Murat Karayılan zur aktuellen Situation in Şemzînan

Seit dem 23. Juli findet in Şemzînan (Şemdinli) eine großangelegte Militäroperation statt. Diese Phase dauert nun schon 13. Tage an, und trotz täglicher heftiger Gefechte, trotz der Bombardierung der Region Şemzînan konnte das Militär die Region in keiner Weise unter Kontrolle bekommen. Die in Şemzînan stattfindenden militärischen Operationen bewertete Murat Karayılan, Vorsitzender des KCK-Exekutivrats in einem Interview gegenüber der Nachrichtenagentur Firat (ANF). In Folge am 3.8.2012 eine Zusammenfassung des Interviews:

Die HPG hat erklärt, dass sich seit dem 23. Juli ein großes Gebiet in der Region Şemzînan unter der Kontrolle der Guerilla befindet und es einen andauernden Kriegszustand gibt. Welche Position nimmt die Guerilla im Moment in Şemzînan ein?

Bis jetzt hat der türkische Staat und das türkische Militär überall in Kurdistan andauernde Operationen und insbesondere auf Technik gestützt pausenlos Angriffe durchgeführt. Daher bestand für die Guerilla die Notwendigkeit eine angemessene Antwort zu geben, um damit „Stopp!“ zu sagen. Mit dieser neuen Kampfphase befinden wir uns in einer Phase der Auseinandersetzung auf hohem Niveau. Zusammen mit der Hit-and-Run-Taktik, welche die Basis für den Guerillakampf darstellt, werden nun an etlichen Orten Angriffe durchgeführt, dort feste militärische Stellungen ausgebaut und so die militärische Vorherrschaft über die betreffenden Gebiete errichtet. Dies ist die Taktik dieser Phase. In diesem Zusammenhang befindet sich Kurdistan jetzt in einem ausgeweiteten Kriegszustand.

Dennoch versuchen der türkische Staat und die türkische Presse diesen Krieg mit größten Anstrengungen zu verschleiern und die Auseinandersetzungen als unzusammenhängende Ereignisse darzustellen. Dies ist aber nicht so. Es ist ein Kriegszustand, der von schweren Zusammenstößen und Gefechten geprägt ist. In diesem Zusammenhang verheimlichen der türkische Staat und die türkische Presse die Ereignisse vor der Öffentlichkeit und der Gesellschaft und kommentiert deswegen die Ereignisse in Şemzînan auf andere Weise.

Der Generalstab hat bisher keine Erklärung abgegeben und auch der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arınç hat die Fragen der Reporter nicht beantwortet. Warum gibt es keine offizielle Erklärung von türkischer Seite?

Weil das, was im Moment passiert, eine revolutionäre Operation der Guerilla gegen die koloniale Unterdrückung und deren Grausamkeiten ist. Sie zeigt deutlich die militärische Fähigkeiten, die die Guerilla entwickelt hat. Das ist das, wovon der türkische Staat und die türkische Presse nicht sprechen möchten. Bülent Arınç gab keine Antwort. Was soll er denn auch antworten? Auch der Generalstab gibt keine Antwort. Das Problem ist nicht nur Şemzînan, das möchte ich sagen: Es gibt in diesem Zusammenhang einen Kriegszustand und ein Kampfgebiet, dass sich von Şemzînan bis Colemêrg (Hakkari) erstreckt. Und auch in den anderen Gebieten des Landes kann an einigen Orten von ähnlichen Situationen gesprochen werden. Eine türkische Zeitung erklärte: „Nachts bombardieren Flugzeuge und tagsüber Kobrahubschrauber den Goman-Berg.“ Dann sollte man sich fragen, wo liegt denn dieser Goman-Berg? Es ist ein Berg mitten in Şemzînan. Wenn türkische Militärs diesen Berg betreten und eine Operation durchführen kann, warum bombardieren die Flugzeuge nachts und die Kobras tagsüber? Wenn die Guerilla, so wie in den türkischen Medien behauptet, umzingelt wäre, warum werden sie dann so bombardiert? An einen Ort an den das Heer nicht vordringen kann, werden Flugzeuge geschickt. Warum werden seit zwei Monaten die Cîlo-Berge bombardiert? Warum die Berge von Çelê (Çukurca), Goman und Gostê? Alle diese Gebiete sind innerhalb der Grenzen der Republik Türkei, nicht wahr? Weil sie nicht vordringen können, deswegen bombardieren sie. So sieht die Realität aus.“

