SADIK J. AL AZM : Der Geist des Tahrir Platzes

„REVOLUTION“ IST : WENN MAN NICHT MEHR AN EINEN FÜHRER GLAUBT !

Da im Arabischen der Begriff „Säkularismus” mit Atheismus und Antiklerikalismus assoziiert wird, hatte der Begriff „zivil” an Bedeutung gewonnen. Er wurde zu einem Ersatzbegriff für Säkularismus, also für eine säkulare Regierungsform und eine milde Form der Trennung von Staat, Macht und Recht vom Islam als Glauben und Religion.

SADIK J. AL AZM  : Der Geist des Tahrir Platzes

Säkulare Araber kämpfen gegen Islamisten und das Militär für eine moderne Zivilgesellschaft. Trotz Rückschlägen ist das Charisma ihrer Bewegung lebendig.

Nach einer langen Periode der Stagnation und des Verfalls sind in den vergangenen Jahren mehrere arabische Schlüsselstaaten unerwartet von Umwälzungen erfasst worden. Im Folgenden werden die Natur dieser Umwälzungen, aber auch der historische Hintergrund und gesellschaftliche Kontext des „arabischen Frühlings” erörtert.

Dieser Begriff steht für die Rückkehr der Politik zu den Menschen und der Menschen zur Politik. In der Zeit davor hatten kleine Gruppen militärischer Eliten und ihre Kumpane, vor allem aus der Wirtschaft, die Politik in den arabischen Schlüsselländern dominiert. Das hatte zu einer zunehmenden Entfremdung der Menschen von der Politik geführt.

In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nahm — insbesondere in Ägypten, Syrien und im Libanon — die Intensität der Debatte über die Begriffe „Zivilgesellschaft” und „zivile Regierung” zu. Da im Arabischen der Begriff „Säkularismus” mit Atheismus und Antiklerikalismus assoziiert wird, hatte der Begriff „zivil” an Bedeutung gewonnen. Er wurde zu einem Ersatzbegriff für Säkularismus, also für eine säkulare Regierungsform und eine milde Form der Trennung von Staat, Macht und Recht vom Islam als Glauben und Religion.

Vor allem nach dem Oktoberkrieg des Jahres 1973 zwischen Israel auf der einen und Ägypten und Syrien auf der anderen Seite war offensichtlich geworden, dass der politisch-kulturelle Konsens von Nationalismus, Populismus und arabischem Sozialismus, den der ägyptische Präsident Nasser geschaffen hatte, katastrophal gescheitert war. Verschiedene Formen des Islams, des Islamismus und des Dschihadismus drängten in das politische und kulturelle Vakuum, das mit dem Zusammenbruch dieser Ideologie entstanden war. Bald schien es so, als ob es in den arabischen Schlüsselstaaten, vor allem in Ägypten und Syrien, nur zwei politische Kräfte gebe: die Militärregime mit ihrem Kriegsrecht auf der einen Seite sowie ein bewaffneter aufständischer Islam mit seiner Forderung nach sofortiger Anwendung der Scharia (dem Kriegsrecht der Islamisten) und dem Slogan „Der Islam ist die Lösung” auf der anderen Seite. 

Als einzig praktikabler Ausweg aus dieser Sackgasse boten sich die Konzepte der „Zivilgesellschaft” und der „zivilen Regierung” an. Die Arbeitsdefinition von „Zivilgesellschaft” war eine zweifach negative: Eine Gesellschaft gleicher Bürger, die weder von den Machthabern mittels Kriegsrecht noch von Islamisten á la Iran mit dem Recht der Scharia beherrscht wird. Die Arbeitsdefinition für „zivile Regierung” hieß zu jener Zeit: Eine Regierung, die gegenüber den Religionen, Glaubensgemeinschaften, Sekten und Ethnien, wie sie die Völker des Irak, Syriens und des Libanons bilden, positiv neutral ist.

Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts entstand dann mit dem Begriff „Zivilgesellschaft” und deren Werten und Praktiken ein neuer Quasikonsens. Eckpunkte waren das Primat der Staatsbürgerschaft, der Respekt für die Menschenrechte, eine unabhängige Justiz sowie eine achtsamere Haltung gegenüber Bürgerrechten und -freiheiten.

Das Konzept der „Zivilgesellschaft- hatte für uns — die politischen Aktivisten und Kommentatoren in der arabischen Welt — einen entscheidenden Inhalt und eine politische Vorreiterfunktion. Als zentrale Orientierungspunkte und Bestätigungen dienen uns daher John Locke, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx und Antonio Gramsci.

