Ohne Aussicht auf Rückkehr ?

Eine Reportage von Avid Vormann ueber das syrische Fluechtlingslager Arbat und den WADI-Spielbus:

Zehntausende Frauen, Männer und Kinder sind in den vergangenen Wochen aus dem Nordwesten Syriens in den Irak geflohen. Ein Besuch im Flüchtlingscamp von Arbat im kurdischen Nordirak, in dem derzeit rund 2 500 Flüchtlinge untergebracht sind.
von Arvid Vormann
 Die steinige Ebene am Rande der Ortschaft Arbat im kurdischen Nordirak ist nur eine halbe Stunde von der Großstadt Suleimaniya entfernt.
Hinter einem mit langem Stacheldraht gesicherten Maschendrahtzaun befindet sich das Flüchtlingslager. Provisorische Baracken, Wassertonnen, Toilettenhäuschen, Baumaterial sind von außen zu erkennen. Am Horizont erhebt sich unvermittelt einer der für die Region charakteristischen imposanten Bergrücken. Öllaster rollen im Minutentakt direkt am Camp vorbei und ziehen dichte, gelbe Staubwolken hinter sich her. Der mehr oder weniger offiziell organisierte Ölschmuggel zeugt von verbreiteter Korruption in Staat und Verwaltung, trägt aber erheblich zum Wohlstand der Region bei.
Ein Spielbus gegen die Langeweile. Für die vor dem Krieg geflüchteten syrischen Kinder ist die Monotonie des Lebens im Flüchtlingslager unerträglich

Ein Spielbus gegen die Langeweile. Für die vor dem Krieg geflüchteten syrischen Kinder ist die Monotonie des Lebens im Flüchtlingslager unerträglich (Foto: Arvid Vormann)

Mit dem bunten Spielbus möchten wir den Kindern zwei Stunden Spaß und Abwechslung im ansonsten monotonen Lagerleben bieten. Die Genehmigung ist reine Formalität und wird in einer Baracke unweit des Eingangs umgehend ausgestellt. Ein Polizist spendiert erst einmal eine Runde Mineralwasser. Ein Vorgesetzter schaut herein, reicht allen freundlich die Hand, ignoriert aber die Frau in der Gruppe, die jedoch die Ansprechpartnerin ist. »They don’t shake hands with women«, flüstert sie uns augenzwinkernd zu. Wir erhalten unser Dokument, steigen in die Fahrzeuge und rollen durch den gut bewachten Eingang an freundlich-gelangweilten Soldaten vorbei in das Lager hinein, wo wir schließlich vor einer großen, offenen Halle zum Stehen kommen.
Unweit von ihr stehen Frauen mit weißen Kanistern in der Hand vor einer zentralen Wasserstelle geduldig Schlange. Im Raum erstreckt sich, eingewoben in ein Netz von Wäscheleinen und Stromleitungen, eine Landschaft aus soliden Leinenzelten mit blassblauem UNHCR-Aufdruck. Sie haben einmal 4 000 Flüchtlingen provisorischen Schutz vor Hitze, Wind und Kälte geboten. Jetzt sind es nach UN-Angaben nur noch 2 500. Die anderen, so hört man, seien in die syrische Heimat zurückgekehrt.
Damit ist das Lager Arbat vergleichsweise sehr klein. Der Irak hat insgesamt um die 200 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen, die sich auf etwa zehn Lager verteilen. Domiz, das größte von ihnen, liegt ganz im Norden und beherbergt etwa 45 000 Menschen. Die Zahlen bleiben derzeit stabil; es gibt Fluktuationen, jedoch keinen allgemeinen Trend zur Rückkehr.
Das Camp ist aufgeteilt in einen Männer- und einen sogenannten Familienbereich. Letzterer ist ungleich größer und beherbergt vor allem Frauen und Kinder. Die große Halle dient als Schule. In ihr stehen mehrere mit dicken Stoffbahnen ausgelegte Zelte, die als Klassenräume genutzt werden. Jedes Zelt ist belegt, die Kinder sitzen in Reihen an ihren Pulten und lauschen dem Lehrer oder sprechen ihm nach. In einem Zelt wird gerade ein Mädchen grob gemaßregelt. Geschlagen werde jedoch nicht, versichert uns der Verwalter der Halle. Unterricht werde für die Klassenstufen eins bis neun angeboten. Jugendliche oberhalb dieses Alters gebe es im Lager nicht, erklärt er uns.
Später treffen wir dann doch eine Gruppe von vier Jungen zwischen 16 und 17 Jahren in gebleichten Jeans und modischen Shirts. Einer hat eine schwarze Mütze auf, zwei halten kleine Getränkedosen in der Hand. Sie erzählen, dass sie wahnsinnig gern zur Schule gehen würden, es aber kein Angebot für sie gebe. »Weißt du, was wir hier den ganzen Tag machen? Wir laufen durch die Zeltreihen. Immer die staubigen Wege lang. Hin und zurück, hin und zurück. Es gibt hier nichts zu tun für uns. Nicht das Geringste«, erzählt der Junge mit der Strickmütze mit einem verschmitzten Lächeln, hinter dem Verzweiflung zu ahnen ist.
Im Familienbereich des Lagers werden Frauen und Kinder untergebracht

