SARAH WAGENKNECHT MEETS BRONSTEIN’S

Gespräche zur Krise – Nicht der Euro wird gerettet, sondern eine Ideologie

Michael Hudson ist der Patensohn von Leo Trotzki und gilt als intellektueller Kopf der Occupy-Bewegung. Sahra Wagenknecht schrieb “Freiheit statt Kapitalismus.” Eine Begegnung in Berlin

Sahra Wagenknecht ist unseren Lesern bekannt. Bei Ihnen, Michael Hudson, ist das noch nicht in dem Maße der Fall. Könnten Sie uns erzählen, woher Sie kommen und was Sie geprägt hat?

HUDSON: Ich bin in Minneapolis geboren und groß geworden, dem Zentrum der amerikanischen Arbeiterbewegung. Minnesota hatte einen Gouverneur namens Floyd Olson, der den Kapitalismus zur Hölle wünschte. Mein Vater war einer der Führer der amerikanischen Trotzkisten und kam dafür ins Gefängnis. Roosevelt und Stalin hatten zuvor einen Deal geschlossen: Wenn die amerikanischen Trotzkisten verfolgt würden, gäbe es auch keine Streiks in Kriegszeiten. Es hingen auch viele Genossen bei uns zu Hause herum, Exilanten aus Russland und Europa, auch solche, die noch Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gekannt hatten. Die habe ich als Kind sehr bewundert und mir vorgenommen, später auch mal die “Universität der Revolution” zu besuchen, also ins Gefängnis zu gehen. Das ist mir, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, aber noch nicht gelungen. Leo Trotzki war mein Taufpate. Der Eispickel, mit dem er ermordet wurde, gehörte übrigens meiner Tante. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ihr Leben ist wirklich der Stoff für einen Roman. Später haben Sie für Herman Kahn gearbeitet, den berühmten Kybernetiker und Zukunftsforscher.

HUDSON: Kahn war ja ein Stratege und Militärtheoretiker, der ein gutes Buch über nukleare Kriegsführung geschrieben hatte, schlicht clausewitzianisch “Vom Nuklearkrieg” genannt. In ihm stand, dass und wie man einen Atomkrieg überleben und gewinnen kann. Er wurde zum Vorbild für “Doktor Seltsam” in Stanley Kubricks gleichnamigem Film mit dem Untertitel “Wie ich lernte die Bombe zu lieben”. Kahn wog vierhundert Pfund! Einmal, auf Reisen in Paris, sollte ich ihm seine Hose reichen und konnte meine Arme gar nicht weit genug ausspannen, um die Taille ganz zu fassen. Er litt an Narkolepsie. Manchmal schlief er im Restaurant ein, dann fiel sein Gesicht auf den Teller. Dort wachte er kurz darauf wieder auf und führte aus, wie glänzend unsere Zukunftsaussichten seien und dass bald alle Menschen so leben und essen könnten wie er. Dabei tropfte Soße von seinem Gesicht auf die Krawatte. Alle, die dabei waren, gingen anschließend auf Diät. Wir entwickelten bald unterschiedliche Ansichten über das Wesen des Kapitalismus, insbesondere über die Wirkung des Zinseszinses, und trennten uns. Allerdings übernahm ich die meisten seiner Kunden und beriet sie mit Erfolg. Davon konnte ich mir eine Sammlung tibetanischer Kunst kaufen und Immobilien, was es mir ermöglicht, unabhängig zu bleiben und mich dem Schreiben zu widmen.

Wir wollten heute über Europa in der Staatsschuldenkrise sprechen und die Frage, ob dies nicht auch die Krise einer bestimmten Rationalität ist, eine Krise des Denkens. Wie beurteilen Sie denn die Lage, Frau Wagenknecht?

