NAHER OSTEN : Vom Untertan zum Bürger / Von Thomas von der Osten – Sacken

Bislang teilten die Herrscher des Nahen Ostens die Bevölkerung ihrer Staaten in verbündete und verdächtige Gruppen ein, dem Individuum wurde ein eigener Rechtsstatus verweigert. Entsteht mit den arabischen Revolten ein neues Konzept der Staatsbürgerschaft?

Der syrische Philosoph Sadiq al-Azm schrieb Anfang August: Angesichts dessen, dass die sunnitische Mehrheit in seinem Land den brutalsten Angriffen ausgesetzt sei, erinnere ihn der »internationale Diskurs über Syriens Minderheiten an das Europa des 19. Jahrhunderts und an die sogenannte orientalische Frage. Damals meinte jede europäische Macht, eine Minderheit im Nahen Osten adoptieren und schützen zu müssen.«

In der Tat ist erstaunlich, wer alles in den vergangenen Wochen seiner Besorgnis über die Lage von Minderheiten in Syrien oder anderswo in der Region Ausdruck verlieh. Dem russischen Außenminister Sergej Lawrow etwa, dessen Land neben dem Iran zu den engsten Alliierten gehört, liegt plötzlich das Wohl und Wehe der Kurden am Herzen, und der stellvertretende CDU-Vorsitzende Armin Laschet forderte aus Sorge um syrische Christen Außenminister Guido Westerwelle auf, die Hilfe Deutschlands für syrische Rebellen zu überdenken.

Dass es mit dieser Hilfe nicht weit her ist, ja dass seit über einem Jahr Kommandeure der Free Syrian Army den Westen um Unterstützung anflehen, nur um immer wieder mit warmen Worten und ein paar »nichtmiltärischen Gütern« abgespeist zu werden, interessiert Laschet weniger. Denn wer sich dieser Tage verbal als Beschützer von Minderheiten inszeniert, darf sich gut fühlen und allgemeinen Zuspruchs erfreuen. Da mögen syrische Oppositionelle noch so oft betonen, dass jene, die Bashar al-Assad als Beschützer von Minderheiten und Vorkämpfer gegen den Islamismus bezeichnen, die Propaganda eines Regimes reproduzieren, das UN-Angaben zufolge inzwischen über 100 000 Menschen getötet hat.

Die Mahnung von al-Azm dürfte trotzdem ungehört verklingen, stellt sie doch das Narrativ in Frage, das lautet, einzig eine harte Hand könne Stabilität und Sicherheit in der Region garantieren, das Ende der Autokraten und Diktatoren führe nur zu Chaos und ausufernder Gewalt. Weil sie dies jahrelang predigten, schauen die Nahost-Experten und Mitarbeiter der diversen Think Tanks nun hilflos zu, wie der alte Nahe Osten sich sukzessive auflöst. Nora Müller von der Körber-Stiftung brachte die Stimmung im Tagesspiegel auf den Punkt: Staatenzerfall und eine Aufweichung der Grenzen, die Kolonialmächte nach dem Ersten Weltkrieg gezogen hatten, drohten nun der ganzen Region. Wie vor 100 Jahren die Kolonialbeamten beugen sie sich über Landkarten und grübeln, welche neuen Staaten wohl entstehen, welche alten ihrem Ende entgegenblicken. Wird es bald einen kurdischen Staat geben, oder doch einen alawitischen, oder stattdessen eine grenzüberschreitende Vereinigung sunnitischer syrischer und irakischer Stämme?

Die tragischen Nachrichten aus der Region scheinen ihnen Recht zu geben: Im Irak sterben inzwischen wieder täglich unzählige Menschen bei konfessionell motivierten Attentaten, in Syrien bekriegen sich sunnitische und schiitische ­Islamisten, neuerdings kämpfen auch Einheiten der kurdischen, der PKK nahestehenden PYD ­gegen Milizen von al-Qaida. Sollte es zu einem Sturz Assads kommen, sind Massaker an Alawiten und Christen zu befürchten.

Wer diese Konfessionalisierung kritisiert und in einer Neuaufteilung der Region keine Lösung sieht, wird gerne als Träumer und Optimist belächelt. Doch al-Azm betont nicht nur, dass es de facto ja die Mehrheit in Syrien sei, die den höchsten Blutzoll zahle, die größte Herausforderung für die arabische Welt sieht er in einer neuen »Idee und Praxis von Staatsbürgerschaft«. Es gehe um »die Bewegung von einem sunnitischen Muslim hin zu einem Bürger, von ethnischen Minderheiten wie Alawiten, Drusen oder Ismailiten zu Bürgern, von einer Frau als ›Awra‹ (etwas schamvoll zu Versteckendem) (…) zu einer gleichberechtigten Bürgerin«.

Damit steht er keineswegs alleine da. Seit langem schon wird im Nahen Osten und Nordafrika über die Bedeutung von citizenship diskutiert, für einige Autoren steht die Frage nach Staatsbürgerschaft und damit dem Verhältnis zwischen Nation, Staat und Bürger sogar im Zentrum der jüngsten Proteste. In modernen Nationen herrsche ein gesichertes Rechtsverhältnis, schrieb kürzlich etwa der libanesische Kolumnist Rami Khouri. Millionen von Menschen in der Region revoltierten auch gegen ihre Regierungen, weil dieses Verhältnis in der arabischen Welt hochgradig gestört sei, ja oft nicht einmal ansatzweise existiere. Es gebe keinerlei Vorstellung vom Bürger als politischem Subjekt, nur Untertanen, die staatlicher Willkür ausgeliefert seien. Dass heute Zugehörigkeiten zu Stämmen, Ethnien, Konfessionen oder Familien eine wichtigere Rolle spielten als die zur eigenen Nation, sei keineswegs eine Folge der Umbrüche, sondern liege vielmehr an der Politik arabischer Regimes in den vergangenen Dekaden. Ob revolutionär panarabisch oder reaktionär islamisch, ob in Republiken oder Monarchien in allen arabischen Ländern sei, fügt der ­libanesische Kolumnist Hisham Melhem hinzu, die Idee von Staatsbürgerschaft gezielt zerstört und durch andere Loyalitäten ersetzt worden.