Im Familienbereich des Lagers werden Frauen und Kinder untergebracht (Foto: Arvid Vormann)
 
 
Vor der Schulhalle stehen einige Männer, die erzählen, sie seien bis vor kurzem für die Organisation des Unterrichts und die Ausgabe von Lehrmaterialien verantwortlich gewesen, nun habe man sie abgelöst. Der Unmut ist groß. »Die haben Ortsansässige eingestellt – Leute, die Sorani sprechen. Die trauen uns nicht über den Weg. Und wie die uns behandeln!« schimpft einer. »Man fühlt sich hier wie in Feindesland, das ist doch keine Art!« Die anderen pflichten ihm bei. Die meisten syrischen Flüchtlinge sind zwar Kurden, sprechen jedoch einen Dialekt, der sich sehr vom iranisch-irakischen Sorani-Kurdisch unterscheidet und hier nicht verstanden wird: das Kurmanji-Kurdisch, das auch in der Türkei gesprochen wird.
Auch über die medizinische Versorgung können die Flüchtlinge nur klagen: »Kein Arzt, keine Medikamente, nur eine Krankenschwester, die einem überhaupt nicht weiterhelfen kann.«
Das mag auch an der Sprachbarriere liegen, vermutet Jihan, ein stämmiger Mittdreißiger mit Dreitagebart. »Wer wirklich krank ist, der muss beim Lagerpersonal um eine Ausgangsgenehmigung ersuchen und dann nach Suleimaniya ins Krankenhaus fahren. Dafür muss man sich aber irgendwie den Transport organisieren, und man muss die Behandlung bezahlen«, sagt er.
Aus allen Richtungen strömen jubelnde Kinder zum Spielbus und bilden gleich lange Schlangen vor den kleinen Plastikrutschen. Jeder möchte mal und geduldet sich doch, die Kleinsten werden zurückgehalten, vereinzelt gibt es Streit. Eine der Erzieherinnen tröstet einen kleinen Jungen in grünen Plastiksandalen, der empört in Tränen ausgebrochen ist. Im Lager müssen die Kinder ohne jegliches Spielzeug auskommen. Nicht einmal einfachste Dinge wie Bälle gibt es.
Nur noch 2 500 von ursprünglich 4 000 syrischen Flüchtlingen leben nach UN-Angaben in Arbat

Nur noch 2 500 von ursprünglich 4 000 syrischen Flüchtlingen leben nach UN-Angaben in Arbat (Foto: Arvid Vormann)
Alle Lagerbewohner haben von der Verwaltung ein sogenanntes Non-Food-Items-Kit mit wichtigen Hygiene- und Haushaltsartikeln erhalten. Trotzdem fehlt es auch den Frauen gerade an kleinen, alltäglichen Dingen. So wünscht sich Behar, die mit einem Säugling und zwei Kleinkindern vor ihrem Zelt sitzt, vor allem eine Handcreme. Aber auch Binden könnte sie gebrauchen, außerdem Wundcreme und Arznei gegen Sodbrennen. Sie bestätigt die Einschätzung über die medizinische Versorgung. Doch das Schlimmste, sagt sie, sei, dass es nicht genug Trinkwasser gebe. Die Frauen müssten sich an die wachhabenden Polizisten wenden, um eine kurzfristige Ausgangsgenehmigung zum Wasserholen zu erhalten. Dann könnten sie mit Kanistern in die nahe Ortschaft ziehen und es bei den Einheimischen erbetteln.
Angesichts dieser Verhältnisse erscheint es naheliegend, dass viele derjenigen, die ausreichend mobil und unabhängig sind, insbesondere Männer, es vorziehen, das Lager zu verlassen und wohin auch immer zu gehen. Dabei heißt es, dieses Flüchtlingslager sei das beste im ganzen Irak. Wie mag es erst in den anderen aussehen?
Immerhin berichten viele Frauen, dass sie sich hier vor Übergriffen relativ sicher fühlen. Das ist, wie man sehr schnell erfährt, nicht selbstverständlich und in den meisten anderen Lagern nicht der Fall. Die Frauen berichten jedoch davon, dass ihnen irakisch-kurdische Männer voller Verachtung begegnet seien. Viele haben daher angefangen, sich in traditionelle Gewänder zu hüllen und Kopf und Gesicht zu bedecken, obwohl sie von zu Hause eher legere Kleidung wie Jeans und T-Shirt gewohnt sind. Hier auf dem Lande ist die Gesellschaft deutlich konservativer, und damit frauenfeindlicher, eingestellt als in den Städten.
Solch unangenehme Begegnungen mögen aber nicht nur auf traditionelle Werte und »falsche« Kleidung zurückzuführen sein. Grundsätzlich ist im Nordirak nicht allzu viel von Mitgefühl und Hilfsbereitschaft gegenüber den syrischen Landsleuten zu spüren. Auf kostenlose ärztliche Behandlung beispielsweise darf ein Flüchtling in Suleimaniya nicht hoffen.
Für Jugendliche ab 16 Jahren gibt es im Lager kein Unterrichtsangebot