Zu unterscheiden ist im arabischen Kontext grundsätzlich zwischen der „Zivilge-sellschaft” und der darunterliegenden „Ahli-Gesellschaft”. Dabei steht das arabische Wort „Ahli” für „Angehörige einer Gruppe”. Charakterisiert wird die “Ahli-Gesellschaft” durch das Primat von Urbeziehungen, also durch Formen einer gesellschaftlichen Organisation, die auf Verwandtschaft, Blutsbande, Stamm, Ethnizität oder Religionszugehörigkeit aufbaut. Innerhalb jeder dieser Beziehungen gilt eine eigene „Asabiyya”. Das Konzept der „Asabiyya” hat der arabische Gelehrte Ibn Khaldun (1332 bis 1406 n. Chr.) entwickelt. Es wird meist als „Gruppensolidarität” übersetzt. Der Begriff der „Solidarität” führt aber in die Irre, da er nicht, wie „Asabiyya”, mit Fanatismus und Ausgrenzung aufgeladen ist.

Die arabischen Gesellschaften haben sich langsam aus den „Ahli-Gesellschaften” entwickelt und von ihnen gelöst. Der wichtigste Träger für ihre Entstehung war der koloniale und postkoloniale Staat, der mit einer modernen Gesetzgebung über wirksame Kräfte für den sozioökonomischen Wandel und eine Modernisierung verfügte. In Zivilgesellschaften werden die Urbeziehungen zugunsten von Formen sozialer Interaktion abgeschwächt, die ziel- und nutzenorientierter sind.

Diese Unterscheidung ist wichtig, weil die Muslimbrüder und die Islamisten die Unterscheidung zwischen den beiden Formen der Gesellschaft absichtlich verschleiern. Indem sie ihren Gesellschaftstypus als Zivilgesellschaft bezeichnen, versuchen sie, diese höhere Entwicklungsstufe in die Tiefen der „Ahli-Gesellschaft” zu absorbieren. Denn die „Ahli-Gesellschaft” ist die eigentliche politische Heimat des Islamismus und der Islamisten, dort sind ihre Wählerschaft und die Quellen ihrer Stärke. Aus diesem Grund sprechen sie sich laut für die Demokratie als die Herrschaft der Mehrheit aus, verschweigen aber die Minderheitenrechte. In diesem Sinne kann die Rückkehr des Islams als Gegenschlag der „Ahli-Gesellschaft” gegen die heranwachsende arabische Zivilgesellschaft und ihre Neuerungen verstanden werden.

Für die Kriegsrechtsregime ist hingegen allein schon der Begriff „zivil” ein Unwort, heißt er doch für Araber zunächst „nicht militärisch”. Diese Regime haben in Ländern wie dem Irak und Syrien absichtlich alles in Trümmer gelegt, was an Zivilgesellschaft aufgebaut worden war. Indem sie die latenten „Asabiyyas” der verschiedenen Sektoren dieser Gesellschaften mobilisieren, gelingt es ihnen, die im Entstehen begriffene Zivilgesellschaft entlang der Linien jener Urbeziehungen der „Ahli-Gesellschaft” zu fragmentieren. Das geschieht, um jede Form organisierter Opposition gar nicht erst entstehen zu lassen.

Was geschah, als sich allen Repressionen zum Trotz doch Ansätze einer modernen Zivilgesellschaft zeigten, ließ sich am Schicksal des „Damaszener Frühling’ der Jahre 2000 bis 2002 beobachten. Die zivilgesellschaftliche Bewegung , die unter anderem mit Dokumenten von sich reden machte, nicht zuletzt mit ihrer ‚Charta 99′, die sich bewusst nach der berühmten „Charta 77″ der Bürgerrechtsbewegung in der kommunistischen Tschechoslowakei nannte, bildet im Rückblick eine Art Vorspiel und Generalprobe für den späteren Ausbruch des “arabischen Frühlings’, für seine Forderungen, Schlagworte und Werte.

Zunächst aber wurden der „Damaszener Frühling” und seine zivilgesellschaftliche Bewegung rasch und brutal niedergeschlagen. Letztlich mißbrauchen und instrumentalisieren sowohl die Herrschaft des Militärs als auch die Herrschaft der Scharia die „Ahli-Gesellschaft” für ihre je eigenen Zwecke.

