, da es nur sehr wenige Orte wie Hasankeyf gibt, in denen die kurdische Kultur als architektonisches Ensemble die Jahrhunderte überdauert hat. Am Tag, als die kurdische PKK-Guerilla den Abzug ihrer Kämpfer in den Nordirak begann, kommentierte die regierungsnahe Zeitung Today’s Zaman deshalb, es sei Zeit, „Ilisu zu überdenken“.

In Hasankeyf treffen die Staudammgegner zum Abschluss ihres Besuchs mit dem Bürgermeister der nahe gelegenen kurdischen Metropole Batman zusammen. Journalisten sind da, kurdische Aktivisten, Einwohner aus Hasankeyf. Der Bürgermeister erinnert daran, dass sich der türkische Premier Erdogan als Oppositionspolitiker vehement gegen den Staudamm ausgesprochen habe. „Der Friedensprozess mischt die Karten neu. Wir werden nun alle Argumente gegen den Damm noch einmal auf den Tisch legen“, sagt er. Häuptling Megaron Txucarramae steht derweil mit verschränkten Armen auf dem Plateau am Flussufer gegenüber Hasankeyf und sagt mit seiner tiefen Stimme: „Es ist unsere Pflicht, die Natur zu beschützen. Wir hoffen, dass der Tigris weiterhin frei fließen kann.

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