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Krieg gegen die Hamas – Wie zerstört ist Gaza?

Von JENS GIESEL, ALEXANDER HANEKE und OLIVER SCHLÖMER   – Februar 2024 FAZ

Die Verwüstungen im Gazastreifen erreichen historische Ausmaße. Bis zu 61 Prozent der Gebäude sollen beschädigt oder zerstört sein. Doch was bedeutet das genau? Bei näherem Hinsehen ergibt sich ein vielschichtiges Bild.
Vor mehr als drei Monaten hat die israelische Armee begonnen, als Reaktion auf die Massaker der Hamas Ziele im Gazastreifen zu bombardieren. Viele Tausend Luftangriffe wurden geflogen, Zehntausende Menschen getötet. Rund 1,7 Millionen Menschen, etwa 80 Prozent der Bevölkerung, mussten ihre Häuser verlassen. Weite Teile des schmalen Küstenstreifens liegen in Trümmern.

Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass mehr als 650.000 Menschen keinen Ort mehr haben, an den sie nach einem Ende des Krieges zurückkehren können. Allein das Volumen der Trümmer übersteigt laut UN-Partnern zwölf Millionen Tonnen. In Anbetracht der Kapazitäten im Gazastreifen könnte es mehr als vier Jahre dauern, nur den Schutt zu beseitigen.

Doch über das genaue Ausmaß der Verwüstungen gibt es nur Schätzungen. In den am schwersten zerstörten Gegenden können Hilfsorganisationen nur sehr begrenzt agieren. Ihr Fokus liegt derzeit ohnehin nicht auf der Bilanzierung der Schäden, sondern auf der Notversorgung der Lebenden.

Am meisten Beachtung finden derzeit die Berechnungen der beiden amerikanischen Wissenschaftler Corey Scher und Jamon Van Den Hoek, die anhand von Satelliten­aufnahmen Strukturveränderungen am Boden in Gaza messen. Nach ihrer Analyse sind zwischen 144.000 und 175.000 Gebäude im gesamten Gazastreifen beschädigt oder zerstört – das sind zwischen 50 und 61 Prozent sämtlicher Bauten in dem Küstengebiet.

Auf den Karten, die Scher und Van Den Hoek regelmäßig auf der Plattform X verbreiten, ist mittlerweile ein großer Teil des Siedlungsgebiets im Gazastreifen eingefärbt.

Gebiete mit wahrscheinlichem Schaden am 10. November 2023

Die Wissenschaftler kartieren die Schäden im Gazastreifen seit Beginn des Krieges.

Gebiete mit wahrscheinlichem Schaden am 12. Dezember 2023

Van Den Hoek und Scher nutzen für ihre Analysen Radaraufnahmen der europäischen Sentinel-1-Satelliten.

 

Ein Sensor an Bord der Satelliten sendet schwache Radarstrahlung auf die Erdoberfläche ab und zeichnet das Echo auf, das zurückgeworfen wird. Im Gegensatz zu optischen Aufnahmen aus der Vogelperspektive verraten Radardaten den Forschern mehr Details über den dreidimensionalen Aufbau. So unterscheidet sich beispielsweise die Radarsignatur eines eingestürzten Hauses von der eines noch intakten Gebäudes. Allerdings sind die groben Radaraufnahmen im Gegensatz zu hochauflösenden optischen Satellitenbildern für Laien schwerer zu interpretieren. Details zur Methodik der Wissenschaftler lesen Sie in diesem Beitrag.

Gebiete mit wahrscheinlichem Schaden am 14. Februar 2024

Die F.A.Z. hat aktuelle Satellitenbilder des privaten Satellitenbetreibers Planet Labs ausgewertet. Die hochauflösenden Aufnahmen entstanden im Zeitraum von Januar bis Februar 2024 und zeigen ein differenzierteres Bild der Schäden im Gazastreifen.

Vor allem im Norden des Gazastreifens sind Teile der Städte beinahe dem Erdboden gleich gemacht.

In Beit Hanoun, das im Nordosten in Sichtweite der israelischen Grenze liegt, sind fast sämtliche Häuser völlig zerstört.

Dschabalija, das aus einem Flüchtlingslager entstand und zu den am dichtesten besiedelten Gebieten gehört, gilt als eine der wichtigsten Hochburgen der Hamas. Hier bombardierte die israelische Armee von Beginn des Krieges an zahlreiche Ziele aus der Luft. Bei einem gezielten Schlag gegen den Kommandeur des lokalen Hamas-Bataillons stürzte Mitte November ein ganzer Häuserblock ein; nach palästinensischen Angaben wurden mehr als hundert Menschen getötet.

 

Doch selbst in Dschabalija zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass es trotz der massiven Luftangriffe und Gefechte zahlreiche intakte Gegenden gibt. Hier harren trotz der israelischen Aufforderung, den Norden zu verlassen, Zehntausende Menschen aus, weshalb sich in den Feuerpausen ein Bild gewisser Normalität in den Straßen zeigt.

