Minima moralia – Von Professor Dr. Reinhard Merkel
„ERST DIE BESCHNEIDUNG MACHT DEN MANN“
Daß der Gesetzgeber die Beschneidung unmündiger Jungen straffrei stellen möchte, ist längst beschlossene Sache. Wie das lege artis geschehen kann, ist noch nicht ausgemacht. Denn der Gesetzentwurf der Bundesregierung unterläuft elementare Anforderungen an Moral und Recht.
Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Erlaubnis der Beschneidung männlicher Kinder, der als Paragraph 1631 d ins Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt werden soll, wird kein Ruhmesblatt in der Geschichte deutscher Gesetzgebungskunst. Vermutlich könnte das auch keinem anderen Entwurf gelingen. Denn das Ziel der Vorlage, die Erweiterung des Sorgerechts der Eltern um die Möglichkeit, in die Beschneidung ihrer unmündigen Söhne auch ohne medizinischen Anlass einzuwilligen, kollidiert mit Grundlagen der Rechtsordnung.
Aber der rechtspolitische Streit ist entschieden. Der Deutsche Bundestag wird ein solches Erlaubnisgesetz verabschieden. Seit dem 19. Juli, als das Parlament die Regierung zur Vorlage eines entsprechenden Entwurfs aufforderte, steht das außer Zweifel. Auch wer das Ziel des Entwurfs missbilligt, sieht sich nun mit der bescheideneren Frage konfrontiert, ob wenigstens der vorgeschlagene Weg dorthin akzeptabel ist. Die Antwort lautet: Nein, das ist er nicht.
Zur Voraussetzung jeder legitimen Beschneidung mache der Entwurf, so belehrt uns dessen Begründung, die Garantie eines hinreichenden Schutzes der betroffenen Kinder. Damit genüge er dem Gebot des “Wächteramts”, das Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes dem Staat auferlege, ohne weiteres. Denn Absatz 1 des vorgeschlagenen Paragraphen unterstelle den gesamten Eingriff den “Regeln der ärztlichen Kunst”. Was damit neben der versierten Handhabung des Skalpells vor allem gewährleistet werde, sei eine “angemessene und wirkungsvolle” Schmerzbehandlung.
Das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Im folgenden zweiten Absatz der Norm sieht sich der Leser, dem die Formel von den Regeln ärztlicher Kunst die Annahme nahelegt, damit werde das sachgemäße Handeln eines Arztes gefordert, eines Besseren, nämlich Schlechteren belehrt: Ist das Kind noch nicht älter als sechs Monate, dann darf es auch von einem Nichtarzt beschnitten werden, sofern dieser “von einer Religionsgemeinschaft dazu vorgesehen” ist und die Kunstregeln der Ärzte, “vergleichbar” beherrscht, ohne selber einer zu sein. Das wird man hinnehmbar finden mit Blick auf den Schnitt selbst. Dessen Ausführung ist vorrangig eine Frage der Technik, und die mag ein erfahrener jüdischer Beschneider (Mohel) genauso gut, ja besser beherrschen als ein vielleicht noch junger Arzt.
Schon skeptischer fragt man sich nach den “vergleichbaren” Bedingungen klinischer Sterilität im Wohnzimmer einer jüdischen oder muslimischen Familie. Doch auch das mag sich gerade noch voraussetzen lassen. Ratlos steht man aber vor Frage, wie ein Nichtarzt für die in der Entwurfsbegründung verlangte “effektive Schmerzbehandlung” sorgen soll, wenn die Minimalbedingungen einer solchen Effizienz nur durch eine Betäubungsmethode gewährleistet werden können, die ein Nichtarzt weder anwenden kann noch darf.
