MESOPOTAMIA NEWS ! – „TURMOIL BAGHDAD“ : EINE ZUSAMMENFASSUNG VON INGA ROGG

Die Proteste im Irak haben Dutzende von Toten und Tausende von Verletzten gefordert. Mehrere Parteien verlangen Neuwahlen. Doch sie sind Teil der Misere. 6 Okt 2019 – NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Scharfschützen schiessen von Dächern auf Zivilisten, maskierte Bewaffnete stürmen Fernsehstationen, Artilleriegeschosse schlagen in Wohnvierteln ein: Es sind Nachrichten, wie man sie aus den schlimmsten Tagen der Gewalt in Bagdad kennt. Doch diesmal bekämpfen sich auf den Strassen der Hauptstadt nicht verfeindete Milizen. Vielmehr sind es Sicherheitskräfte, die mit roher Gewalt gegen jugendliche unbewaffnete Demonstranten vorgehen. Maskierte Täter nutzen das offensichtlich, um ihre eigenen Rechnungen zu begleichen.

Die Proteste begannen am Dienstag in Bagdad und breiteten sich von dort wie ein Lauffeuer auf zahlreiche Städte im Südirak aus. Sie entzündeten sich zunächst an der Absetzung des stellvertretenden Kommandanten einer Eliteeinheit, der von vielen Irakern wegen seines Einsatzes im Kampf gegen den Islamischen Staat wie ein Held verehrt wird. Doch schnell schon ging es um mehr: die grassierende Korruption, die Unfähigkeit der Regierung, für grundlegende Dienstleistungen zu sorgen, und fehlende Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt.

Beispiellose Härte der Sicherheitskräfte

Hatte es ähnliche Proteste auch in der Vergangenheit gegeben, forderten die Demonstranten diesmal nicht nur Reformen, sondern den Rücktritt der Regierung. Und anders als in der Vergangenheit steht hinter der Protestwelle keine der politischen Fraktionen. Der populistische schiitische Geistliche Muktada al-Sadr, dessen Anhänger vor drei Jahren das Regierungsviertel in der sogenannten grünen Zone stürmten, wurde davon genauso überrascht wie alle anderen Vertreter des Establishments.

Die Demonstrationen sind das Ergebnis der wachsenden Frustration unter Jugendlichen, die kurz vor oder nach dem Einmarsch der Amerikaner geboren wurden und die nichts anderes kennen als wechselnde Regierungen der gleichen Parteien, die sich seit Jahren im Kreis drehen und immer wieder die gleichen leeren Versprechungen machen. Die meisten Demonstranten sind zwar junge Schiiten, doch geht es diesmal nicht um den alten schiitisch-sunnitischen Konflikt. Die Regionen, in denen die Schiiten die Mehrheit bilden, waren in den letzten Jahren vergleichsweise stabil. Deshalb erwarten die Jugendlichen endlich Antworten auf die Probleme, die ihnen unter den Nägeln brennen. Dass dies für alle gilt, unterstrichen schiitische und sunnitische Aktivisten beispielsweise dadurch, dass sie ein Foto von einem christlichen Demonstranten teilten.

Angriffe auf Milizen- und Parteibüros

Die Regierung hat auf die Proteste mit beispielloser Härte und weiteren Reformversprechen reagiert. Das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte führte freilich nur dazu, dass sich die Wut erst recht Bahn brach, daran änderten auch Ausgangssperren und die Internetsperre nichts. Zwar hob die Regierung die Ausgangssperre in Bagdad am Samstag auf, doch der zentrale Tahrir-Platz blieb gesperrt. Das hinderte die Demonstranten nicht daran, in verschiedenen Stadtteilen der Hauptstadt auf die Strasse zu gehen. Um sie zu vertreiben, schossen Sicherheitskräfte an mehreren Orten direkt in die Menge. Daneben häufen sich seit Freitag die Berichte über Scharfschützen, die sowohl auf die Protestierenden wie auf Sicherheitskräfte schiessen.

In der Nacht auf Sonntag stürmten maskierte Bewaffnete mehrere Fernsehstationen, die über die Proteste berichtet hatten. Dabei verwüsteten die Täter die Büros und verletzten mehrere Mitarbeiter der Sender. Darüber hinaus wurde der Stadtteil Sadr City mit Mörsergranaten beschossen. Wer die Scharfschützen und die maskierten Täter sind, weiss bisher niemand. Viele glauben, es handle sich um Milizionäre aus dem Umfeld von proiranischen Parteien, die auch in den Reihen der Polizei starken Einfluss haben. Gegen sie richtete sich auch die Wut der Demonstranten in mehreren Städten im Südirak. In Naseriya steckten gewaltbereite Jugendliche am Wochenende die Niederlassungen von mehreren mächtigen Milizen und fundamentalistischen schiitischen Parteien in Brand. Nach Angaben der Menschenrechtskommission haben die Unruhen bis zum Sonntag 105 Tote und fast 4000 Verletzte gefordert; Hunderte wurden festgenommen.

Populisten wittern Morgenluft

Ministerpräsident Adel Abdul-Mahdi, der sich bis dahin nur mit einer dürren Erklärung zu Wort gemeldet hatte, kündigte in der Nacht auf Sonntag an, die Sicherheitskräfte dürften ab sofort nur noch im äussersten Notfall scharfe Munition einsetzen. Gewalt sei jedoch auch von der Gegenseite ausgegangen, sagte der Regierungschef an einer vom staatlichen Fernsehen übertragenen Kabinettssitzung. Gleichzeitig forderte er die Demonstranten dazu auf, nach Hause zu gehen. Er sei bereit, die «brüderlichen Protestierer» wo immer zu treffen oder Vertreter zu schicken, sagte Abdul-Mahdi. «Ich werde  gehen, sie ohne Begleitschutz treffen, mich hinsetzen und stundenlang ihre Forderungen anhören.»

Etliche politische Parteien wittern Morgenluft und versuchen, die Forderung nach dem Rücktritt von Abdul-Mahdi, der erst seit einem Jahr im Amt ist, für sich zu instrumentalisieren. Sadr, dessen Sairun-Bündnis die grösste Abgeordnetenfraktion bildet, kündigte einen Parlamentsboykott an. Ihm folgten Abdul-Mahdis Vorgänger Haider al-Abadi und der ehemalige Vizepräsident Osama Nujeifi. Alle drei fordern vorgezogene Neuwahlen. Ihre Parteien sind freilich erstens seit bald 15 Jahren an der Macht beteiligt und damit für die jetzige Misere mitverantwortlich. Zweitens kommen Reformvorhaben nicht voran, weil sie im Parlament versickern.

Doch die Zeit drängt. Mehr als die Hälfte aller Iraker ist unter 25 Jahren alt, und die Jugendarbeitslosigkeit liegt nach Angaben der Weltbank bei 36 Prozent. Um den jungen Menschen eine Perspektive zu bieten, müssten die Parteien damit aufhören, die staatlichen Institutionen zur eigenen Machtsicherung und Bereicherung zu nutzen. Aber genau dazu sind sie nicht bereit.