Regressus ad infinitum : Die gallopierende Infantilisierung der Deutschen Gesellschaft

Die infantile Gesellschaft : Aus Leuten werden Kinder / Von Edo Reents

03.11.2012 ·  Hol’ dir die krassen Sachen, sofort, und lass’ es alle wissen: Digitalisierung und Wachstumswahnsinn beschleunigen eine regressive Entgrenzung, die das Erwachsensein zur Kindheit mit Kreditkarte pervertiert.

Zwei willkürlich aus dem Alltag herausgegriffene Beobachtungen: In Mannheim parkt ein Auto, das auf der Heckscheibe einen Aufkleber hat, „Opa&Oma 2012 – Diego Michael“. Offensichtlich sind die Fahrer gerade Großeltern geworden. Die vier Auspuffe des auch sonst stark aufgemotzten weißen Mercedes lassen eher auf hedonistische Halbstarke schließen. In einem Zug Richtung Berlin nehmen zwei Männer zwischen fünfzig und sechzig Jahren Platz, klappen ihre Laptops auf und beginnen, jeder für sich, aber sich gegenseitig und lautstark immer wieder ihres Vergnügens versichernd, mit ihren Computerspielen; ihre Uniformen weisen sie als Polizeibeamte aus.

Die Leute werden immer infantiler. An solchen Vorfällen ist natürlich nichts „schlimm“. Trotzdem sind sie alarmierend. Sie markieren eine gesellschaftliche Tendenz hin zu einem Verhalten, das man früher als kindisch bezeichnet hätte, das heute aber, weil es so verbreitet ist, kaum noch als solches auffällt: Mitteilungsdrang gegenüber Fremden, Indiskretion; ein gewisser Zeigestolz; der Hang, seinen Spiel- und Zerstreuungsbedürfnissen zu fast jeder Zeit und ohne Rücksicht auf die Umgebung nachzugehen.

„Wir amüsieren uns zu Tode“

Diesen Eigenschaften, die auf die fortlaufende Preisgabe des Privaten, Persönlichen hinauslaufen, ist etwas ausgesprochen Übergriffiges gemeinsam; man kann ihren Äußerungen nicht entkommen. Kindern muss man vor allem eines beibringen: Grenzen. Erst sie gewährleisten, über den Schutz nach außen, eine intakte Persönlichkeit. Diese Erziehung wird von einer immer indiskreter werdenden Öffentlichkeit rückgängig gemacht.

Unter „infantil“ wird jeder etwas anderes verstehen; einigen aber kann man sich vielleicht auf Zuschreibungen, die sich im Umkehrschluss aus denen ergeben, die Neil Postman vor dreißig Jahren für erwachsenes Verhalten vorgenommen hat: die „Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und zum Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung, ein differenziertes Vermögen, begrifflich und logisch zu denken, ein besonderes Interesse sowohl für die historische Kontinuität als auch für die Zukunft, die Wertschätzung von Vernunft und gesellschaftlicher Gliederung.“

Für seine These vom „Verschwinden der Kindheit“, wie sein neben „Wir amüsieren uns zu Tode“ bekanntester Buchtitel heißt, arbeitete Postman sich vor allem am Fernsehen ab, das seiner Ansicht nach dazu führte, dass die einstmals getrennten Sphären des Kindlichen und des Erwachsenen über die so gut wie nichts mehr aussparenden Fernsehprogramme miteinander verbunden werden und es keine Sphäre des Unwissens und der Unschuld, des Kindlichen eben, mehr gibt.

Mit den Enkeln auf Popkonzerte

Die Kinder wurden also durch Wissen, das ihnen noch gar nicht adäquat war, frühreif. Kinder und Erwachsene hatten dadurch eine viel größere Schnittmenge aus Informationen und Erlebnissen, Kindheit war nichts spezifisches, nichts spezifisch Unschuldiges mehr; deswegen „verschwand“ sie.

So lautete Postmans Diagnose. Heute stehen wir vor einem anderen Befund: Wir alle werden zu Kindern; die Sphäre der Erwachsenen, die von Vernunft, Selbstbeherrschung, Diskretion und allgemein von situativer Rücksicht gekennzeichnet ist, schwindet wie die Polkappen. Und zwar ist diese Infantilisierung, anders als früher, jetzt nicht mehr nur inhaltlich greifbar, sondern auch strukturell.