Für die frühkindliche Beschneidung braucht man, sagt der Entwurf, keinen Arzt. Für die dabei gebotene Schmerzbehandlung auch nicht? Schweigen. Auskunft gibt uns aber die juristische Auslegungslehre: nein, auch dafür nicht. Denn Absatz 2 erlaubt einfach die Vornahme der gesamten Prozedur “gemäß Absatz 1” auch durch einen Nichtarzt und unterscheidet dabei nicht zwischen Schnitt und Betäubung. Damit vertraut er beides den Nichtärzten an. Freilich fordert Absatz 1, dass deren Befähigung auch in puncto Anästhesie mit der eines Arztes “vergleichbar” sei. Aber gibt es das überhaupt? Nein, das gibt es nicht. Ein Nichtarzt kann und darf eine solche Befähigung gar nicht erwerben. Den dafür erforderlichen Umgang mit den Mitteln und Methoden anästhetischer Eingriffe verbietet ihm bei Strafe das Arzneimittelgesetz.
Hier öffnet sich die erste finstere Lücke im Kinderschutz des Entwurfs. Ganz gewiss war den Verfassern bewusst, dass anästhetische Mittel von hinreichender Effizienz für gewichtige Eingriffe einem Nichtarzt nicht zugänglich sind, von ihrer fachkundigen Anwendung ganz zu schweigen. Daraus dürfte sich die beiläufige Bemerkung in der Begründung des Entwurfs erklären, “Vollnarkosen oder Lokalnarkosen durch injizierte Anästhetika” seien “bei der im Judentum am achten Tag nach der Geburt durchgeführten Beschneidung nicht gebräuchlich”; doch würden “vielfach Salben aufgetragen und/oder Zäpfchen verabreicht”. Punkt. Weiter nichts.
Kein Wort dazu, ob das Nichtgebräuchliche auch entbehrlich, das vielfach Verabreichte ausreichend und somit für den Schutz der Kinder akzeptabel sei. Die Botschaft ist deutlich: Auch in Zukunft sollen die Betäubungsmethoden “aufgetragene Salbe” und “verabreichtes Zäpfchen” ausreichen. Das neue Gesetz erhebt keinen Einwand. Die “vergleichbare” ärztliche Kunst des Nichtarztes muss und darf sich bei der Anästhesie eben in den Grenzen halten, die ihm, dem Laien, von anderen Gesetzen gezogen werden. Was auch sonst?
Das ist nun ein Punkt, an dem Kinderschützer jeglicher Provenienz die Geduld mit einem allzu findigen Normgeber verlieren sollten. Die Salbe, mit deren Auftragen sich der Entwurf zufriedengibt (von dem substanzlosen Hinweis auf “Zäpfchen” nicht zu reden), ist ein lokalanästhetisches Präparat mit den Wirkstoffen Lidocain und Prilocain. Es wird weltweit unter dem Akronym Emla (“eutektische Mixtur lokaler Anästhetika”) gehandelt und dient bei Bagatelleingriffen der Betäubung der Hautoberfläche.
Im Mai dieses Jahres erschien in der Zeitschrift “Anaesthesia and Intensive Care” die jüngste und bislang umfassendste wissenschaftliche Auswertung sämtlicher Studien über die Frage der hinreichenden Schmerzbekämpfung bei Beschneidungen von Säuglingen und Kleinkindern. Emla, so schreiben die Autoren, zwei australische Anästhesisten, habe gewisse schmerzlindernde Effekte und sei besser als nichts. Effizienten lokalanästhetischen Methoden, etwa einer Ringblockade der Nerven um den Genitalbereich, sei es aber “substantiell unterlegen”. Der Betäubungseffekt von Emla bei frühkindlichen Beschneidungen sei vielmehr hoffnungslos unzulänglich. Bei einer Testreihe mit älteren Knaben hätten 25 Prozent der Teilnehmer sogar den weit geringeren Schmerz des bloßen Lösens der Vorhaut aus deren Verklebung mit der kindlichen Eichel trotz Emla-Betäubung nicht ertragen können. Dies bestätige die Befürchtung, dass Emla als Schmerzmittel bei frühkindlichen Beschneidungen untauglich sei.