WAGENKNECHT: Ich finde die Lage sehr beängstigend, weil ich glaube, dass man in Europa auf dem völlig falschen Weg ist. Er führt nicht zur Rettung Europas, er hat ja schon nicht zur Rettung der Griechen geführt. Griechenland ist ärmer und kaputter als zu Beginn der vermeintlichen Hilfen. Es hat auch mehr Schulden als damals. All das sollte uns davon abhalten, diesen Weg weiterzugehen. Bald wird es heißen, die Rettungsmilliarden für die Griechen seien alle verbrannt. Doch das stimmt nicht. Das Geld ist nicht weg, es hat nur den Besitzer gewechselt. Aus dem Geld der Steuerzahler sind private Vermögen geworden. Denn die meisten Mittel wurden dafür verwandt, private Gläubiger, also Banken, Hedgefonds, reiche Privatanleger, Spekulanten, vor Verlusten zu schützen, indem man ihnen ermöglicht hat, Geld für Anleihen, die am Markt noch vierzig Prozent wert waren, zu hundert Prozent zurückzubekommen. Auch die exorbitanten Zinsen, für die sich Griechenland 2009 und Anfang 2010 refinanzieren musste, wurden mit dem Geld der europäischen Steuerzahler beglichen. Der einzige Posten im Budget von Griechenland, der lange Zeit von allen Kürzungsdiktaten befreit blieb, waren ausgerechnet die Zinszahlungen. Und selbst nach der sogenannten Gläubigerbeteiligung haben die Anleger immer noch sehr viel mehr bekommen, als ihr Investment am Markt wert war. Jetzt werden die griechischen Banken mit europäischem Steuergeld saniert. Das ist, glaube ich, das Entscheidende: Die Euro-Rettung wird, so, wie sie bisher praktiziert wurde, nicht den Euro retten, aber sie hat schon jetzt sehr viele Euros in den Portfolios reicher Leute in Griechenland und anderswo gerettet.

Rationalisiert wird dieses Vorgehen mit dem Gedanken, dass mit den Bankern auch deren Kunden, die vielen kleinen Sparer gerettet, werden.

WAGENKNECHT: Das ist eine Legende. Es geht um die Rettung der großen Spieler, nicht der Kleinanleger. Am Ende müssen die gigantischen Schulden, die es aktuell gibt, private wie öffentliche, ohnehin entwertet werden. Wir haben jetzt über Jahrzehnte ein Schuldenwachstum erlebt, das weit über dem realwirtschaftlichen Wachstum lag. Damit ist ein Schuldenberg entstanden, dessen Zinsansprüche nicht mehr bedient werden können.

Kurzfristig sicher nicht, aber – nur, um das zu verstehen, warum nicht in einem oder zwei Jahrhunderten?

WAGENKNECHT: Unwahrscheinlich, denn das ist ja die Logik von exponentiellen Wachstumsfunktionen: Sie wachsen immer schneller. Heute werden die Zinsen alter Schulden fast nur noch durch neue Schulden finanziert. Aber das verschärft das Problem immer weiter. Lange Zeit war es so, dass die Banken, dank deregulierter Finanzmärkte, das Schuldenwachstum finanziert und damit unverschämte Gewinne gemacht haben. 2008 war damit weitgehend Schluss. Seitdem werden die Schulden der Banken sozialisiert, das heißt, auf den Steuerzahler übertragen. Das im Zuge des vorangegangenen Finanzmarktbooms entstandene Vermögen wird dagegen in keiner Weise haftbar gemacht. So sind die Staatsschulden überall drastisch angestiegen, in einigen Ländern bis an die Grenze der Tragfähigkeit. Im Rahmen der Euro-Rettungsschirme werden jetzt die Schulden dieser Länder auf die noch solventen Staaten übertragen. Nach den letzten Gipfelbeschlüssen sollen jetzt sogar ihre Banken direkt mit europäischem Steuergeld gestützt werden. Die Banken untereinander trauen sich längst nicht mehr, weil sie wissen, dass viele von ihnen durch waghalsige Geschäfte praktisch pleite sind. Ein Zeichen für dieses Misstrauen sind die berühmten Target-Salden der Zentralbanken. Das alles zeigt, wie sich die Probleme zuspitzen. Natürlich kann man so lange Schulden vergemeinschaften und dadurch Zeit kaufen, solange es noch mindestens einen solventen Retter gibt. Aber selbst Deutschland hat inzwischen eine Schuldenquote von mehr als achtzig Prozent, und wenn die Milliardenbeträge, für die wir bereits heute haften, fällig werden, gehen wir stramm auf hundert Prozent zu. Das muss im Crash enden.

