MESOPOTAMIA NEWS „LINKE SÄULENHEILIGE“: FOUCAULT, DERRIDA, GRAMSCI, EDWARD SAID & MBEMBE  / DER GROSSE IRRTUM!

Foucault und Identitätspolitik : Ursprungsmythen aus dem Orient

  • Von Markus Steinmayr FAZ –  05.04.2021-20:17

Michel Foucault und Michael Stoneman im Death Valley im Mai 1975. Transatlantische Umdeutungen: Wie Michel Foucault zum Säulenheiligen von Postkolonialismus und Identitätspolitik wurde und warum es ein guter Zeitpunkt ist, Mithu Sanyals Roman „Identitti“ zu lesen.

Die postkoloniale und identitätspolitische Theoriebildung, die vornehmlich in den Vereinigten Staaten in den 1980er und 1990er Jahren begann, ist ohne den Bezug auf die Dekonstruktion Jacques Derridas, die Diskursanalyse Michel Foucaults und die Politikanalysen Antonio Gramscis nicht denkbar. Theoriegeschichtlich firmiert dies in Bezug auf die beiden Franzosen unter „French Theory“, der Bezug auf Gramsci lässt so etwas wie „Sardinian Theory“ vermuten. Die von einem nicht unerheblichen Teil der amerikanischen akademischen Linken vertretenen identitätspolitischen Überzeugungen, die darauf hinauslaufen, die Universität in einen „safe space“ und den wissenschaftlichen Diskurs in eine Bekenntnishölle zu verwandeln, sind der akademische Exportschlager schlechthin. Dabei ist nicht zu vergessen, dass es sich bei der gegenwärtigen Rezeption von Foucault um einen „Reimport“ handelt. Foucault wurde zunächst in die Vereinigten Staaten „exportiert“, um dann in veränderter Form wieder in Europa aufzutauchen.

James Miller veröffentlicht 1993 seine Foucault-Biographie mit dem sprechenden Titel „The passion of Michel Foucault“. Der französische Denker wird darin, etwas polemisch formuliert, zu einem intellektuellen Nachfolger der pilgrim fathers, die sich aufgrund religiöser Unterdrückung und existentieller Not auf die Atlantik-Route begaben. Miller zufolge haben die Flucht in die Vereinigten Staaten und die Erfahrungen in der schwulen Subkultur im San Francisco der 1970er Jahre Foucault und sein Denken radikal verändert. Die Schriften der 1970er Jahre, vor allem die Bücher über „Sexualität und Wahrheit“, wurden als Autosoziobiographien gelesen. So hieß es in dieser Zeitung (5. Dezember 1995) in der Rezension der deutschen Übersetzung des Miller’schen Werkes: „In geradezu voyeuristischer Manier reißt Miller den von ihm so titulierten ‚hermetischen‘ Texten Foucaults die Maske herunter, um ihre Genese und die zugrundeliegende intellektuelle Produktivkraft vornehmlich auf das Intimleben des Autors zurückzuführen.“

Zu seiner Sexualität und Identität fand Foucault, so Miller, in der schwulen Subkultur und mit Hilfe von Drogenexperimenten in der Wüste von Arizona. Diese Sicht auf Foucault war tatsächlich etwas Neues. In der Folge kam es zu zahlreichen Publikationen, die entscheidend für den Reimport nach Europa waren und die Foucault zum „Diskursbegründer“ der „Identity Politics“ machten.

Identitätspolitische Erbauungsliteratur

Diese Rezeption kann in den Vereinigten Staaten als eine Reaktion auf die kulturellen und intellektuellen Kämpfe beschrieben werden, die unter dem Rubrum „Culture Wars“ Gesellschaft, Medien und Politik in Atem gehalten hatten. Die Foucault-Einführungsliteratur brummte und verwandelte sich in eine identitätspolitische Erbauungsliteratur. Vor allem Foucaults Schriften zur Sexualität wurden schnell übersetzt und rezipiert. Seine historischen Studien zur Sexualität (als Form der Wahrheitsproduktion von Subjekten über sich selbst) und die daran anschließenden Untersuchungen zur Ästhetik der Existenz (als Form einer nicht-identitären Wahrheitsproduktion) wurden miteinander vermengt.

Es begann eine Verengung Foucaults auf identitätspolitische Fragen. Queer- und LGBTQ-Studies nutzen Foucault heute für eine, wie Mark Lilla in der „New York Times“ schon 2016 formuliert hat, „moral pedagogy“ der aus ihrer Sicht heteronormativen und hegemonialen Mehrheitsgesellschaft. Einiges, so scheint es, ist auf der Passage nach Europa verlorengegangen.

Einer der wichtigsten Theoretiker des Postkolonialen ist Edward Said. In seinem epochalen Buch „Orientalism“ von 1978 amalgiert Said zwei Theoretiker, die für sein Projekt elementar sind: Michel Foucault und Antonio Gramsci. Grob gesprochen, ist Orientalismus für Said „ein Wissenssystem über den Orient“, das den Osten zum Antipoden westlicher Rationalität erklärt und eine Rechtfertigung für Kolonialismus und Imperialismus geliefert habe. Foucault, dessen „Werk“, wie Said schreibt, er „sehr viel verdanke“, wird zu einem Säulenheiligen. Saids Umgang mit Foucaults Schriften ist idealtypisch und strategisch.