Und obwohl die Realität so aussieht, wird gesagt: „Die PKK wollte in die Stadt vordringen und wurde zurückgeworfen, die PKKler sind umzingelt, so und so viele Personen wurden getötet.“ Das ist alles Lüge. Bei dieser Operation in der Region Şemzînan sind insgesamt fünf FreundInnen gefallen, drei FreundInnen wurden verletzt. Auf Seiten der Guerilla gibt es keine weiteren Verluste. Demgegenüber gibt es auf Seiten des türkischen Militärs dutzende Verluste. Jeden Tag erklärt sich die HPG zu der aktuellen Situation, aber der türkische Staat verheimlicht diese Situation vor der Öffentlichkeit und der Gesellschaft.

Wie verbirgt das türkische Militär seine schweren Verluste? Wie weit werden die Realitäten vor der türkischen Öffentlichkeit und der Weltöffentlichkeit verborgen?

Von der Errichtung der türkischen Republik bis heute wurde alles, was sich auf das kurdische Volk und Kurdistan bezieht, vor dem türkischen Volk verborgen und auf diese Weise verhindert, dass es die Realität wahrnehmen kann. Als letztes Jahr die AKP-Vertreter und ihr Team von Beratern die Entscheidung getroffen haben, die Dialogphase von Oslo zu beenden, wurde häufig zur Sprache gebracht, dass die Guerilla Kurdistans, genauso wie es in Sri Lanka mit der tamilischen Guerilla geschehen ist, vernichtet werden sollten. Etliche Personen versuchten zu erklären, wie mit Spezialkräften die Guerilla vernichtet werden könne. Die größte Rolle sollten dabei die unschätzbar wertvollen Berufssoldaten spielen. Jetzt stecken diese Spezialeinheiten Schläge ein, und die Regierung und die Medien schweigen überrascht. Habt ihr mit den Geheimdienstinformationen der USA und der fortschrittlichen Technologie und dem neuen Spezialheer Erfolge erzielt? Habt ihr die Guerilla niedergemacht? Ihr habt mit dieser realitätsfernen Theorie die Dialogphase abgebrochen und die Kriegsphase eingeleitet – das Ergebnis ist offensichtlich.

Auf dieser Basis können wir von einer Situation der zunehmenden Kämpfe sprechen. All ihre Anstrengungen sind darauf ausgerichtet, dies zu verschleiern. Aber so sehr sie die Wahrheiten beiseite schieben und verhindern, dass sie an die Öffentlichkeit kommen, können sie nicht verhindern, dass der Freiheitskampf des kurdischen Volkes und seiner Guerilla weiter zunimmt.

Ich möchte noch dies sagen: Wir befinden uns in der Situation, dass unser geschätztes, patriotisches Volk von den Luft- und Artillerieangriffen des türkischen Militärs große Verluste erleidet. Die Leiden unseres patriotischen Volkes, die es in diesem Rahmen seit Jahren erlebt hat, haben sich heute nochmals gesteigert. Aber die Bevölkerung soll wissen, dass es möglich sein wird, Hand in Hand gegen die kolonialistischen Besatzungskräfte Stellung zu beziehen, damit diese Leiden ein Ende haben und niemand mehr Opfer der andauernden türkischen Angriffe wird. Ich denke dessen ist sich unsere Bevölkerung in der Region bewusst. Wieder führt der türkische Staat durch die Bombardierungen, egal ob Garten oder Weinberg, vor, dass er auf die Existenz der kurdischen Bevölkerung abzielt. Dagegen ist es notwendig, dass sich unsere gesamte patriotische Bevölkerung in der Region mobilisiert und den Kampf, vor allem um sich gegen diese Angriffe zu schützen, verstärkt.