Für Jugendliche ab 16 Jahren gibt es im Lager kein Unterrichtsangebot (Foto: Arvid Vormann)
 
Die meisten hier im Flüchtlingslager Arbat sind nicht Verfolgern entkommen, sondern vor existenzieller Not geflohen. Sie wussten nicht mehr ein noch aus, weil sie ihre Lebensgrundlage verloren hatten. In Europa nennt man Menschen wie sie »Wirtschaftsflüchtlinge«, ein Begriff, der suggeriert, dass diese Menschen eine Wahl hätten. Wie aberwitzig diese Konstruktion ist, wird hier einmal mehr deutlich.
Zwar sind die politischen Verhältnisse im Nordosten Syriens durch die Herrschaft der PYD, eines Ablegers der PKK, vergleichsweise stabil, doch islamistische und al-Qaida nahestehende Terrorbanden wie Jabhat al-Nusra und ISIS (Islamischer Staat in Irak und Syrien) treiben ihr Unwesen und sorgen immer wieder für Angst und Schrecken. Die meisten Gebiete werden von den Kurden gehalten, und einige Orte konnten aus der Hand des ISIS befreit werden. Doch es gibt auch Stellungen und Checkpoints anderer Gruppen wie der Nusra-Kämpfer oder der Schergen des Assad-Regimes. Die Lage ist vielerorts verworren, Explosionen, Schießereien und Überfälle sind an der Tagesordnung. Der Alltag gestaltet sich schwierig und oft unvorhersehbar. Die Lebensmittelpreise haben sich vervielfacht. Wer kriegsbedingt seinen Beruf verloren hat und nicht auf irgendeine Weise protegiert wird oder Anschluss an die neue Kriegsökonomie gefunden hat, der hat unversehens nichts mehr zu essen. Oft fliehen Frauen allein mit ihren Kindern, weil die Männer sich im Krieg befinden oder gefallen sind. Viele haben Opfer in der Familie zu beklagen und viele mussten geliebte Menschen zurücklassen. Jede der Frauen hat ihre eigene schwere Geschichte, die sie in all der Zeit im Lager nicht loslässt.
Für die meisten Flüchtlinge ist an baldige Rückkehr nicht zu denken. Sie richten sich auf einen dauerhaften Aufenthalt im Irak ein. Die angebotenen Sorani-Kurse sind sehr gefragt. Auch Behar würde gern teilnehmen, doch sie weiß nicht, wie sie das mit drei Kindern anstellen soll. Die üblichen Schwierigkeiten alleinerziehender Mütter potenzieren sich im Ausnahmezustand.
Wir besuchen die Lagerverwaltung, sprechen durch ein Fenster mit einem der Polizisten. Noch einmal reicht man uns freundlich eine Flasche Wasser, wir danken und wünschen gleichzeitig, dass alle Bewohner des Lagers ebenso selbstverständlich an Trinkwasser kämen. Auf die Frage, ob man die Missstände und vor allem den Trinkwassermangel nicht beheben könne, verweist man uns schulterzuckend an das UNHCR.
Die Erzieherinnen packen zusammen. Sie räumen die Teppiche, Spiele und Spielgeräte zurück in den Bus und achten dabei darauf, dass die begeisterten Kinder den Wagen nicht entern. Es ist Zeit für den Aufbruch. Nun aber protestieren die größeren Kinder lautstark, sie hüpfen, bitten, betteln, doch alles Flehen ist vergebens. Die Türen schließen sich, der Wagen setzt sich in Bewegung und die vielen Kinder gleich mit ihm. An den Zeltreihen und Latrinen vorbei bis zu den grauen Baracken am Platz vor dem Ausgang laufen sie ihm schreiend, jubelnd, winkend hinterher und freuen sich schon auf das nächste Mal