MESOPOTAMIA NEWS : Yazının Türkçe orijinalini okumak için tıklayın /  Brief aus Istanbul : Wie Erdogan und Putin sich gleichen

  • Von Bülent Mumay  FAZ  – 02.01.2021-10:47

2021 soll in der Türkei das „Jahr der Reformen“ werden. Davor kann man sich nur fürchten: Erdogan plant noch strengere Sanktionen gegen seine Kritiker als Putin. –  Meine denkwürdigste Reise in Zeiten von Erdogans „neuer Türkei“ unternahm ich letztes Jahr um diese Zeit. Die Friedrich-Naumann-Stiftung hatte eine Gruppe türkischer Journalisten zu einem Treffen mit russischen Kollegen nach Moskau eingeladen. Bei den mit deutscher Disziplin arrangierten Terminen, die uns einen Eindruck vom politischen Klima im Land geben sollten, hatten wir die Gelegenheit, unterschiedliche Kreise zu treffen. Bei den meisten Gesprächen kamen wir nicht umhin zu sagen: „Oh, das ist ja genauso wie bei uns!“

Als etwa ein Ökonom erzählte, wie der Kreml die Ressourcen des Landes seinen Gefolgsleuten zuschanzt, riefen wir türkischen Journalisten wie aus einem Mund: „Das haben die sich sicher bei unserem Palast abgeschaut.“ Und als wir eine Zeitungsredaktion besuchten, von deren Mitarbeitern einige Anschlägen zum Opfer gefallen waren, stammelten wir vor den Schwarzweißporträts der ermordeten Journalisten: „So weit ist es bei uns glücklicherweise noch nicht.“ Manches von dem, was über Russland berichtet wurde, hatte es zuvor bereits in der Türkei gegeben. Und wir befürchteten, von den fürchterlichen Praktiken könnten so manche in die Türkei überspringen. Besonders erschreckend erschien uns das Gesetz, das Russland für zivilgesellschaftliche Organisationen erlassen hatte, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Die Befürchtung bewahrheitete sich. Vor wenigen Tagen setzte Erdogan ein Gesetz in Kraft, um die Zivilgesellschaft mundtot zu machen, das noch weit schärfere Sanktionen vorsieht als das Putins, den er „meinen Freund“ nennt.

Sie wissen, dass Erdogan keinerlei Kritik duldet, in der Opposition stecken könnte, keinen Vorgang, der möglicherweise sein politisches Leben verkürzt, kein Gerichtsurteil, das ihm missfällt, keine Meldung, die ihn in Bedrängnis bringen könnte, und kein Geschehen in der Wirtschaft außerhalb seiner Kontrolle. All diese Bereiche walzte er in den achtzehn Jahren seiner Regierung platt. Nun war die Reihe an die Organisationen der Zivilgesellschaft gekommen, denn es war ihm nicht gelungen, sie vollständig unter Kontrolle zu bringen. Bevor ich zu den Einzelheiten des Gesetzes komme, muss ich von den neuen Schlägen sprechen, die Erdogan jüngst den ohnehin arg „plattgewalzten“ Kreisen versetzte.

Ich will Sie nicht damit langweilen, mich über das Klima des Journalismus in der Türkei auszulassen. Was könnte auch Neues über Medien gesagt werden, die zu 95 Prozent vom Palast gelenkt sind? Doch 95 Prozent reichen dem Palast nicht. Ein am 1. Dezember neu gestarteter unabhängiger Fernsehsender überlebte nur 26 Tage. Dabei war Olay TV gar kein Sender, der heftig Opposition betrieben hätte. Er befasste sich nur mit Themen, die der Palast nicht in der Öffentlichkeit haben wollte. Zunächst versuchten Erdogans Leute, die Redaktion mit eigenem Personal zu besetzen. Als das Leitungsteam sich diesem Vorstoß verweigerte, wurde der Inhaber, der Unternehmer Cavit Çaglar, stark unter Druck gesetzt, so dass der Sender eingestellt wurde.

Presseorgane, die das Palastregime nicht zum Schweigen bringen, schließen oder mit Haftstrafen einschüchtern kann, versucht es finanziell zu ruinieren. Im Dezember wurde gegen zahllose Zeitungen, darunter „Cumhuriyet“ und „Birgün“, wegen missliebiger Berichte eine Werbesperre verhängt. Erdogans neues Internetgesetz trägt auch erste Früchte. Bei Veröffentlichungen, die die Regierung auch nur entfernt tangieren, wird unter Vorwänden wie „Angriff auf Persönlichkeitsrechte, Recht auf Vergessen“ der Zugang gesperrt. Kürzlich wurde ein früher in der türkischen Botschaft in Brüssel tätiger Beamter bei der Ausreise nach Europa mit hundert Kilo Heroin im Auto erwischt. Sofort trat Erdogans neues Internetgesetz auf den Plan. Websites, die darüber berichteten, wurden zensiert. Ebenso wurde die Meldung, dass die staatliche Post zwei Millionen Dollar an ein privatwirtschaftliches Unternehmen verschob, ins Nirwana geschickt. Zur Zensur von Nachrichten muss deren Quelle nicht unbedingt „einheimisch und national“ sein, wie Erdogan es so gern ausdrückt. Websites des deutschen Magazins „Focus“ wurden zensiert, weil sie über das Vermögen von Erdogan und seiner Familie berichtet hatten. In dem „Focus“-Bericht von Maximilian Becker heißt es, Erdogan habe bei Schweizer Banken etliche Millionen Euro deponiert, obwohl sein Vermögen auf dem Papier nur zweieinhalb Millionen Euro betrage. Zudem wies er auf das Ausmaß der Vermögen von Erdogans Familie, insbesondere seiner Söhne, hin.

