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Acht EU-Länder fordern neue Syrien-Politik

Angeführt von Österreich und Italien wollen acht EU-Staaten einen Kurswechsel im Umgang mit Syrien. Das Land könnte unter chinesischen Einfluss geraten.

Michael Maier BERLINER ZEITUNG – 22.07.2024 13:13 Uhr – Bashar al-Assad und Xi Jinping im September 2023 in PekingAP

In einem gemeinsamen Schreiben haben die Außenministerinnen und Außenminister Österreichs, Italiens, Tschechiens, der Slowakei, Sloweniens, Griechenlands, Kroatiens und Zyperns den Hohen Vertreter der Europäischen Union (EU), Josep Borrell, aufgefordert, die EU-Strategie für Syrien grundlegend zu überprüfen. Der Brief wird am Montag auf dem Treffen der EU-Außenminister vorgelegt und versteht sich als Startpunkt eines Denkprozesses. Deutschland hat sich der Initiative noch nicht angeschlossen, die Initiatoren sind allerdings zuversichtlich, dass Berlin in den Prozess einsteigt. Auch von Ungarn erhofft man sich Unterstützung, zumal Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán derzeit bemüht ist, im Zuge der EU-Ratspräsidentschaft seines Landes außenpolitisches Profil zu gewinnen. Am schwersten dürften Frankreich und die EU-Kommission zu überzeugen sein. Mit der Regierung der USA gibt es inoffizielle Gespräche. Allerdings wollen sich die Initiatoren zunächst auf die Willensbildung innerhalb der EU fokussieren. Es wird eine in gewisser Weise eigenständige EU-Außenpolitik in der Frage erhofft.

Die Außenminister wollen eine ergebnisoffene Diskussion. Diese erläutern sie in einem Non-Paper. Zu den Themen zählen unter anderem „ein ausgewogenerer Ansatz gegenüber den Akteuren in Syrien, ein strategischer Austausch mit den arabischen Partnern, die Weiterentwicklung des EU-Ansatzes für einen raschen Wiederaufbau, der Umgang mit unbeabsichtigten negativen Auswirkungen der Sanktionen und die Schaffung der Voraussetzungen für eine Rückkehr von Flüchtlingen und Migranten nach Syrien“. Ziel der Überprüfung der Strategie ist eine „realistische, proaktive und wirksame Syrien-Politik, um den politischen Einfluss der EU zu stärken, die Wirksamkeit der humanitären Hilfe zu erhöhen und Migranten in sichere Regionen Syriens zurückzuführen“.

Hintergrund der Initiative ist demnach die Flüchtlingskrise: Laut Angaben der EU-Kommission aus dem Jahr 2022 gab es EU-weit jährlich rund 135.000 Asylanträge von Menschen aus Syrien. Besonders betroffen sind die Mittelmeer-Anrainerstaaten, wie sich an den Unterzeichnern des Briefes erkennen lässt. Ein weiterer Punkt ist die Sorge, Syrien könnte zunehmend unter chinesischen Einfluss geraten.

Die Hinwendung zu China könnte auch Russland in die Hände spielen, einem traditionell engen Verbündeten Syriens. Präsident Bashar al-Assad hatte im September 2023 China besucht. Er wurde von Staatspräsident Xi Jinping empfangen, der Assad auch Hilfe beim Wiederaufbau zusagte. Zu diesem Zweck haben beide Staaten eine Strategische Partnerschaft unterzeichnet, die auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit umfasst. Das Hilfegesuch an Peking kommt wegen der drakonischen EU-Sanktionen, die Syrien schwer zusetzen und nach übereinstimmender Beurteilung von humanitären Organisationen die Zivilbevölkerung hart treffen. Die Sanktionen werden in dem Papier der acht Staaten nicht erwähnt.

Gleichwohl räumt das Papier ein, dass die „syrische Bevölkerung unter der größten humanitären Katastrophe weltweit leidet“. Das menschliche Leid sei beispiellos: Mehr als 16 Millionen Syrerinnen und Syrer, „so viele wie nie zuvor, seien auf humanitäre Hilfe angewiesen“. Der Krieg habe „zur größten Zahl an Vertriebenen weltweit geführt: Fast 14 Millionen Menschen mussten flüchten.“ Immer noch „verlassen viele Syrerinnen und Syrer aufgrund der humanitären Notlage und der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit das Land und belasten damit die Nachbarländer massiv“.

Unterdessen habe „das Regime seine Macht konsolidiert und seine Beziehungen zur arabischen Welt neu aufgestellt“. Diesen Entwicklungen müsse auch die EU unter der neuen Kommission Rechnung tragen. Die humanitären Ansätze müssten in eine politische Strategie eingebunden werden. Das Interesse der EU-Staaten ist klar: Die Stimmung in der Region sei „hochexplosiv“: „Für Schlepperbanden ist das Leid der Menschen weiterhin ein überaus lukratives Geschäft, das seine kriminellen Tentakel zuletzt sogar bis nach Lateinamerika ausgestreckt hat. Nicht zuletzt drohen die Flüchtlingswellen auch nach Europa das Asylsystem und die Aufnahmegesellschaften zu überlasten.“

Die Lage im Land selbst und die Dynamik in der Region hätten sich stark verändert: Weite Teile des Landes seien frei von Kampfhandlungen. Während „der politische Prozess unter Führung der Uno nicht vorankommt, ist Syrien wieder in die Arabische Liga zurückgekehrt und hat seine bilateralen Beziehungen zu wichtigen Akteuren wie Saudi-Arabien normalisiert“. Assad sitze dank der „Schützenhilfe aus Moskau und Teheran heute fester im Sattel denn je“.  Die EU-Politik gegenüber Syrien trage „diesen Entwicklungen bislang keine Rechnung“, sondern basiere auf einer überholten Strategie aus dem Jahr 2017.

Die Federführung der Initiative liegt bei Österreich und Italien. Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg: „Nach dreizehn Jahren müssen wir uns als EU eingestehen, dass unsere Syrien-Politik nicht gut gealtert ist. So bitter es ist: Das Regime von Machthaber Assad sitzt fest im Sattel – auch mithilfe des Iran und Russlands, die syrische Opposition ist zersplittert, inexistent oder im Exil. Vor dieser Realität dürfen wir als Europäische Union nicht unsere Augen verschließen. Es ist höchste Zeit, unsere Syrien-Politik auf Herz und Nieren zu überprüfen – ohne Scheuklappen und ohne Denkverbote!“