In anderen Teilen Gazas, etwa der Gegend nahe dem Hafen, wirken die meisten Gebäude in ihrer Substanz unbeschädigt, da es hier zu keinen intensiven Gefechten kam. Es ist ein bekanntes Phänomen aus Kriegsgebieten, dass diese Bilder kaum wahrgenommen werden, da sich der Fokus von Fotografen und Kameraleuten auf die Zerstörung richtet.

Punktuell sind auch hier die Zerstörungen heftig. Im Dezember hatte die israelische Armee etwa die Gebäude um den zentralen Palästina-Platz in Gaza-Stadt gesprengt. Als Grund nannte sie, dass sich darunter ein Tunnelnetzwerk befunden habe, das Wohnungen, Verstecke und Büros der Hamas-Führung um Muhammad Deif und Jihia al-Sinwar verband.

Von der israelischen Armee verbreitete Drohnenaufnahme der Sprengung am Palästina-Platz in Gaza Mitte Dezember Video: IDF / Times of Israel

Doch selbst in der Gegend um das Al-Schifa-Krankenhaus, das israelische Armee im November einnahm, zeigt sich, dass die meisten Gebäude in ihrer Substanz intakt sind. Die Kriegsschäden sind hier anderer Art. Die Druckwellen naher Explosionen haben Fenster zersplittern lassen und Fassadenteile gelöst. Schrapnelle und herumfliegende Trümmerteile haben Wände an manchen Stellen durchlöchert. Auch diese Schäden werden von den Radarmessungen teilweise erkannt, weshalb die Gegenden in den Radaranalysen rot eingefärbt sind.

Das bedeutet nicht, dass die Bevölkerung hier nicht unter den Folgen des Krieges zu leiden hätte. Wohnungen sind teilweise ausgebrannt, die zivile Infrastruktur mit Strom- und Wasserversorgung ist durch die vielen Luftangriffe auf Tunnelanlagen der Hamas schwer beschädigt. Strom gibt es nur noch in Ausnahmesituationen. Schulen, Moscheen, Gesundheitseinrichtungen sind zerstört.

 

Insgesamt hängt der Grad der Zerstörung vor allem davon ab, wie heftig die Gefechte am Boden abliefen. Durch die intensiven Luftangriffe wurden Tausende Menschen getötet, da die Luftwaffe auch in dicht besiedelten Gegenden Bomben mit massiver Sprengkraft einsetzt. Als Grund führt Israel an, dass nur so die unterirdischen Tunnelanlagen der Hamas getroffen werden könnten. Die Zerstörungen durch die Luftschläge sind aber meist lokal begrenzt. Wo die Armee aber mit Bodentruppen und gepanzerten Verbänden vorrückt und auf Widerstand der Hamas stößt, zeigt sich oft eine Schneise der Verwüstung.

Ende Oktober drang die IDF auch mit Bodentruppen in den Gazastreifen ein. Zunächst nahm sie Gaza-Stadt von drei Seiten in die Zange.

Fortschritt der israelischen Bodenoffensive am 11. November 2023

Und rückte dann in die Stadt vor.

Fortschritt der israelischen Bodenoffensive am 1. Dezember 2023

Von Dezember bis Februar folgte im Süden die Offensive in Khan Yunis, wo zu diesem Zeitpunkt die Hamas-Führung um Jihia al-Sinwar vermutet wurde.

Fortschritt der israelischen Bodenoffensive am 14. Februar 2024

Die Verwüstungen sind auf den Satellitenaufnahmen oft selbst aus großer Entfernung erkennbar.

Das hat mehrere Gründe. Der erste ist der weiche, sandige Boden im Gazastreifen, der von den Ketten der Militärfahrzeuge aufgewühlt wird. Die israelische Armee nutzt bei Bodenoperationen seit jeher eine Vielzahl der D9 genannten schwer gepanzerten Planierraupen, die nicht nur Hindernisse aus dem Weg räumen, sondern entlang der Linien Sand zu Wällen aufhäufen, um den eigenen Truppen Schutz zu bieten.

 

Auf den Satellitenbildern wird zudem sichtbar, dass dort, wo Bodentruppen vorrücken, teilweise ganze Häuserreihen dem Erdboden gleich gemacht werden. Grund hierfür kann sein, dass die Israelis aus den Gebäuden heraus von der Hamas beschossen wurden. Von Berichten von Soldaten weiß man aber, dass diese Zerstörungen auch präventiv erfolgen, um das Risiko für die eigenen Truppen zu minimieren. Die Entscheidung hängt vom jeweils befehlshabenden Kommandeur ab, ob er es militärisch für erforderlich halt, Gebäude aus der Luft bombardieren zu lassen, um dem Gegner jede Möglichkeit zur Deckung und für Hinterhalte zu nehmen.