Eine solche Befürchtung liegt den Verfassern des deutschen Gesetzentwurfs fern. Vielleicht kannten sie den australischen Forschungsbericht nicht. Das wäre bedauerlich genug. Aber auch keine der zahlreichen Einzelstudien, die zu dem gleichen Ergebnis gekommen sind? Die australische Metastudie war lange vor der Vorlage des Gesetzentwurfs in der Presse zitiert und in der Debatte des Deutschen Ethikrates über die Beschneidung erwähnt worden. Von dieser Kenntnislücke abgesehen, zeigen sich die Verfasser übrigens gut belesen, und zwar in einem für Gesetzentwürfe verblüffend breiten Spektrum von Textgattungen. Nelson Mandelas Memoiren, wonach in seiner Volksgruppe erst die Beschneidung den Mann mache, gehören ebenso dazu wie ein bayerischer Polizeibefehl von 1843, der einen widerspenstigen jüdischen Vater anwies, seinen Sohn beschneiden zu lassen. Mit Neigung und Nachdruck zitiert wird auch jenes jüngste Papier der “American Academy of Pediatrics” (AAP) vom vergangenen September, das die gesundheitlichen Vorteile der Beschneidung für gewichtiger erklärt als deren Risiken – und das Dutzende kinderärztlicher Verbände im Rest der westlichen Welt inzwischen als das gekennzeichnet haben, was es ist: ein parteiliches, selektiv zitierendes und ignorierendes, mit falschen Schlüssen irreführendes, kurz, wissenschaftlich haltloses Dokument berufsständischer Interessenpolitik.
Anfang des kommenden Jahres wird die Fachwelt das in ebenjener Zeitschrift “Pediatrics” lesen können, die zuvor dem Papier der AAP weltweite Resonanz verschafft hat. Der Gesetzgeber wäre gut beraten, die Veröffentlichung dieser Stellungnahme abzuwarten, bevor er ein Gesetz verabschiedet, dessen Begründung sich auf eine wissenschaftliche Schimäre stützt.
Das alles ist wenig erfreulich. Zum offenen Ärgernis wird es, wenn man die Konsequenz des Gesetzgebungsprojektes bedenkt: den gesetzlichen Verzicht auf die Garantie einer hinreichenden Schmerzprävention bei Beschneidungen ausgerechnet der schmerzempfindlichsten Kinder, der Neugeborenen. Beiläufig erwähnt der Entwurf den Umstand, dass in Israel Beschneidungen an Kindern, die älter als sechs Monate sind, nur unter Narkose durchgeführt werden. Vollnarkosen bei Neugeborenen sind gefährlich und ohne medizinische Indikation unzulässig. Aber die naheliegende Frage, warum sie für Beschneidungen vorgeschrieben werden, sobald sie nur irgend möglich und vertretbar sind, stellen sich die Verfasser des Entwurfs offenbar nicht.
Man ahnt, warum. Die Antwort, weil es um eine Bagatelle gehe, für die bei Neugeborenen Salbe und Zäpfchen ausreichten, hätte sich wohl von selbst verboten. Aber die Nonchalance der Vorlage im Umgang mit dem Schmerzempfinden Neugeborener eigentlich auch.
Ein negatives Lehrstück par excellence ist die Art, wie der Entwurf das Thema der Risiken und möglichen Folgen des Eingriffs behandelt. Der Leser wird auf wenig mehr als einer halben Seite von insgesamt 25 ins Bild gesetzt: darüber, dass Komplikationen “sehr selten und meist unbedeutend” seien und dass man sonst nichts wissen könne. Denn in diesen Fragen sei die Wissenschaft heillos zerstritten. Nicht weniger als viermal in sage und schreibe zehn Zeilen liest man, hier lägen “unterschiedliche Aussagen vor”, divergierten “die Meinungen auch in der Wissenschaft”, gebe es “keine gesicherten Erkenntnisse” und gingen “die Ansichten von Fachleuten auseinander”. Die Botschaft ist deutlich: Auf so schwankenden Boden könne man sich als Gesetzgeber nicht begeben. Hier müsse man sich bescheiden und die ungelösten Fragen auf sich beruhen lassen.