Es geht nicht mehr nur darum, dass sich unter den meistgelesenen Büchern und den meistgesehenen Filmen immer mehr solche für Kinder und Jugendliche finden, was schon bedenklich genug ist; oder, dass ältere Leute mit ihren Kindern und sogar Enkeln auf Popkonzerte gehen und mit ihrer Kleidung einen auf jugendlich machen. Es geht inzwischen um Verhaltensstrukturen und -muster, das Wie, nicht das Was.

Zeitloses Lebensgefühl

Diese fortschreitende Infantilisierung ist das Werk der Werbe- und Unterhaltungsindustrie, die sich eine nicht mehr aufzuhaltende oder gar rückgängig zu machende Entwicklung zunutze macht: Die Gesellschaft als ganze altert unaufhörlich; gleichzeitig ist man heute mit vierzig, fünfzig oder sechzig jünger als früher. In dieser Situation, in der herkömmliche Alterszuschreibungen kaum noch vorgenommen werden können, trifft ein Warenangebot, das über den Bedarf weit hinausgeht und es mit seiner ins Aberwitzige gehenden Spezifizierung immer neue Bedürfnisse künstlich weckt, naturgemäß auf einen immer größeren Personenkreis.

Bei vielen Dingen, die heute hergestellt werden, ist es so wie früher nur bei gewissen Ravensburger Spielen: Alter 6 bis 99. Geschickt bedient zum Beispiel die Deutsche Bahn dieses gleichsam zeitlose Lebensgefühl und schaltet neuerdings Fotos von Kunden, die sich in zwanzig Jahren allenfalls in der Länge verändert haben. Früher hatte jeder Angst, mit Brechts Parabel von Herrn K. konfrontiert zu werden, der bei der Feststellung, er habe sich gar nicht verändert, blass wurde. Heute wehren sich die Leute, regressiv, wie sie sind, gegen den Anschein, dass die Zeit bei ihnen Spuren hinterlässt, und damit gegen die Einsicht, dass die Zeit für gewisse Dinge auch einmal vorbei ist. Die Kategorie „altersgemäß“ spielt keine Rolle mehr.

Zielgruppe: „Personen zwischen 14 und 49 Jahren“

Es liegt im Wesen der Werbe- und Unterhaltungsindustrie, dass sie kindliche und jugendliche Eigenschaften bei ihrer Kundschaft voraussetzt und verstärkt. Vor Jahrzehnten schuf sie sich mit dem Aufkommen der Popkultur und der Entdeckung der enorm gestiegenen Kaufkraft von Kindern und Jugendlichen eine felsenfeste Existenzgrundlage. Diese Kundschaft war aber scharf von der erwachsenen abgegrenzt, die ganz andere Interessen hatte.

Inzwischen hat die Industrie ihre Methode perfektioniert und sich systematisch eine Gesellschaft herangezüchtet, der die altersspezifischen Unterscheidungsmerkmale abhanden gekommen sind. Das ist schon an der wie ein Naturgesetz akzeptierten, „werberelevanten“ Zielgruppe von Personen zwischen 14 und 49 Jahren zu sehen – was für eine heterogene Gruppe wird hier über den Kamm einheitlicher Bedürfnisse geschoren! So etwas wie eine erwachsene, bürgerliche Reserve gegenüber nur für junge Leute bestimmten Konsumgütern gibt es nicht mehr. Sie kam vielleicht letztmalig zum Ausdruck in der Fernsehwerbung für den Salzkeks „Tuc“, in welcher der Schauspieler Walter Sedlmayr das Produkt mit der Bemerkung, eigentlich sei er kein „Keks-Esser“, zunächst skeptisch begutachtete, um dann aber doch zuzubeißen und die Qualität zu preisen.

Verlorener Sinn für Proportionen

Eine solche zögerliche Einstellung, die auch etwas mit altersspezifischer Würde zu tun hatte, hielte den gegenwärtigen, so subtilen wie überwältigenden Werbestrategien nicht mehr stand. Diese sprechen vom Kind bis zum Rentner breiteste Altersschichten an und können auf deren Mitmachen auch getrost setzen.