In der Tat existiert in so gut wie keinem Land in der Region zumindest formale rechtliche Gleichheit, unklar ist zudem, wer eigentlich Bürger ist und wer nicht. Viele Verfassungen bezeichnen die Schaffung eines arabischen Einheitsstaates als Staatsziel, das heißt andere Territo­rien werden de facto als künftiges Staatsgebiet behandelt, während im Inneren ganze Gruppen, etwa palästinensische Flüchtlinge oder bis vor kurzem in Syrien Hunderttausende von Kurden, in Staatenlosigkeit gehalten werden.

In diesem Punkt waren sich panarabische Nationalisten und Islamisten, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, einig: Die bestehenden Nationalstaaten in der Region seien künstliche Produkte des Imperialismus und der westlichen Kolonialherrschaft. Träumten arabische Nationalisten von einem Einheitsstaat zwischen Atlantik und Persischem Golf, so kämpfen Islamisten für die Errichtung eines grenzenlosen Kalifats. Den Status quo jedenfalls lehnen beide ab. In ­gewissem Maß gilt dies auch für die vorgefundene Bevölkerung, ob Kurden oder Christen im ba’athistischen Irak oder Berber in Libyen: Äußerst repressiv versuchten die dortigen Regimes Minderheiten zu arabisieren, Widerstand dagegen wurde brutal unterdrückt. Für Millionen Menschen stellte Staatsbürgerschaft deshalb vor allem einen Fluch dar, nämlich einen Freibrief für die verschiedensten Regimes, sie zu entrechten, zu unterdrücken, zu vertreiben und letztlich umzubringen.

Wie erst kürzlich in Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten geschehen, kann unliebsamen Bürgern die Staatsangehörigkeit per Dekret des Innenministers entzogen werden. Millionen von Arbeitsmigranten aus Asien und Afrika, die zum Teil schon in zweiter Generation in arabischen Golfstaaten leben, werden niemals auch nur die Chance erhalten, eingebürgert zu werden.

Da in arabischen Ländern, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, die Sharia das Familien-, Erbschafts- und Heiratsrecht bestimmt und fast überall Sharia-Gerichte für diese Rechtsprechung zuständig sind, werden Frauen anders als Männer behandelt. In konfessionell gemischten Staaten existieren zusätzlich verschiedene Sharia-Gerichte, die gemäß den Lehren der jeweiligen Rechtsschule entscheiden. Meist gilt für monotheistische Minderheiten, also Juden und Christen, noch einmal eine andere Gerichtsbarkeit. In Ägypten etwa ist es Kopten untersagt, sich scheiden zu lassen, Muslimen nicht. Im Irak unter Saddam Hussein gab es sage und schreibe 17 verschiedene Gerichtsbarkeiten.

Bis einige Länder vor kurzem entsprechende Reformen einleiteten, wie etwa der Irak nach 2003 oder Algerien, übertrug Staatsangehörigkeit sich allein über die männliche Linie. Heiratet etwa eine bahrainische Frau einen Ägypter, so werden die Kinder ägyptische Staatsbürger, auch wenn das Paar in Bahrain lebt. Es ließen sich unzählige weitere Beispiele von institutionalisierter Benachteiligung von Frauen und Christen anführen, aber auch von Minderheiten, die einer anderen islamischen Glaubensrichtung anhängen.

Kein Zufall ist es, dass es seit Jahren eine Kampagne arabischer Frauenorganisationen gibt, die »ein Gesetz für alle« fordert und dass insbesondere Feministinnen die in der Region herrschende Vorstellung von Staatsbürgerschaft scharf kritisieren. So schrieb schon vor drei Jahren Suad Joseph, dass anders als in westlichen Verfassungen, in denen das abstrakte Individuum Rechtssubjekt sei, »die meisten Verfassungen arabischer Staaten die Familie als wichtigste Einheit der Gesellschaft« definierten, die vom Mann als Patriarch repräsentiert werde. Frauen dagegen tauchten in der Regel als eigenständige Rechtssubjekte gar nicht auf, sie seien einzig über ihren familiären Status definiert.

Die scheinbar so simple Forderung nach Gesetzen, die für alle gleichermaßen gelten, nach citizenship, die das Individuum anstelle der Familie in Recht setzt, stellt das gesamte nahöstliche Staatsverständnis, sei es islamistisch, konservativ oder panarabisch, viel radikaler in Frage als jene Separatisten, denen es oft nur darum geht, in neuen politischen Entitäten altbekannte Regierungs- und Rechtsformen zu übernehmen.

Nicht zufällig erinnern die Parolen, die seit über zwei Jahren auf den Straßen und Plätzen der Region gerufen werden, auch so sehr an Forderungen von 1848. Ob aus dem sogenannten arabischen Frühling etwas wird, hängt, wie Rami Khouri richtig feststellt, unter anderem davon ab, ob es gelingt, die Länder der Region in so etwas wie National- und Rechtstaaten zu transformieren. Das nämlich sind sie bis heute keineswegs, denn grundsätzliche Fragen, etwa nach dem Verhältnis von Bürger und Staat, Regierung und Parlament, Staat und Religion, sind weiter völlig ungeklärt.

Jungle World Nr. 34, 22. August 2013