Das ist ein grobes Missverständnis der Aufgabe des Gesetzgebers. Das Parlament hat nicht wissenschaftliche Streitfragen zu entscheiden, sondern unerlaubte Risiken zu definieren und zu verbieten. Und dafür bedarf er ganz gewiss keiner Beglaubigung durch eine Mehrheitsmeinung im Streit der Wissenschaften. Was er in Fällen wie hier, nämlich bei medizinisch nicht veranlassten, irreversiblen Körpereingriffen an Einwilligungsunfähigen, zur regulierenden Intervention braucht und was ihn dann freilich von Verfassungs wegen verpflichtet, ist nicht mehr als das: glaubhafte Indizien für eine nicht geradezu verschwindende Zahl hinreichend gewichtiger Schadensfolgen. Solche Folgen sind zu Zehntausenden dokumentiert. Man kann nur staunen über das achselzuckende “Ignoramus” der Juristen aus dem Bundesjustizministerium – über das anschließende Fallenlassen des Themas erst recht.
Inzwischen bestens im Bild über Nelson Mandelas Beschneidungsstatus und über den bayerischen Amtmann von 1843, der bei jüdischen Beschneidungen selber resolut nach dem Rechten sah, erfährt der Leser freilich kein Sterbenswörtchen von dem halben Dutzend Todesfällen infolge von Komplikationen während oder nach einer Beschneidung, die allein in den vergangenen Jahren in England, Amerika, Kanada, Israel und Norwegen durch die Medien gingen, der letzte vor sechs Monaten in Oslo. Der Leser erfährt auch nichts über eine große amerikanische Studie aus dem Jahr 2010, die unter knapp 9000 kinderurologischen Operationen 4,7 Prozent, also mehr als 400 Fälle, identifizierte, die infolge von Komplikationen notwendig wurden.
Nichts auch über zwei ausgedehnte Studien aus Korea und den Vereinigten Staaten über mögliche psychosexuelle Folgen der Entfernung der Vorhaut. Die Teilnehmer hatten vor und nach ihrer Beschneidung sexuelle Erfahrungen. Jeweils annähernd 40 Prozent bekundeten nun ihre “Unzufriedenheit” mit dem neuen Zustand. Nichts auch über Dutzende weiterer Studien über Dutzende weiterer Risiken. Denn zu jeder Studie, die einen bestimmten Schadentypus dokumentiert, findet sich eine andere, deren Verfasser zu dem Ergebnis kommen, just dieser Schaden sei nicht oder doch viel seltener aufgetreten. Und das, so suggeriert es der Entwurf, lasse dem Gesetzgeber eben keine Möglichkeit, bei seiner Entscheidung von diesem oder jenem Ergebnis auszugehen.
Das ist falsch. Selbstverständlich muss für das Verdikt, frühkindliche Beschneidungen seien unerlaubt, nicht ihr (zusätzliches!) Schädigungspotential dargelegt werden. Vielmehr muss umgekehrt dessen Fehlen nachgewiesen werden, wenn sie erlaubt sein sollen. Das im Entwurf betonte “Auseinandergehen” der wissenschaftlichen Ansichten verurteilt jeden Versuch eines solchen Nachweises zum Scheitern.
Diese Einsicht liegt so offen auf der Hand, dass man sich fragt, von welcher Absicht sie wohl verstellt worden sein könnte. Gewiss konnte niemand die Verfasser um eine Aufgabe beneiden, die nicht befriedigend zu lösen war: Sie mussten ein Gesetz vorlegen zur allgemeinen Erlaubnis eines Eingriffs, der ohne seinen speziellen religiösen Hintergrund auf keinen Fall erlaubt würde. Trotzdem hätte man sich eine Vorlage gewünscht, deren Begründung ein wenig ehrlicher und mutiger mit der Schwierigkeit ihres Gegenstands umgegangen wäre, anstatt ihn zu bagatellisieren, um seine wirkliche Dimension im gesetzgeberischen Stillschweigen verschwinden zu lassen.