„Der Orient, der unendlich unzugänglich bleibt“

Im Vorwort seines Buches „Wahnsinn und Gesellschaft“ aus dem Jahre 1969 schreibt Foucault: „In der Universalität der abendländischen Ratio gibt es den Trennungsstrich, den der Orient darstellt: der Orient, den man sich als Ursprung denkt, als schwindeligen Punkt, an dem das Heimweh und die Versprechen auf Rückkehr entstehen, der Orient, der der kolonialisatorischen Vernunft des Abendlandes angeboten wird, der jedoch unendlich unzugänglich bleibt.“ Der Orient, heißt es weiter bei Foucault, „ist für das Abendland all das, was es selbst nicht ist, obwohl es im Orient das suchen muß, was seine ursprüngliche Wahrheit darstellt.“ Foucaults Bemerkung aus dem Vorwort eines Buches, das über die Institutionen des einschließenden Ausschlusses, die Kliniken und Irrenhäuser, entschieden historisch und quellengesättigt argumentiert, wird von Said für das sogenannte „Othering“ instrumentalisiert. Man kann hier gut beobachten, wie eine umfassende und mikrologisch verfahrende Analyse von Ausschluss- und Einschlussmechanismen zu einem Tröpfchen Orientalismus kondensiert, moralisch aufgeladen und bar ihrer historischen Bezüge. Man findet das Foucault-Zitat in fast jeder postkolonialen Schrift.

Anders als Foucault betrieben Said und seine Anhänger ein Verfahren, das die Begegnung mit anderen Kulturen, beispielsweise im Handel, in der Wissenschaft oder in der Diplomatie, radikal ausschließt. Damit begann sich eine Tradition, die sich der historischen Dimension von Fremdheit auf dem Weg der Institutionenanalyse und Quelleninterpretation widmete, von einer Bewegung zu scheiden, die „das Andere“ zum frei verfügbaren Kollektivsubjekt hypostasierte. Damit eignete sich die postkoloniale Methode eigentlich nicht mehr zur Analyse der westlichen Hegemonialmacht. Dieses Phänomen lässt sich auch an den Antisemitismusvorwürfen zeigen, die das postkoloniale Denken von Edward Saids „Orientalism“ bis hin zu den Äußerungen Achille Mbembes begleiten. Das Koloniale als eine Chiffre für das „Andere“ spielt, so die Auffassung einiger Vertreter dieser Richtung, in einem imaginativen und politischen Selbstverständnis des Westens eine Rolle, die zu sehen nur der Postkolonialismus in der Lage ist. Damit geraten andere Zivilisationsbrüche aus dem Blick oder werden mit Fokus auf das Postkoloniale relativiert.

Theoriepolitisch heikel bis befremdlich wird diese Auffassung, wenn in einem in Deutschland erschienenen Handbuch behauptet wird, die „Aufarbeitung des Holocaust“ habe die „Beschäftigung mit dem Kolonialismus“ lange Zeit „überlagert“. Schon ein nur oberflächlicher Blick auf die Wissenschaftsgeschichte der Geistes-, Geschichts- und Sozialwissenschaften nach 1945 belegt das Gegenteil. Ganz besonders bitter wird es, wenn in geradezu grotesker Verzerrung geschichtlicher Untersuchungen im postkolonialen Paradigma versucht wird, einen, wie es in dem Handbuch heißt, Zusammenhang „zwischen Hitlers Versuch einer kolonialen Unterwerfung Osteuropas und den Wilhelminischen Ausgriffen kolonialer Gewalt in Afrika“ zu erkennen.

Wohlwollend interpretiert, handelt es sich möglicherweise um den Appell, die historische Erinnerung etwas differenzierter zu gestalten und zur Kenntnis zur nehmen, dass die Erinnerungen an syrische, ghanaische, gambianische, südafrikanische oder indische Erfahrungen in die Erinnerungspolitik integriert werden sollten, ohne dass hier von einer „Überlagerung“ oder „Versuchen“ gesprochen werden müsste. Es geht um die Repräsentation erinnerungspolitischer Viefalt.

Postkoloniale und identitätspolitische Theorien könnten erheblich mehr gewinnen, wenn sie sich mit Niklas Luhmanns Wort als Theorien der Weltgesellschaft und nicht nur des „globalen Südens“ begriffen. So könnte man das prekäre Verhältnis zwischen partikularer Identität und universalem Anspruch neu und anders bestimmen. Insofern ist Mithu Sanyals Campusroman „Identitti“ der Roman der Stunde. Er zeigt nämlich, wie ein durch Herkunft globalisiertes und durch das Studium postkolonialisiertes Personal in die Aporie zwischen Partikularismus und Universalismus gerät. Es ist Aufgabe der Universität, genau zwischen diesen Polen zu vermitteln.