Als Araber verstehe ich, dass die atomisierten westlichen Gesellschaften in „Zi-vilgesellschaft” das Wirken von Nichtregierungsorganisationen, Vereinen, Kirchen, Moscheen, freiwilligen Vereinigungen aller Art innerhalb eines Staates sehen. Denn sie bringen getrennte gesellschaftliche „Atome” zusammen und fördern Gemeinschaftsgefühl.

In allen arabischen und nahöstlichen Gesellschaften ist dies jedoch nicht das Problem. Entscheidend für die Förderung der Zivilgesellschaft in der arabischen Welt ist vielmehr die Idee und Praxis der „Staatsbürgerschaft”. Es geht um die Bewegung von einem sunnitischen Muslim hin zu einem Bürger, von ethnischen Minderheiten wie Alawiten, Drusen oder Ismailiten zu Bürgern, von einer Frau als „Awra” (etwas schamvoll zu Versteckendem, was bedeckt werden muss) in einer „Ahli-Gesellschaft” zu einer gleichberechtigten Bürgerin in einer Zivilgesellschaft.

Zum Ende des Kalten Krieges hin wurden die meisten arabischen Linken leidenschaftliche Verfechter der Zivilgesellschaft. Dies war nicht ein opportunistischer Schwenk, sondern ein Rückzug auf eine zweite Verteidigungslinie gegen das, was sie als eine schleichende Vermittelalterlichung durch die Islamisten, Dschihadisten und Taliban sahen und gegen die Unterdrückung durch die Kriegsrechtsstaaten, in denen sie lebten. Als der „arabische Frühling” in Tunis, Benghasi, Kairo, Sanaa und Manama in seiner Blüte stand, erlebten die jungen arabischen Zivilgesellschaften ihre Sternstunde.

Die Massen auf den Tahrir-Plätzen (tahrir = Befreiung) besiegten das dynastische Prinzip arabischer Präsidenten, die ihre Macht an ihre Söhne weitergaben.  Sie sicherten den Sieg der demokratischen Idee eines durch Wahlen legitimierten Machtwechsels, indem sie riefen:  „La tamdeed, la tajdeed, la tawrith”, was durch alle Tahrir-Plätze der arabischen Welt hallte und frei übersetzt lautet: NEIN zur mechanischen Verlängerung der Amtszeit eines Präsidenten, NEIN zur automatischen Erneuerung der Amtszeit, NEIN zum unbezähmbaren Wunsch arabischer Potentaten, die Macht ihren Söhnen und Verwandten zu übertragen. So fanden die arabischen Zivilgesellschaften ihre Stimme und behaupteten sie. In Damaskus aber erwies sich die Erfahrung des Tahrir-Platzes als unmöglich.

Auffällig abwesend im „arabischen Frühling” waren die traditionellen Rufe und Forderungen des guten alten arabischen Nationalismus, wie wir ihn zur Blütezeit des Postkolonialismus im 20. Jahrhundert erlebt hatten. Ebenso war nirgendwo in Tunis, Kairo, Tripolis, Sanaa oder Horns ein Transparent mit der Aufschrift „Der Islam ist die Lösung” zu lesen. Auch stand nirgendwo: „Die arabische Einheit ist die Lösung.” Alle Rufe, Forderungen, Parolen und Ziele waren typische Werte und Aspirationen der Zivilgesellschaft. Sie drehten sich ausnahmslos um Freiheit, Rechte, Würde, Integrität, Demokratie, Transparenz und Gleichheit – die Forderungen des „Damaszener Frühlings”

Die Erfahrungen des Tahrir-Platzes in Kairo haben erstmalig gezeigt – und das ist das entscheidende Novum -, daß sich das Charisma des revolutionären Moments, das sich in der arabischen Welt üblicherweise auf einen einzigen und konkurrenzlosen Führer konzentrierte, gewandelt hat zu einem Fluidum, das die versammelten Massen auf den vielen Tahrir-Plätzen erfasste und sie zum eigentlichen charismatischen Moment der Revolution und des Wandels machte – ohne Angst vor den Gefahren, die eine solche Entwicklung mit sich bringt.

Eine intensive Beteiligung von Frauen prägte alle Tahrir-Plätze, ob in Tunis oder Kairo, in Sanaa oder Benghasi; nicht zu übersehen waren auch Kinder, Jungen wie Mädchen – und das in sehr konservativen Gesellschaften und in sehr prüden Städten. Hinzu kamen und kommen vielfältige Formen von Kunst, Musik, Aufführungen, Liedern, Theaterstücken, Tänzen, Gebeten, satirischen Karikaturen, sarkastischen Kommentaren, kritischen Graffiti. Es herrschte ein karnevalesker Geist, ganz im Geist von Mikhail Bakhtin: Karneval als Verspottung der Anmaßungen der Macht und Unterdrückung. Das alles hatte es in der modernen Geschichte des politischen Protests in der arabischen Welt noch nicht gegeben. Für uns Araber und unsere gesellschaftliche und politische Geschichte ist dies der wichtigste Beitrag der Zivilgesellschaft.