Die nächste dunkle Lücke im Kinderschutz des Entwurfs ist dessen Verzicht auf ein “natürliches Vetorecht” des Kindes. Auch hier suggeriert die Begründung das genaue Gegenteil. Der Ethikrat hatte am 23. August die Anerkennung eines “entwicklungsabhängigen Vetorechts des betroffenen Jungen” gefordert. Gemeint ist damit selbstverständlich nicht nur der verbale Widerspruch. Jede deutliche, auch nur kreatürliche Abwehrreaktion reicht aus, das Zittern und Weinen des achtjährigen Kindes wie das Losbrüllen des acht Tage alten Babys.
Die ethische Idee des Postulats liegt auf der Hand. Jede Beschneidung verletzt den kindlichen Körper mit einem gewaltsamen Akt. Dieser Verletzung soll nicht ein zweiter Gewaltakt zur Beugung des kindlichen Willens hinzugefügt werden. Die Verfasser des Entwurfs zitieren die Forderung des Ethikrats nach einem entwicklungsunabhängigen Vetorecht im Tonfall der Zustimmung und erläutern ihre eigene Regelung dann so: Der “ernsthaft und unmissverständlich zum Ausdruck gebrachte” Kindeswille sei “nicht irrelevant”. Vielmehr seien die Eltern “in einer solchen Situation gehalten, sich mit dem entgegenstehenden Kindeswillen auseinanderzusetzen”.
Gesetzlicher Anknüpfungspunkt dieser elterlichen Pflicht ist der zweite Satz im Absatz 1 des vorgeschlagenen neuen Paragraphen. Er versagt den Eltern das Recht, in die Beschneidung ihres Sohnes einzuwilligen, wenn diese, wiewohl grundsätzlich zulässig, ausnahmsweise das Kindeswohl gefährde. Ob das bei einem strampelnden oder schreienden Kind der Fall sei, müssten die Eltern klären, indem sie sich damit “auseinandersetzten”. Nicht etwa, indem sie den entgegenstehenden Kindeswillen anerkennen und auf den Eingriff verzichten – genau das hatte der Ethikrat gemeint.
“Auseinandergesetzt” haben die Eltern sich mit der Frage, ob sie ihren Sohn unter Berücksichtigung seines Wohls beschneiden lassen wollen, schon vor ihrem Entschluss dazu. Dass Beschneidungen ihrem Neugeborenen weh tun, wissen alle jüdischen Eltern; und alle muslimischen wissen, der Vater vermutlich aus eigener Erinnerung, dass ein sieben oder acht Jahre altes Kind auch im festlichsten Rahmen vor dem Eingriff ängstlich wird und ihm lieber entkäme. Warum sollte die noch so nachdrückliche Bestätigung des ohnehin Gewussten durch das widerstrebende Kind die Eltern in einer neuen “Auseinandersetzung” zu einer anderen Auffassung bringen als ihre vorherige Überlegung?
Der Gesetzentwurf verschiebt das “Vetorecht” des Kindes, gedacht als Recht gegen die Eltern, einfach in deren Verfügungsmacht. Haben sie sich mit der Abwehr des Kindes auseinandergesetzt, so haben sie ihre Pflicht erfüllt. Entscheiden mögen sie nun, wie sie wollen. Mit irgendeiner Abwehrreaktion dürften sie schon vorher gerechnet haben. Also werden sie regelmäßig an ihrer Entscheidung festhalten: pro Beschneidung. Da diese selbst, so heißt es in dem Entwurf, keine Gefährdung des Kindeswohls sei und da der Widerstand des Kindes nun sozusagen den gebührenden Bescheid erhalten hat, kann alles wie geplant vonstattengehen. Das ist nichts anderes als die Umkehrung eines Normprogramms in sein Gegenteil – und als legislatives Zeugnis juristischer Rabulistik eine Sehenswürdigkeit.
Noch etwas sagt Absatz 1 Satz 2 des neuen Paragraphen. Eine wirksame Einwilligung der Eltern soll auch dann ausgeschlossen sein, wenn die Beschneidung ausnahmsweise doch das Kindeswohl gefährden könnte, und zwar “unter Berücksichtigung ihres Zwecks”. Worauf das zielt, stellt die Begründung klar: auf missbilligenswerte Motive der Eltern, auf Beschneidungen etwa “aus rein ästhetischen Gründen oder mit dem Ziel, die Masturbation zu erschweren”. Der Gedanke ist sachlich verfehlt, die mit ihm verbundene Insinuation, man könne schäbig motivierte Beschneidungswünsche als kindeswohlwidrig aussondern, irreführend.
