PKK Der kurdische Krieg der Türkei

FAZ – 12.09.2012 ·   Istanbul – Michael Martens – Die türkische Armee verliert im Südosten des Landes die Kontrolle über einzelne Gebiete an die Terrororganisation PKK. Die Kämpfe sind dort voll entbrannt.

Manchmal prägen Politiker Sätze, die ihnen bis ans Lebensende vorgehalten werden. Vielleicht wird die aus dem Wahlkampf des Jahres 2011 stammende Aussage des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, es gebe in seinem Land kein „Kurdenproblem“ mehr, einmal als eine solche Aussage gewertet werden. „Unsere kurdischen Geschwister mögen Probleme haben. Aber die Türkei hat kein Kurdenproblem“, verkündete Erdogan seinerzeit.

Die kurdischen Geschwister sehen das offenbar anders. Erdogan mag kein Kurdenproblem haben, die Türkei hat eines. Angespornt von den Entwicklungen in Syrien, wo Kurden im Norden des zerfallenden Staats Gebiete kontrollieren, hat die kurdische Terrororganisation PKK die Schlagzahl ihrer Attentate und Überfalle in der Türkei deutlich erhöht. Seit August vergeht kaum ein Tag ohne gewaltsame Zusammenstöße zwischen PKK-Kämpfern und türkischen Sicherheitskräften. Ob die Tat des Selbstmordattentäters, der sich am Dienstag vor einer Polizeiwache in Istanbul in die Luft sprengte und dabei auch einen Polizisten mit den Tod riss, ebenfalls ein Akt des kurdischen Terrorismus war, stand zunächst zwar noch nicht fest. Doch die Tat ähnelt einem ähnlichen Anschlag vor zwei Jahren auf dem Istanbuler Taksim-Platz, zu dem sich kurdische Terroristen bekannten.

Im Südosten des Landes sind die Kämpfe zwischen der PKK und dem türkischen Staat voll entbrannt. Offenbar kontrollieren kurdische Freischärler inzwischen sogar einige Gebiete der besonders unruhigen Provinz Hakkari. Fest steht: In einigen Landstrichen Südostanatolien herrschen kriegsähnliche Zustände. Einer am Montag veröffentlichten Statistik der türkischen Streitkräfte ist zu entnehmen, dass die Armee zwischen Februar und August dieses Jahres fast 1000 „Militäroperationen“ gegen die PKK ausgeführt hat. Dabei wurden nach Angaben der Armee mehr als 300 PKK-Kämpfer getötet. Der Generalstab in Ankara steht in der Kritik, weil der Blutzoll für die Soldaten ebenfalls hoch ist. Von schlecht gesicherten und daher leicht zu überfallenden Außenposten der Armee im irakisch-türkischen Grenzgebiet ist die Rede, von unvollkommen ausgebildeten und mangelhaft ausgerüsteten Einheiten auch. Wenig überzeugend traten die Generäle der (nicht neuen) Beschuldigung entgegen, die Armee verheize im Kampf gegen die PKK unerfahrene Rekruten. Die Zahl der „Märtyrer“, wie die im Kampf gegen den kurdischen Terrorismus ums Leben gekommenen Männer im offiziellen Sprachgebrauch heißen, beträgt in diesem Jahr laut Zählung der Armee bisher 88 – Stichtag 6. September. Fast täglich muss die Zahl nach oben korrigiert werden.