Besonders tut sich hier die Automobilindustrie hervor, die mit ihrem außerordentlich geschickten, immer verspielteren Design kindliche oder jugendliche Vorstellungen bedient und Modelle wie etwa den Golf GTI oder den Scirocco wieder auflegt, an denen früher nur Halbstarke oder Halbwüchsige Gefallen fanden, die heute aber auch von Kunden im gesetzteren Alter gefahren werden. Deutlich zeichnet sich auch ein Trend zum Kraftmeierisch-Großspurigen ab: Immer riesigere Autos mit immer größeren Motoren machen sich in den engen Innenstädten breit, und man fragt sich, ob die Hersteller und Fahrer jeden Sinn für Proportionen verloren haben – auch dies ein kindischer Zug: „Wenn ich groß bin, fahre ich ein Auto mit fünfhundert PS.“

Regressive Bedürfnisse

Hinzu kommt der Retro-Kult: Mit neuen Waren in altmodischer Anmutung reproduziert die Babyboomer-Generation zumindest unterbewusst ihre eigene Kindheit. Auch Designer und Ingenieure wissen eben, dass die Kindheit das einzige Paradies ist, aus dem man nicht vertrieben werden kann. Es ist bezeichnend, dass das jetzt das wieder aufgelegte Magazin „Yps“, das früher nur etwas für Kinder war, sich nun ausdrücklich an Männer zwischen 30 und 45 wendet.

Auch die Musikindustrie setzt auf diesen Effekt, indem sie eine inzwischen wieder größer werdende Nische mit originalgetreuen Platten und CDs bereithält, die älteren Käufern das Gefühl gibt, wieder ins alte Jugendzimmer einzuziehen. Dieses regressive Bedürfnis dürfte auch den Eifer erklären, mit dem heute mancher Fünfzig- bis Sechzigjährige Originalplatten sammelt: Es ist der (unbewusste) Versuch, sich wieder in der Kindheit einzurichten.

Das Google-Logo der kindlichen Unschuld

Natürlich hat jeder das Recht, den Verführungen der Konsumindustrie zu Regression und Übertreibung zu widerstehen, aber wenn es zu viele tun, schrillt der mediale Alarm: Experten, Institute und Parteien werden unruhig, wenn das Wachstum auch nur minimal nachlässt. Hauptsache, Wachstum, gerne auch ohne Sinn und Verstand. Haus- und Maßhalten, sich mit dem zufriedengeben, was man hat, das Urteil „Der tut’s doch noch“ über ein Gerät- waren das nicht mal Erziehungsziele? Sollten Kinder nicht lernen, dass Dinge ihren Rahmen und ihre Grenze haben, die Keksdose irgendwann leer ist? Im Zeitalter der Flatrates fürs Telefonieren, fürs Essen und fürs Trinken ist das nicht mehr vorgesehen, da ist vor jedem L noch Platz für drei X.

Das Materielle ist das eine. Das andere ist die Digitalisierung, welche die allgemeine Infantilisierung auf viel subtilere und auf die Dauer wohl tiefer greifende Weise verstärkt. Das Google-Logo spricht in seiner Buntheit Bände und signalisiert kindliche Unschuld, ein spielerisches Willkommen, das von den Geschäftsinteressen der Firma ablenkt. Und Apple hat es mit seinem Design fertiggebracht, dass seine jeweils neuesten Produkte einen Nachrichtenwert bekommen wie politische Ereignisse.

Kontrasterfahrungen verschwinden

Diese Geräte machen uns zu sprunghaften und oft auch unhöflichen Menschen. Selbst konservative Menschen, die bei Tische am Mobiltelefon angerufen werden, halten es oft nicht mehr für nötig, sich für die Dauer des Gesprächs zurück zu ziehen, jeder soll ruhig alles mithören. Dass Spielzeug beim Essen nichts verloren, dass jede Verrichtung ihre Zeit und ihren Ort hat, scheint nicht mehr zu gelten. Es gibt keine, im Wortsinne, diskreten Lebensbereiche mehr.

Deswegen muss auch niemand mehr die Befriedigung seiner Bedürfnisse aufschieben – eine Fähigkeit, die seit Freud den erwachsenen Menschen ausmacht. Überall und rund um die Uhr können wir Waren bestellen, Fotos verschicken, mehrere Dinge gleichzeitig tun – essen, lesen, telefonieren, simsen und so weiter. Was hat man sich noch zu sagen, wenn man sich dann sieht? Kindlicher Mitteilungsdrang regiert, wo man sich einst gelassen sagte, bestimmte Dinge erfahre der andere noch früh genug.