Legitimiert werden muss die Beschneidung, weil und sofern sie verletzt, also ausschließlich gegenüber dem Kind. Es liegt auf der Hand, dass das Maß der Verletzung und somit das Maß der Legitimationsbedürftigkeit allein von den objektiven Eigenschaften des Eingriffs abhängt: Tiefe, Schmerzhaftigkeit, Dauer, Risikoträchtigkeit – kurz, vom Gesamtgewicht der mit ihm verbundenen Belastungen für das Kind. Sie werden von wechselnden elterlichen Motiven nicht einmal erreicht, geschweige denn modifiziert. Daran zeigt sich, dass der Eingriff als solcher, erklärt man ihn für erlaubt, vom Recht akzeptiert und als nicht-kindeswohlgefährdend beurteilt wird.
Denn wäre er dies, dann vermöchten auch die wohlwollendsten Motive der Eltern an seiner Unerlaubtheit nichts zu ändern. Man nehme die pädagogischen Prügel des Pastors in Michael Hanekes Film “Das weiße Band”: Sie würden heute auch durch die fraglos guten Begleitwünsche des frommen Vaters für seine geschlagenen Kinder nicht um einen Deut zulässiger, sondern blieben verboten und strafbar.
Das gilt natürlich auch umgekehrt. So wenig gute Motive etwas objektiv Kindeswohlgefährdendes zulässig machen, so wenig machen verwerfliche etwas objektiv Kindeswohlgemäßes unzulässig. Die Mutter, die ihren Sechsjährigen zweimal in der Woche gegen seinen Protest zum Klavierlehrer schickt, gefährdet das Kindeswohl auch dann nicht, wenn sie dies allein deshalb tut, weil sie damit ein paar Stunden zum Ausleben ihres ehebrecherischen Verhältnisses gewinnt. Der Vater, der den gehassten Stiefsohn zur dringend erforderlichen Zahnbehandlung bringt, verletzt dessen Wohl auch dann nicht, wenn er dies nur tut, um dabeisitzen und sich an Angst und Schmerzen des Kindes delektieren zu können.
Schäbige Motive betreffen die Moralität der elterlichen Akteure. Die Frage der rechtlichen Zulässigkeit eines Eingriffs am kindlichen Körper berühren sie nicht einmal. Kollidiert die Beschneidung als solche nicht mit dem Kindeswohl, dann auch nicht, wenn die Einwilligung dazu allein einer ästhetischen oder sexualpädagogischen Marotte der Eltern entstammt.
Dass die Verfasser des Gesetzentwurfs dies anders sehen und anders regeln zu können glauben, ist befremdlich. Man mag sich damit trösten, dass sie’s ohnehin nur (oder vielleicht sogar selber nicht) glauben. Dabei muss man gar nicht auf die Wirrnis Dutzender Motivkombinationen hinweisen, in denen sich erlaubnis- und verbotsbegründende Ziele wechselseitig paralysieren müssten. Was, wenn der Vater aus religiösen, die Mutter aus ästhetischen Motiven oder der Vater aus Masturbationserschwerungs-, die Mutter aus kulturellen Gründen beschneiden lassen will? Oder beide aus beiden Gründen, wie nicht selten in den Vereinigten Staaten? Oder wenn das schäbige Motiv deckungsgleich ist mit einem anerkannten? Die christlich-fundamentalistische Überzeugung, Masturbation sei Sünde und ihre Erschwernis durch Beschneidung daher ein gottgefälliges Werk, mag so abwegig sein, wie man will. Sie ist aber genauso religiöser Natur und damit rechtlich sakrosankt wie die Überzeugung, Gott habe Abraham wörtlich den in Genesis 17 enthaltenen Auftrag diktiert, alle Knaben am achten Tag nach der Geburt beschneiden zu lassen.