In denden postrevolutionären Ländern Ägypten und Tunesien sind der Geist und das Charisma der Tahrir-Erfahrungen nicht tot. Diese Länder kämpfen, allen Widrigkeiten zum Trotz. für eine bessere Zukunft. Würden nur 20 bis 30 Prozent dieses Geistes und Charismas in den Alltag dieser Gesellschaften Eingang finden. wäre der Fortschritt gewaltig.

In Syrien waren die Erfahrungen des Tahrir-Platzes wegen der Grausamkeit der militärischen Unterdrückung nicht möglich. Auch hier verlagerte sich der Moment der Revolution von den alten Führungen organisierter Avantgardeparteien. einzelnen charismatischen Führern und heroischen Persönlichkeiten auf jung- lokale Koordinierungskortunitees,  den „Tansiqiyyat“.  Sie führten die Straßenmacht der Revolution und trieben sie an: sie sind dafür verantwortlich, dass die zivile und gewaltlose Seite des Aufstands gegen die Militärherrschaft und den Polizeistaat. der Syrien ein halbes Jahrhundert lang im Griff hatte, andauerte. Sie haben die Versuche des Militärregimes durchkreuzt, den Informationsfluss zu blockieren und zu unterdrücken.

Um die Revolution zu bekämpfen, mussten sich die Mitglieder des Machtapparates über das ganze Land verteilen. Sie hatten sich zwischen Daraa im Süden hinauf in den Norden an der türkischen Grenze zu bewegen dann hinab in die Mitte des Landes und wieder in den Süden. Aus diesem Grund haben Einheiten oder Milizen im Sold des Regimes binnen 15 Monaten Daraa mindestens 20 Mal besetzt und dann wieder verlassen.

In Europa und in den Vereinigten Staaten wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgiebig die Frage diskutiert,  ob Befehle. vor allem im Militär, von der eigenen Verantwortung für Taten entbinden. Die Deserteure der syrischen Armee, die die Freie Syrische Armee bildeten, haben spontan und ohne großes Nachdenken die Ansicht übernommen, dass ein Befehl, Greueltaten zu begehen, kein Freispruch für jene ist, die ihn ausführen.

In Syrien ist der “arabische Frühling” der Versuch des Volkes, die Republik vor der Usurpation durch eine militärische Erbdynastie zu retten — einer Dynastie, die sich selbst zu „ila al-abad” — „für die Ewigkeit” — erklärte und die daher die Losung praktiziert: ,,Assad bleibt — oder wir verbrennen das Land (balad)”. Heute ist Assads Politik der verbrannten Erde für die ganze Welt sichtbar. Jetzt geht es darum, „Suriya al-Asad”, das Syrien Assads, ein für alle Mal zu beenden und eine „Republik Syrien” entstehen zu lassen.

Die Staatengemeinschaft betrachtet Syrien vorwiegend unter geopolitischen Gesichtspunkten. Im Vordergrund stehen als strategisches Kalkül die lebenswichtigen Interessen der Großmächte. Die Entwicklung innerhalb des Landes findet zumeist keine Beachtung.

Einige vermeintlich kritische Beobachter halten es mit der These, dass hinter dem Kampf gegen das Assad-Regime ein westlich-imperialistisches Komplott oder eine universale Verschwörung gegen das einzige Regime in der Region stehe, das Israel die Stirn bietet und damit für den Westen ein Hindernis darstellt auf dem Weg, den gesamten Nahen und Mittleren Osten mit seinen Ressourcen zu kontrollieren. In dieser Betrachtungsweise werden Syrien und der Aufstand seines Volkes nur als Pfand in diesem neuen „great game” der Nationen angesehen. Die Realität der jahrzehntelangen und zunehmenden Unterdrückung des Volkes wird bestenfalls vernachlässigt und im schlimmsten Falle als irrelevant abgetan.

