Nordirak : Viel Öl, viel Korruption

DIE ZEIT 22.8.2012 – Im Norden des Iraks wachsen Wirtschaft und Wohlstand der Kurden – in einem tödlichen Umfeld.

Die irakische Armee bombardierte die Kurden mit Giftgas, sie schleifte Tausende ihrer Dörfer und vertrieb die Einwohner wie Vieh. Die Kurden litten Hunger, sie lebten in Todesangst und tiefer Verzweiflung. Das war 1991, während des ersten Golfkrieges. Heute ist das irakische Kurdistan ein boomendes Land. Wohin man auch blickt, es wird gebaut und konsumiert, und wo das Wachstum sich noch nicht voll entfaltet hat, da ist seine ganze umstürzende Kraft bereits spürbar. Selbst durch die entlegensten Dörfer Kurdistans geht ein Zittern, überall herrscht geschäftiges Drängeln. Die Ketten der Unterdrückung haben die Kurden des Iraks abgeworfen, jetzt wollen sie mit riesigen Schritten dem Wohlstand entgegeneilen – schnell und atemlos.

Wie sehr Kurdistan heute einer Traummaschine gleicht, das lässt sich in den Büroräumen der Vermittlungsagentur Meery Baba in Suleimanija gut erfassen. Meery Baba rekrutiert Arbeitskräfte für Kurdistan – Arbeitskräfte aus Asien. Die Geschäfte laufen prächtig: »Die Nachfrage ist groß«, sagt Basad Daoud, der Geschäftsführer der Agentur, »denn unsere Leute wollen bestimmte Arbeiten nicht machen. Das überlassen sie lieber anderen.«

Vor sechs Jahren nahm Meery Baba die Arbeit auf, heute gibt es allein in Suleimanija vier weitere Agenturen, die den Markt bedienen. In der Hauptstadt Erbil sind es mehr als ein halbes Dutzend. Wie viele asiatische Gastarbeiter in Kurdistan leben, darüber gibt es keine gesicherten Zahlen, doch es sind wohl mehrere Tausend. Obgleich die Lage auf dem kurdischen Arbeitsmarkt alles andere als rosig ist: Die Arbeitslosigkeit liegt nach Schätzungen des Wirtschaftswissenschaftlers Khabd Hajdar weit über 20 Prozent; die Regierung spricht von 12 bis 15 Prozent.

Gestern noch war Kurdistan ein Armenhaus, heute will es wie Dubai sein. Nichts verdeutlicht das so sehr wie die Gastarbeiter aus Asien. Hunderttausende Asiaten errichten die babylonischen Türme am Golf, sie schuften in den Einkaufszentren Katars, sie hüten die verwöhnten Kinder der reichen Saudis, sie räumen die riesigen Müllberge der Fast-Food-Ketten in Abu Dhabi weg und sorgen dafür, dass Passagiere auf den Flughäfen mit Latte macchiato versorgt werden. Das alles sollen die asiatischen Arbeiter nun auch in Kurdistan schaffen.

Gestern war Kurdistan ein Armenhaus, heute will es wie Dubai sein

Wichtigste Triebfeder des wirtschaftlichen Booms Kurdistans ist das Öl. Es ist der Befeuerer einer Sehnsucht und gleichzeitig ein gefährlicher Verführer. Wie dieser Verführer eine Gesellschaft verändert, das lässt sich im heutigen Kurdistan gut studieren, denn hier steht er erst am Anfang seines Wirkens. Öl und Gas haben bei den Kurden das Gefühl geweckt, schnell und mühelos reich werden zu können. »Verlass dich auf mich, du brauchst sonst nichts! Ich sorge für alles!« – das ist das Versprechen der sprudelnden Ölquellen und fauchenden Gasfeuer Kurdistans. Man glaubt daran, man handelt danach. Und ignoriert die Probleme, die das Öl mit sich bringt.

Das Öleinkommen Kurdistans kommt bisher vor allem aus Bagdad. 17 Prozent des gesamten jährlichen Budgets des Iraks stehen der Autonomen Region Kurdistan laut Verfassung zu. Das waren im vergangenen Jahr erkleckliche elf Milliarden Dollar: viel Geld bei einer Bevölkerung von knapp vier Millionen. Schon Bagdad erwirtschaftet sein Budget zu 95 Prozent aus dem Ölexport. Kurdistans Haushalt besteht praktisch zu 100 Prozent aus Ölgeld. Andere Einkommensquellen hat die Regierung bisher nicht – Steuern werden nicht erhoben.

In den vergangenen Jahren sind auf dem Gebiet der Autonomen Region Kurdistan eine Reihe neuer Quellen erschlossen worden. Die Regierung schloss 48 Verträge mit internationalen Firmen ab, darunter auch mit Exxon Mobil, der größten Mineralölfirma der Welt. Das besonders Brisante an diesem Vertrag ist, dass die Regierung Exxon Mobil eine Lizenz für ein Gebiet rund um die Stadt Kirkuk erteilt hat, das zwischen Bagdad und Erbil umstritten ist. Die Kurden behaupten, es sei Teil der Autonomen Region, die Regierung in Bagdad sagt, das sei falsch. Dieser Konflikt könnte den Irak zerreißen. Doch noch hält das Land zusammen, und die Kurden können ihren neuen Reichtum in Ruhe genießen.

http://www.zeit.de/2012/33/Irak-Kurdistan-Wirtschaftswachstum