All dies sind Werke der von Erdogan gelenkten Justiz. Und zwar in der Woche, in der Erdogan sagte: „Wenn man in der Welt an Gerechtigkeit denkt, fällt einem sogleich die Türkei ein.“ In derselben Woche verlangte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EGMR die Freilassung des seit vier Jahren inhaftierten kurdischen Politikers Selahattin Demirtas. Erdogans Reaktion überraschte nicht. Obwohl die Türkei vor Jahren EGMR-Entscheidungen als bindend anerkannt hatte, verkündete er, Demirtas werde nicht freigelassen, mit der merkwürdigen Erklärung: „Der EGMR kann nicht anstelle unserer Gerichte entscheiden.“ Derselbe Erdogan hatte wegen eigener rechtlicher Probleme vor seinem Regierungsantritt selbst dreimal gegen die Türkei Beschwerde beim EGMR eingelegt – mit der Forderung, anstelle türkischer Gerichte zu entscheiden. Wiederum in derselben Woche wurde der Journalist Can Dündar zu mehr als 27 Jahren Haft verurteilt, weil er darüber berichtet hatte, dass die Türkei Lastwagen voller Waffen an Oppositionelle in Syrien schickte. Wenige Tage später erklärte Erdogan 2021 zum „Jahr der Reformen“. Unterdessen lässt sich nicht sagen, dass die Türkei angesichts des EGMR-Urteils zu Demirtas untätig geblieben wäre. Er wurde zwar nicht freigelassen, doch Hacker aus AKP-Kreisen gaben dem EGMR eine Antwort in der digitalen Welt: Unmittelbar nach dem Urteil wurde die Website des Gerichts gehackt.

Nachdem Erdogan die Medien und oppositionelle Stimmen mundtot gemacht hatte, war die Reihe an den NGOs. 2020 beenden wir mit einem Gesetz, das Nichtregierungsorganisationen aushebeln lassen könnte. Da Journalisten und Politiker zum Schweigen gebracht sind, können nur zivilgesellschaftliche Organisationen die Öffentlichkeit über Tatsachen informieren. So erfuhren wir aus den Berichten des Menschenrechtsvereins von Menschen, die man in Polizeigewahrsam verschwinden ließ oder nach Folter irgendwo ausgesetzt hatte. Die wahren Zahlen von Covid-19-Fällen, die die Regierung zu verheimlichen sucht, teilte der türkische Ärzteverband mit. Um die Zivilgesellschaft zum Schweigen zu bringen, wurden immer wieder Ermittlungen wegen Terrorismus gegen ihre Wortführer eingeleitet. Da es nie etwas gab, was die Anschuldigungen untermauert hätte, wurden die Akten nach einer Weile geschlossen und die NGOs übten weiter ihre Funktion aus. Nun setzte die AKP-Regierung ein Gesetz in Kraft, mit dem NGOs verboten werden können. Und das auch noch versteckt im Gesetz zur Verhinderung der Finanzierung und Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen. Demzufolge braucht es keinen Gerichtsbeschluss mehr, um eine NGO zu verbieten oder unter Zwangsverwaltung zu stellen. Die Aufnahme von Ermittlungen reicht. Mit einer Unterschrift des Innenministers ist es vollbracht.

Das Gesetz beunruhigte auch islamistische Kreise. Als der regierungstreue Autor Yusuf Kaplan sich sorgte, ob auch islamistische Vereine und Stiftungen geschlossen werden könnten, griff Innenminister Süleyman Soylu schnurstracks zum Telefon. Er garantierte Kaplan, „islamische Tätigkeiten von NGOs zu behindern“ komme nicht in Betracht. Am Tag darauf verkündete Kaplan in seiner Zeitungskolumne, Ziel des Gesetzes seien vielmehr „deutsche Stiftungen, jüdische Stiftungen, Stiftungen, Vereine und Ähnliches, die unterschwellig von Ausländern kontrolliert werden“.

So weit hatte nicht einmal Putin gedacht. Ob er sich nun ein Beispiel an uns nimmt, wissen wir nicht. Durchaus möglich aber ist, dass ein Gesetz, das kürzlich auf Putins Veranlassung hin erlassen wurde, uns als Vorbild dient. In Russland sollen Staatschefs künftig auch nach Dienstende lebenslang über Immunität verfügen. Wegen keines Vergehens aus ihrer Amtszeit müssen sie sich vor Gericht verantworten. Selbst Putin denkt offenbar daran, dass seine Amtszeit irgendwann endet. Bei uns hat dagegen niemand die Absicht, sein Amt aufzugeben. Auch nicht für den Fall, dass er die Wahl verliert. Unser Außenminister Mevlüt Çavusoglu, dem Sigmar Gabriel einst Tee servierte, offenbarte vor ein paar Wochen im Parlament, was er denkt. An die Opposition gerichtet, sagte er: „Sie wissen doch, dass Sie die Regierung auch nach Wahlen nicht bekommen.“ Wer, wenn nicht Putin, sollte uns da nicht beneiden?

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.