Den internationalen Diskurs über Syrien prägt primär die Sorge um den Schutz der Minderheiten: Christen, Kurden, Alawiten, Drusen, Ismailiten, Turkmenen, Tscherkessen und andere. Es ist jedoch die Mehrheit — nämlich die Sunniten die grausam getroffen wird von den Armeeeinheiten, den Milizen und den ScudRaketen einer kleinen Minderheit, die über die absolute Macht und den gesamten Reichtum des Landes verfügt. Alle Dörfer und Städte, die bombardiert und oft dem Erdboden gleichgemacht wurden, sind solche der sunnitischen Syrer und damit der syrischen Mehrheit. Die Dörfer und Städte der Minderheiten sind bislang ziemlich sicher.

Zur sunnitischen Bevölkerungsmehrheit gehören auch die meisten der 100 000 Getöteten, Verwundeten, Verschwundenen, Verhafteten und Gefolterten an. Die Millionen Syrer, die im Land oder außerhalb zu Flüchtlingen wurden, gehören ebenfalls vor allem zur sunnitischen Mehrheit. Was in diesem „großen Spiel” der Nationen also mit Füßen getreten wird, sind die Rechte der syrischen Bevölkerungsmehrheit — der überdies stillschweigend unterstellt wird, sie warte nur auf den richtigen Moment, um die Minderheiten des Landes anzugreifen und zu verfolgen. Auch das ist nicht wahr.

Der internationale Diskurs über Syriens Minderheiten zu einer Zeit, in der die sunnitische Mehrheit brutalen Angriffen ausgesetzt ist, erinnert mich an das Europa des 19. Jahrhunderts und an die sogenannte orientalische Frage. Damals meinte jede europäische Macht, eine Minderheit im Nahen Osten adoptieren und schützen zu müssen. Syrien braucht Recht, Schutz, Sorge und Aufmerksamkeit — aber nicht nur für seine Minderheiten.

Die bisher wichtigste Errungenschaft der syrischen Revolution ist, daß sie unter großen Opfern den gnadenlosen Machtblock der syrischen Sicherheitskräfte und Geheimdienste zu einem Schatten ihrer selbst reduzierte. Daher mußte Assad die Hizbullah aus dem Libanon herbeirufen sowie paramilitärische schiitische Organisationen aus dem Irak und Iran. Je länger sich aber Assad und sein Polizeistaat an der Macht halten, je länger sie ihre Migund Suchoi-Flugzeuge, ihre ballistischen und ihre Scud-Raketen gegen die Bevölkerung einsetzen, desto größer wird die Gefahr, dass der Extremismus aller Arten wächst.

Die Menschen unserer Gesellschaften wenden sich in Zeiten großer Gefährdungen und Krisen in verstärktem Maße Gott zu. Das verschafft ihnen Trost, aber es bringt auch heilige Rache. Der politisch aufgeladene Islam, den die syrische Revolution jetzt erlebt, fördert die Rekrutierung von Islamisten, Muslimbrüdern, Dschihadisten, Taliban und Selbstmordbombern unter der syrischen Jugend.

Falsch ist es, das derzeitige Geschehen in Syrien als ,Bürgerkrieg” zu beschreiben.

Im Libanon haben sich im Bürgerkrieg die Gemeinschaften und Gruppen des Landes gegenseitig angegriffen, während der Staat hilflos zuschaute. Anders als im Libanon greifen in Syrien heute nicht die Drusen der Region Hauran die Sunniten an, die Sunniten wiederum bereiten sich nicht auf die Invasion der Gebiete der Ismailiten vor, und die Ismailiten machen sich nicht daran, alte Rechnungen mit den Alawiten zu begleichen. Obwohl die Opfer zahlreicher Massaker in vielen Teilen Syriens Sunniten waren, gab es bisher keine massiven Vergeltungsaktionen sunnitischer Dorfbewohner oder Soldaten gegen alawitische Dörfer, selbst dann nicht, wenn bekannt war, dass die Massaker von diesen alawitischen Dörfern aus-gingen.

Extremismus wird stets der Opposition zugeschrieben, kaum aber — obwohl so offensichtlich — dem Regime selbst, seinen Armeeeinheiten und plündernden Milizen. Welcher Extremismus auch immer aus der Revolution hervorgehen wird: Im Vergleich zum Extremismus des Regimes, das sein Volk mit Bomben und Giftgas terrorisiert, ist er marginal.

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Der Verfasser ist Syrer und einer der führenden arabischen Philosophen der Gegenwart. Dem Text liegt ein Vortrag zugrunde, den Sadik al-Azm vor kurzem am Wissenschaftszentrum Berlin gehalten hat.