Ihre Übermacht an Menschen und Material nützt der türkischen Armee nichts in diesem Krieg. Zur Chiffre für die waffenstarrende Ohnmacht der Streitkräfte könnte Şemdinli werden. Ende August behauptete Selahattin Demirtaş, Vorsitzender der im türkischen Parlament vertretenen Kurdenpartei BDP, die Region zwischen Şemdinli und Çukurca – die Orte liegen etwa 100 Kilometer Luftlinie voneinander entfernt – befände sich unter Kontrolle der PKK. Şemdinli und Çukurca sind von Kurden bewohnte Kleinstädte im Süden der Provinz Hakkari an der Grenze zum Irak und zu Iran. Demirtaş sprach davon, dass es sich insgesamt um ein Gebiet von 400 Quadratkilometern Größe handele. Treffen seine Aussagen zu, hat der türkische Staat in dem Gebiet sein Gewaltmonopol verloren, zumindest zeitweilig. Demirtaş sprach davon, dass die PKK Straßenkontrollen errichtet habe und die Soldaten ihre nur noch aus der Luft versorgten Stützpunkte nicht mehr verlassen können. Als kurz nach der Aussage von Demirtaş in Ankara der Nationale Sicherheitsrat tagte, wurde ein klares Dementi erwartet – doch das unterblieb. Demirtaş sagte, wer ihm nicht glaube, möge in die Region reisen und sich selbst davon überzeugen, wer dort die Macht habe. Mitunter fahren Politiker der Regierungspartei AKP tatsächlich in umkämpfte Gebiete, um dort Stärke zu demonstrieren. Türkische Zeitungen drucken dann Fotos von Erdogan oder anderen wichtigen AKP-Politikern, die sich, in Schutzwesten und mit entschlossenem Blick, hinter einem Wall aus Sandsäcken von Generälen einen imaginären Punkt am Horizont zeigen lassen. Aus Şemdinli gibt es solche Bilder nicht.

Mehrere Zehntausend Soldaten im Süden

Sollte die Gegend tatsächlich der Kontrolle des Staates entglitten sein, wäre dies das erste Mal seit den frühen neunziger Jahren, dass die PKK wieder ein Gebiet der Türkei in ihre Gewalt gebracht hätte. Auf dem Landweg ist Şemdinli für die Armee derzeit jedenfalls nicht mehr gefahrlos zu erreichen. Ein Militärkonvoi, der am 22. August dort unterwegs war, wurde in der Nähe der Stadt überfallen, wobei fünf Soldaten getötet und sieben verletzt wurden. Die PKK hat angeblich kaum mehr als 700 Kämpfer in der Region, während der türkische Staat nach Truppenverlegungen in jüngster Zeit allein in den Provinzen Hakkari und Şirnak mehrere Zehntausend Soldaten stationiert hat.

Zuletzt wurden in Şemdinli am Sonntag zwei türkische Soldaten bei einem Überfall getötet. Die Zahl der bei solchen Kämpfen getöteten PKK-Terroristen ist meist ungleich größer. Den Überfall am Sonntag bezahlten angeblich 20 Kurden mit dem Leben. Doch auf beiden Seiten verfügt man über genug junge Männer, um sie in dem Krieg zu opfern. Der türkische Staat beruft sie ein, der PKK (in deren Reihen auch Frauen kämpfen) laufen sie zu.

Die Regierung wirkt ratlos. Als die größte Oppositionspartei CHP den wachsenden Terror zum Thema einer Parlamentsdebatte machen wollte, wurde dies von der mit absoluter Mehrheit regierenden AKP verhindert. Stattdessen plant man offenbar, einigen BDP-Abgeordneten als Strafe für einen offenen Schulterschluss mit dem Terrorismus die Immunität zu entziehen. Devlet Bahçeli, Chef der nationalistischen Oppositionspartei MHP, fordert den Entzug der Immunität für Parlamentarier, die sich „schwerwiegende Vergehen“ – wie die Unterstützung terroristischer Gruppen – zuschulden kommen lassen, was auf wohlwollende Reaktionen bei AKP-Politikern stieß. Bahçeli reagierte auf Videoaufnahmen, die BDP-Politiker bei Verbrüderungsszenen mit PKK-Kämpfern an einem Straßenposten bei Şemdinli zeigen sollen. Eine Entspannung der Lage lässt sich mit einer Aufhebung der Immunität von BDP-Abgeordneten allerdings mit Sicherheit nicht erreichen.

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/pkk-der-kurdische-krieg-der-tuerkei-11886351.html