Mit Karl Marx nicht über Fortschritt, sondern über den Niedergang philosophieren

Linke Dekadenztheorie

Die “Allgemeine Zeitschrift für Philosophie” wendet sich an ein Fachpublikum, das an der verständlichen Aufbereitung von Fragen der philosophischen Tradition, aber auch an bisher vernachlässigten Themen interessiert ist. Die Sprache sämtlicher Beiträge ist Deutsch, weil man die Form der Präsentation für ein den Inhalt prägendes Moment erachtet. Die dreimal im Jahr erscheinende Zeitschrift hat sich dem akademischen “Dienst an der Wissenschaft” verpflichtet und stellt sich bewusst in Opposition gegen die durchgreifende Ökonomisierung des wissenschaftlichen Betriebs, wie sie paradigmatisch in England zu beklagen ist.

Mit Konrad Lotter (“Marx als Theoretiker der Dekadenz”, in: Heft 1, 2012) würde sich der Verfall des Kulturellen unter dem Regime des Kapitals ohne weiteres als Dekadenzerscheinung fassen lassen. Zwar verwendeten Karl Marx und Friedrich Engels den Begriff “Dekadenz” nicht ausdrücklich, jedoch meinten sie, als sie von “Krise”, “gesellschaftlicher Epidemie” oder von der Regression in einen “Zustand momentaner Barbarei” sprachen, im Kern dasselbe wie etwas später Paul Bourget in seinen “Essais de psychologie contemporaine” (1883) und, in dessen Gefolge, Friedrich Nietzsche, wenn diese prononcierten Denker der Dekadenz den “Zerfall des Ganzen” infolge der “Verselbständigung der Teile” diagnostizierten.

Die Marxsche Ideenwelt als eine Theorie des Verfalls zu lesen wird vom gegenwärtigen Stand der politischen Verhältnisse nahegelegt: Die sozialdemokratische Ausprägungsform des Marxismus ist sichtlich “verbürgerlicht” und die leninistische ein für alle Mal gescheitert. Ein historisches Subjekt, welches den Geschichtsverlauf vernünftig zu regulieren vermöchte, ist weit und breit nicht in Sicht. Übrig bleibt als Rest die analytisch-kritische Potenz der Theorie, die ursprünglich der progressiven Praxis Impulse geben wollte. “Sie gilt nicht mehr als Wegweiser des Fortschritts und ,Fahrplan’ zum Kommunismus, sondern ausschließlich als Kritik des Kapitalismus und Darstellung seines notwendigen Niedergangs.” Auch das “Kapital” enthält in den Augen Lotters “keine Theorie des geschichtlichen Fortschritts, sondern in erster Linie eine Theorie der Dekadenz, das heißt der durch das ungebremste Kapitalwachstum beförderten Selbstzerstörung des Systems”.

Woher aber bezog Marx die Kriterien, um Dekadenz als solche qualifizieren zu können? Es waren die “Verheißungen der bürgerlichen Gesellschaft” selbst, an denen er die Entwicklung maß und deren Humanitätsgehalt er radikalisieren wollte. In der Einleitung “Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie” beschwor er 1843 den utopischen Traum von der “allgemein menschlichen Emanzipation”, den er aber in Deutschland ungeträumt wähnte.

Erstaunlich oder nicht: Tatsächlich ähnelt die von Marx unterbreitete Sozialpathologie, ihrer historisch-revolutionären Perspektive beraubt, altkonservativ getönter Apokalyptik in bemerkenswerter Weise.

FRANZ SIEPE