HUDSON: Statt der Banken wird eine Ideologie gerettet, nämlich jene, dass all die Schulden irgendwann tatsächlich zurückgezahlt werden müssen. Doch das Problem kann auch ganz anders gelöst werden.

Banken und Versicherungen haben aber auf Staatsanleihen vertraut. Wenn die nun ihren Wert einbüßen, dann kollabieren doch auch diese Institute, mit fürchterlichen Folgen für Sparer und Versicherte. Was antworten Sie darauf?

HUDSON: Das ist falsch. Schon einen Tag nach dem Schuldenschnitt könnten die Banken und die Versicherungen ihre wichtigen Funktionen wiederaufnehmen. Die Chefin der amerikanischen Einlagensicherung, Sheila Bair, hat das mal ausführlich erklärt. Sie hätte beispielsweise die Einlagen der sehr leichtsinnigen Citibank retten, die normalen Bankfunktionen bewahren und die problematischen Zweige der Bank schließen können. Verluste hätten nur die Zocker an der Spitze erlitten. Ähnlich bei AIG; die Regierung hätte das Unternehmen schließen und zugleich alle wichtigen Funktionen retten können. Man rettet in Wahrheit die Interessen des oberen Prozents. Wenn wir in der Logik der Sozialisierung von Schulden und Privatisierung von Gewinnen weitermachen, dann ist der Preis für die sogenannte Bankenrettung die Zerstörung der Gesellschaft.

Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielt ja die Europäische Zentralbank, deren Aufgabe Sie, Herr Hudson, ganz anders beschreiben als etwa die Bundeskanzlerin oder andere Wirtschaftswissenschaftler. Wie kommen Sie zu Ihrer Auffassung?

HUDSON: Dazu muss man einen Blick in die Geschichte werfen: Im Jahre 1694 wurde die Bank of England gegründet, die amerikanische Federal Reserve 1913. Die historisch wichtigste Funktion solch einer Bank ist es, die Defizite der Staaten zu finanzieren, und zwar durch das Drucken von Geld. Alle Staaten entwickeln Haushaltsdefizite, weil sie die Wirtschaft stimulieren, Infrastruktur bezahlen und anderes mehr. Wenn die Zentralbanken das Defizit nicht übernehmen, dann fällt diese Aufgabe den Geschäftsbanken zu, die ja ebenso Geld per Computer generieren, nämlich über die Kredite, die sie verkaufen. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Verbraucher, denn alles wird zur potentiellen Sicherheit und dadurch teurer. Mit der Entwicklung von Infrastruktur haben die Geschäftsbanken eigentlich gar nichts mehr am Hut. Sie sind zu Spielhallen geworden, die die riskanten Wetten finanzieren, oftmals zu Lasten bestehender Unternehmen übrigens, die ausgenommen werden, um die Kosten ihres Ankaufs zu amortisieren. Banken fördern die Deindustrialisierung.

WAGENKNECHT: Genau dies beobachten wir in diesem Jahr. Man hatte ja Anfang des Jahres eine leichte Entspannung in Italien und Spanien dadurch erkauft, dass die europäische Zentralbank insgesamt eine Billion Euro in das Bankensystem gepumpt hat. Von dieser Billion ist ein Bruchteil tatsächlich in Staatsanleihen investiert worden. Dadurch sind die Renditen vorübergehend gesunken, und für die Banken war es ein wunderbares Geschäft. Sie bekamen Geld für ein Prozent und verleihen es für fünf oder sechs Prozent. Aber ein großer Teil des Geldes ist in die Spekulation geflossen. In der Folge sind die Aktienmärkte, der Rohölpreis und die Lebensmittelpreise nach oben geschossen. Dieses Vorgehen ist fatal. So wird das Monster der Spekulation immer weiter gefüttert. Man sieht im Moment auch, dass die Banken und die wirklich Reichen sich auf einen Währungs-Crash vorbereiten und sogenannte Realwerte kaufen. Die Gefahr für den Kleinanleger bleibt hingegen bestehen: Wenn der Euro zerfällt, kann der Kleinanleger tatsächlich alles verlieren.