Als Programm zur Lösung eines angezielten, wenngleich nur vermeintlichen Problems ist das alles aussichtslos. Und gäbe es das Problem wirklich, so wäre es ein offener Freibrief für richterliche Beliebigkeit, also das genaue Gegenteil der “Rechtssicherheit”, die der Entwurf schaffen soll. Man fragt sich daher, ob die Verfasser selber glauben, was sie geschrieben haben. Oder ob sie sich vielleicht heimlich mit der pragmatischen Erwägung beruhigt haben, dass es in Fragen des passenden oder unpassenden elterlichen Motivs ohnehin nie zum Schwur kommen werde. Jedes Elternpaar, das noch die allerfinstersten Motive hegt, braucht auf entsprechende Nachfragen buchstäblich nichts anderes zu antworten als “kulturell” oder “medizinisch-präventiv” oder “hygienisch”. Keine dieser Antworten ist überprüfbar, keine korrigierbar, jede reicht aus.
Der Entwurf tut sich viel darauf zugute, ein religiöses Sonderrecht zu vermeiden; deshalb differenziere die Regelung “nicht nach der Motivation der Eltern”, wiewohl sie inkonsistent genug ist, das Herausfiltern unzulässiger Motive trotzdem zu postulieren. Gibt man aber die innere Deckung des elterlichen Beschlusses ausdrücklich frei, dann drücke man sich nicht vor dem Eingeständnis der Folge: Beschneidungen werden künftig aus jederlei Motiv der Eltern zulässig und (wenn man das nicht glauben mag) jedenfalls vollkommen problemlos möglich sein. Der fundamentalistische Vater, der seinen Achtjährigen beim Onanieren erwischt und ihm zur Abgewöhnung eine heftige Ohrfeige gibt, macht sich strafbar. Beschließt er stattdessen, ihn zu demselben Zweck und unter der (wahren!) Angabe “religiöse Gründe” beschneiden lassen, ebnet ihm das neue Gesetz den Weg.
Die Liste der Mängel ist irritierend, sie ist länger als das vorgeschlagene Gesetz, auf das sie sich bezieht, und bei weitem nicht vollständig. Einige dieser Mängel dürften im geläufigen Gang der politischen Dinge nicht mehr behebbar sein. Aber die wichtigsten davon sind es: die klaffenden Lücken im Schutz für die betroffenen Kinder. Erforderlich wären deutlich strengere und detailliertere Gesetzesvorgaben über die Probleme der Schmerzvermeidung, des kindlichen Vetos und der gebotenen Aufklärung der Eltern auch über fernliegende Gefahren wie den Tod des Kindes. Zudem wäre eine Meldepflicht hinsichtlich aller gravierenden Folgekomplikationen anzuordnen. Und manches andere.
Dass man eine so spezifizierte Regelung nicht ins Bürgerliche Gesetzbuch schreiben wollte, ist einleuchtend. Das ändert aber nichts daran, dass es ohne sie nicht geht. Der Gesetzgeber könnte daher dem neuen Paragraphen einen dritten Absatz anfügen, der die Bundesregierung ermächtigt und verpflichtet, in einer Ausführungsverordnung zu Paragraph 1631 d des Bürgerlichen Gesetzbuchs für frühkindliche Beschneidungen die erwähnten Minima der Moral und des Rechts vorzuschreiben. Es wäre nicht mehr als der Schutz eines Restes kindlicher Rechte in einem kaum akzeptablen Vorgang auf einem eben noch akzeptablen Niveau. Die Verfasser des Entwurfs haben die beiden großen Religionsgemeinschaften von sämtlichen Zumutungen entlastet, die sich neben dem ohnehin fraglosen Schnitt den betroffenen Kindern zusätzlich aufbürden ließen. Wenigstens diese Relation einer schmerzhaften Unfairness sollte der Gesetzgeber umkehren.
Der Verfasser lehrt Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg und ist Mitglied des Deutschen Ethikrates.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.2012, Nr. 276, S. 8