MIT MEDICO INTERNATIONAL IN WEST KURDISTAN (SYRIEN) / GERMANY’S MEDICO INTERNATIONAL WORKING IN SYRIA

Von Markus Bickel –  27. Mai. Ein paar Handgranaten baumelten über der Lehne des Beifahrersitzes, als der Mitarbeiter einer deutschen Hilfsorganisation Mitte Mai in den sogenannten befreiten Gebieten Nordsyriens unterwegs war. Mitglieder einer lokalen Miliz hatten ihn in ihrem Wagen mitgenommen – nach Absprache mit Vertretern der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD), die weite Teile des Territoriums an der Grenze zur Türkei kontrolliert. Den Namen ihrer Einheit wollten die bewaffneten Männer dem ausländischen Helfer nicht verraten. Uneinheitlich gekleidet seien sie gewesen, manche in Lederjacken, andere in T-Shirts und Stirnbändern mit islamischen Parolen um den Kopf, ausgestattet lediglich mit Kalaschnikows, sagt der Angestellte von Medico International.

“Islamistisch angehaucht”, so berichtet der Mann weiter, hätten die rund 15 Männer auf ihn gewirkt – wie so viele der ungezählten bewaffneten Gruppen, die in Syrien gegen das Regime von Präsident Baschar al Assad kämpfen. Eine schwarze Fahne habe über dem Auto geweht, Lieder der islamistischen Al-Nusra-Front seien während der Fahrt von der syrisch-türkischen Grenzstadt Tall Abiad nach Hasaka nahe der irakischen Grenze abgespielt worden. Ohne Rücksprache mit der von Militärfachleuten auf 6000 Kämpfer geschätzten islamistischen Miliz geht im Norden Syriens nichts mehr. Auch der Bürgermeister Tall Abiads, so der Helfer von Medico International, habe ihm bestätigt, dass er keine Entscheidung ohne Zustimmung der mit dem Terrornetz Al Qaida verbündeten Dschihadisten treffen könne. Mehr als hundert Milizen seien demnach rund um die Grenzstadt aktiv; oft kontrollierten sie jeweils gerade einmal einige Straßenzüge.

Sechzehn Monate nach ihrer Gründung im Januar 2012 hat sich die sunnitische Al-Nusra-Front zur stärksten von Hunderten Kriegsparteien entwickelt, deren Mehrzahl einen engen Aktionsradius hat. Die Befehle des im vergangenen Dezember in Istanbul gebildeten Hohen Militärrats der Freien Syrischen Armee (FSA) ignorieren die Einheiten, die dem Befehl eines Mannes namens Abu Muhammad al Golani unterstehen. Anders als das überwiegend von Armeeüberläufern zusammengesetzte, von Generalstabschef Salim Idriss aus dem Exil geführte Oppositionsheer verfügt die islamistische Einheit inzwischen über panzerbrechende Waffen und Luftabwehrraketen, die sie überwiegend bei der Einnahme von Kasernen und Armeestützpunkten im Norden des Landes erlangt hat. Von Aleppo im Nordwesten über Raqqa am Euphrat bis Deir al Zor an der Grenze zum Irak reicht der Landstrich, der nach Berichten von ausländischen Reportern und von Oppositionskämpfern unter Kontrolle der Al-Nusra-Front steht.

Über erheblichen Einfluss verfügen nach Angaben des amerikanischen Institute for the Study of War außerdem die im Dezember 2012 gebildete Syrische Islamische Front (SIF), der rund ein Dutzend salafistische Milizen angehören, und die Syrische Befreiungsfront (SLF), der sich im September 2012 etwa 20 islamistische Einheiten anschlossen, darunter Ansar al Islam aus Damaskus, die Tahwid-Brigade aus Aleppo sowie die in Idlib und Hama aktive Suqur al Scham Scheich Ahmed Issas, der den islamistischen Milizendachverband führt. Anders als die Islamische Front arbeitet die SLF nicht mit dem Zentralkommando der Freien Syrischen Armee zusammen, auch wenn landesweit aktive SLF-Gruppen wie Ahrar al Scham oder die in Homs starke Liwa al Haq von Fall zu Fall mit der FSA gemeinsame Operationen durchführen.

Saudi-Arabien und Qatar sind die wichtigsten Unterstützer der islamistischen Milizen. Rivalitäten, um den Zugang zu Waffen und zu Geld, haben in manchen Gemeinden bereits zu innerislamistischen Kämpfen geführt. In den mehrheitlich kurdisch besiedelten Gebieten im Nordosten des Landes, in der Grenzstadt Ras al Ain etwa, gab es immer wieder Gefechte zwischen Verbänden der kurdischen PYD und der Al-Nusra-Front; auch kurdische Milizionäre und islamistische FSA-Einheiten haben sich dort bekämpft. In den Gebieten rund um Hasaka und Qamischli ist die PYD die stärkste Kraft, obwohl Verbände von Assads Armee und Geheimdiensteinheiten dort weiter präsent sind.

Die zu Beginn des bewaffneten Aufstands im Frühjahr 2012 starken Khalid-bin-Walid-Brigaden in Homs haben dagegen im vergangenen Jahr an Einfluss verloren. Dabei bilden die in der Phase der Selbstverteidigung, zum Schutz von Demonstrationen entstandenen Milizen das Rückgrat der Freien Syrischen Armee, auf die die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich setzen. Amerikanische Militärs bilden seit Herbst 2012 als moderat betrachtete Kämpfer in Jordanien aus, um ein Gegengewicht zu den im Norden und Osten des Landes starken islamistischen Verbänden zu bilden.

Nach Recherchen des Militärbeobachters Eliot Higgins profitierten Gruppen wie die Al-Furqan- und die Ahfad-al-Rasul-Brigaden Anfang des Jahres von Waffenlieferungen aus kroatischen Beständen, die über Jordanien nach Südsyrien gelangt sein sollen. FSA-Einheiten brachten im Januar Grenzübergänge zu Jordanien unter ihre Kontrolle; zwei Jahre nach Beginn des Aufstands in Daraa rückten Oppositionsverbände danach erstmals von Süden her näher an Damaskus heran. Mitte Mai soll es Assads Armee in einer Gegenoffensive jedoch gelungen sein, die strategisch wichtige Verbindungsstraße zwischen der jordanischen Grenze und der Hauptstadt wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.

Unterstützt wird die syrische Armee im Westen des Landes und nahe der Hauptstadt von der libanesischen Hizbullah. Mit Hunderten Kämpfern ist die schiitische Miliz in der Provinz Homs präsent. Nach amerikanischen Geheimdienstinformationen sind auch 200 Angehörige der iranischen Al-Quds-Einheiten in den Krieg verwickelt. Al-Quds-Kommandeur Qassim Suleimani habe zudem die Unterstützung der irakischen Schiitenmilizen Asaib al Haq und Kataib Hizbullah angefordert. Im für die Aufständischen wie das Regime strategisch wichtigen Grenzort Qusair stehen sich die mit Al Qaida verbündete salafistische Al-Nusra-Front und die Hizbullah direkt gegenüber. Die Konfrontation nahe der Grenze zum Libanon macht deutlich, wie stark der regionale sunnitisch-schiitische Konflikt den Syrien-Krieg inzwischen prägt. Auch libanesische Sunniten sind an den Kämpfen beteiligt.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.05.2013, Nr. 121, S. 6