Wenn die Zentralbank aber die staatlichen Defizite finanziert statt der Geschäftsbanken, droht uns dann nicht das deutsche Schreckgespenst der Inflation? Dann würde der kleine Bankkunde ja wieder seine Ersparnisse verlieren.

HUDSON: Lassen Sie uns doch einfach die historischen Fakten betrachten. Seit 2008 erleben wir die größte Geldschöpfung in der Geschichte. Allein in Amerika wurden Rekordsummen aufgenommen, um die Banken zu retten. Und dennoch hatten wir in dieser Zeit keine Inflation. Die Zentralbanken haben wenig Einfluss auf die Preise von Gütern des täglichen Bedarfs oder von Immobilien, wohl aber die Geschäftsbanken. Sie setzen eine gut messbare Preisspirale in Gang. Und was die deutsche Hyperinflation angeht, dazu könnte ich leicht eine Vorlesung halten. Hier dominieren falsche Begriffe und Missverständnisse. Hyperinflation ist nie ein binnenwirtschaftliches Phänomen; sie entsteht nur durch Ungleichgewichte der Währungen und im internationalen Zahlungsverkehr, aber nicht dadurch, dass eine Zentralbank zu viel Geld ausgibt, um Brücken und Straßen zu bauen. Dazu gibt es viele Beispiele, vor allem Chile und Russland.

WAGENKNECHT: Ich bin ganz Ihrer Meinung. Wenn Zentralbankinterventionen Inflation hervorrufen würden, hätten wir zum Beispiel in Japan längst Hyperinflation. Dort hat die Japanische Zentralbank seit Jahren japanische Staatsanleihen gekauft, und das Land litt trotzdem unter hartnäckiger Deflation. Heute bekommen die Staaten das Geld für ihre Defizite von den Banken, die es sich bei der Europäischen Zentralbank leihen. Wenn die Staaten das gleiche Geld direkt von der Europäischen Zentralbank leihen würden, wären die Defizite nicht größer, sie wären sogar kleiner, weil die Staaten deutlich weniger Zinsen zahlen müssten. Der einzige Unterschied zwischen beiden Systemen ist: Bei dem einen System verdienen die privaten Banken, nämlich an der Zinsdifferenz, bei dem anderen System nicht. Und deswegen gibt es ein klares Geschäftsinteresse des Finanzsektors, das System so zu lassen, wie es ist. Eine andere brisante Frage ist, ob die Geldschöpfung nicht generell viel rationaler über die Staaten stattfinden könnte. Wenn man weiter Milliarden an Zentralbankgeld ins Finanzsystem pumpt, die dann zum großen Teil die Spekulation aufblähen, ist das viel gefährlicher, als den Staaten innerhalb bestimmter Limits billiges Geld zur Verfügung zu stellen, mit dem sie dann sinnvolle Investitionen finanzieren. Das tun die privaten Großbanken nämlich kaum noch.

Was halten Sie angesichts der Hermetik solcher interessegeleiteter Prozesse von der These, wir würden uns einem postdemokratischen Zeitalter nähern?

WAGENKNECHT: Das stimmt. Wenn die Staaten derart am Gängelband der Finanzmärkte hängen, ist Demokratie gar nicht möglich. Und wir erleben ja in Europa aktuell eine brutale Politik gegen die Interessen der großen Mehrheit.

HUDSON: Wir befinden uns in einer vorrevolutionären Situation. Eine Bewegung wie Occupy ist da sehr wichtig, weil sie eine ganz andere pädagogische Agenda betreibt und verbreitet. Viele Leute sind ja unzufrieden, sehen sich aber außerstande, neue Regeln zu entwerfen oder zu erfinden. Darum braucht man die Arbeit von Occupy, und zwar am besten dort, wo das Problem sitzt, an der Wall Street.

Die Fragen stellten Nils Minkmar und Frank Schirrmacher.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.07.2012, Nr. 176, S. 29