Doch auch dort, wo die Kämpfe beendet sind, gehen die Zerstörungen weiter. Erklärtes Ziel der israelischen Armee ist es, die weitverzweigten Tunnelanlagen der Hamas zu zerstören, damit die Terrororganisation zu keinen neuen Angriffen auf Israel in der Lage sein wird. Doch immer mehr zeigt sich, dass das unterirdische Netz noch größer ist als erwartet. Technische Kampftruppen durchkämmen in den eroberten Gebieten sämtliche Gebäude, um Tunnelschächte zu finden. Die Hamas hatte sich darauf vorbereitet und viele Röhren und Eingänge mit Sprengfallen versehen. Zahlreiche Soldaten wurden bei der Freilegung der Tunnel bereits verletzt oder getötet. Oft gehen die technischen Kampftruppen daher dazu über, dass sie die Gebäude am Tunneleingang sprengen oder einreißen, um den Schacht selbst freizulegen und dann zu zerstören. Auch durch die Sprengung selbst werden oft die darüberliegenden Häuser zerstört, da sich der Druck der Detonation aus den Röhren nach oben entlädt.

Doch während die Vernichtung militärischer Anlagen der Hamas nach den Regeln des humanitären Völkerrechts zulässig ist, wurden inzwischen zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen kein legitimer Grund für die Zerstörungen erkennbar ist. Die BBC zeichnete etwa den Fall einer ganzen Zeile neu errichteter Wohnblocks in Al-Zahra nahe der Universität nach.

Am 19. Oktober kontaktierten die israelischen Sicherheitskräfte demnach ausgewählte Anwohner des Viertels und forderten sie auf, binnen kürzester Zeit für die Evakuierung der Häuser zu sorgen. Kurz darauf wurden die Gebäude aus der Luft bombardiert und zum Einsturz gebracht, ohne dass ein militärischer Zweck erkennbar wäre.

 

Wie in anderen Fällen äußerte sich die Armee nicht zu den Hintergründen der Aktion und verwies nur allgemein darauf, dass die Ziele sorgfältig ausgewählt und von Juristen auf ihre völkerrechtliche Zulässigkeit hin überprüft würden. Im Fall Al-Zahra wurden durch die Aufforderung zur Evakuierung zumindest Todesopfer vermieden. In vielen anderen Fällen gelang das nicht, wie die hohen Opferzahlen in Gaza nahelegen. Dennoch ist eine rechtliche Bewertung der israelischen Angriffe kaum möglich, ohne die Hintergründe und den militärischen Zweck der jeweiligen Aktion zu kennen.

Seit die Armee weite Teile des Gazastreifens militärisch kontrolliert, häufen sich die Berichte über die gezielte Zerstörung von verbliebenen Gebäuden. Bilder und Videos, die die israelischen Streitkräfte von den Aktionen aufnehmen, kursieren schon eine Weile in den sozialen Netzwerken. Mitte Januar sprengte eine technische Kampfeinheit einen Komplex der Israa-Universität in Gaza, nachdem zuvor schon der Justizpalast und andere Verwaltungsbauten dem Erdboden gleichgemacht worden waren.

Eine Drohnenaufnahme zeigt die Zerstörung der Israa-Universität Mitte Januar. Video: IDF

Die israelische Zeitung „Haaretz“ berichtete kürzlich, dass der Fall des Universitätsgebäudes inzwischen juristisch untersucht werde. Denn die Einsatzregeln der Streitkräfte schreiben eigentlich vor, dass der Generalstabschef Angriffe auf Bildungseinrichtungen, Schulen und Kindergärten ausdrücklich genehmigen muss, was nicht geschehen war. Doch aus dem „Haaretz“-Bericht geht auch hervor, dass die Armeeführung zwar versucht, auf die Kommandeure im Feld einzuwirken, die Einsatzregeln zu befolgen – man aber auch weiß, dass es in der Realität eines Krieges kaum möglich ist, jede Handlung aller Einheiten zu überwachen und zu dokumentieren.

Welche Zerstörungen von der Armeeführung bewusst toleriert werden und was auf individuelle Entscheidungen der Kommandeure im Kampfgebiet zurückgeht, ist oft kaum zu ermitteln. Allerdings verdichten sich die Hinweise, dass Israel trotz des internationalen Protests dabei ist, eine Pufferzone am Rand des Gazastreifens einzurichten. Im Osten der schwer umkämpften Hamas-Hochburg Schudschajeh ist auf den Satellitenbildern deutlich zu erkennen, dass sämtliche Gebäude nahe dem Grenzzaun dem Erdboden gleichgemacht wurden. Der Kibbuz Nahal Oz, der am 7. Oktober von den Terrorkommandos der Hamas überfallen wurde, liegt auf der israelischen Seite nur ein paar Hundert Meter hinter der Grenze.

Auch die amerikanische Regierung hatte immer wieder betont, dass sie gegen eine Pufferzone auf palästinensischem Gebiet ist, da der Gazastreifen schon jetzt zu den am dichtesten bevölkerten Gegenden der Welt gehört. Offiziell bestätigt die israelische Regierung bislang nicht, dass sie bereits Fakten schafft. Doch israelische und amerikanische Medien veröffentlichten zuletzt zahlreiche Belege dafür, dass entlang der Grenze planmäßig Gebäude beseitigt werden, um einen Sicherheitsabstand auf palästinensischer Seite durchzusetzen.

 

 

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https://www.faz.net/aktuell/politik/israels-krieg-gegen-die-hamas-wie-zerstoert-ist-gaza-19508287.html