Und wir wollen am liebsten alles gleichzeitig machen. Die Trennung zwischen privater und öffentlicher, beruflicher Sphäre ist längst aufgehoben; was jetzt kommt, ist noch schlimmer: Es verschwinden auch die Kontrasterfahrungen. Wo ist ein wirklicher Wechsel aus Reden und Schweigen noch möglich? Es wird viel zu viel kommuniziert, und die meiste Zeit geht damit drauf, dass man umständlich klärt, ob die Nachricht auch wirklich angekommen ist.

Die sozialen Netze besorgen den Rest

So gibt es immer weniger Raum für Überraschungen, die ganz banal sein können. Früher fragten Kinder: „Wo fahren wir hin? Wie ist es da?“ Und bekamen vielleicht zur Antwort: „Das siehst du dann schon.“ Heute wird selbst in vertrauter Umgebung das Navigationssystem eingeschaltet und, sobald einem etwas nicht sofort einfällt, Google befragt und damit jedes unvorhergesehene Erfolgserlebnis, das Widerständen abgetrotzt ist, kassiert – eine merkwürdige Angewohnheit in einer Gesellschaft, die so viel Wert auf Gehirntraining legt.

Das Bedürfnis nach Voraussehbarkeit und Sicherheit, das Kinder begreiflicherweise haben, ist auch bei Erwachsenen so stark geworden, dass die Menschen, die sich noch wirklich wundern, die „staunen“ können, immer weniger werden. Gleichzeitig werden Pünktlich- und ganz allgemein Verlässlichkeit immer unwichtiger – man kann ja laufend am Handy durchgeben, wie spät man nun genau kommt. Großzügig vorausschauendes Verhalten, das gleichzeitig das Unwägbare einkalkuliert und aus dem sich erst wirklich neue Erfahrungen ergeben können, ist nicht mehr nötig.

Menschen wie Autisten

Die sozialen Netzwerke besorgen den Rest der allgemeinen Durchinfantilisierung: mit rumpfhaften Mitteilungen und der binären, recht eigentlich kindlichen Einstellung der „Like“-Buttons. Der politische Journalismus macht sich die schwindende Fähigkeit zur Differenzierung zu eigen, indem er uns mit immer neuen Umfragedaten zur ohnehin überschätzten Beliebtheit von Politikern beliefert.

Die sozialen Folgen von alledem sind kaum abzuschätzen. So etwas geht schleichend. Das Lebensgefühl des „haben, haben, haben“, des gierigen, unbedarften Mitmachens breitet sich vor allem digital aus. Und nicht zufällig gehört das reflexhafte Gerede von der „Servicewüste“, in der wir angeblich leben, inzwischen zum guten Ton. Eine Kundschaft, die es gewohnt ist, auf einen Doppelklick hin zufriedengestellt zu werden, erträgt es nicht mehr, wenn etwas nicht vorrätig ist und erst bestellt werden muss. So stirbt auch die größte Freude, die Vorfreude, langsam aus.

Und was ist mit dem wohltuenden Anblick von Menschen, die einfach mal gar nichts tun, die aus dem Fenster sehen und die Welt auf sich wirken lassen? Man mache eine Probe und sehe sich an einem beliebigen Bahnsteig um, an dem viele Menschen warten, oder im Zug selbst und vergleiche diese Situation mit der von vor fünfzehn Jahren: Die ununterbrochene digitale Kommunikation mit Abwesenden lässt die Menschen wie Autisten, ja, von einem rein phänomenologischen Standpunkt aus betrachtet, schon fast wie Geisteskranke aussehen.

Und Apple, Google und Facebook sowie die ganze Warenindustrie werden schon dafür sorgen, dass das so weitergeht, bis wir uns eines Tages auf gar nichts mehr konzentrieren können, weil wir unsere Hände dauernd nach allen Seiten dieser bunten, dummen Welt ausstrecken, wie Kinder, die überreizt sind und keinen Schlaf mehr finden. Früher sagte man in solchen Fällen: „Morgen ist auch noch ein Tag.“

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/die-infantile-gesellschaft-aus-leuten-werden-kinder-11947625.html