MESOPOTAMIA NEWS Interview  : NEUE ZÜRCHER ZEITUNG  10. März 2021

«Man kann nicht mehr von den Gefahren des Islamismus sprechen, ohne als islamophob stigmatisiert zu werden», sagt die französische Soziologin

Nathalie Heinich

Verkappter Aktivismus, Pseudowissenschaft und moralische Unterstützung für Islamisten: Die französischen Universitäten sind mit Tendenzen konfrontiert, wie man sie aus den USA kennt. Die Soziologin Nathalie Heinich erklärt, warum sie eine Durchleuchtung der Hochschulen begrüsst.

«Fanatismus», «Obskurantismus»: Mit solchen Worten versuchten französische Universitäten und Fakultätsverbände («associations de spécialistes universitaires») im letzten Herbst die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty zu erklären. Dass der Täter ein Islamist war, der aus religiös motiviertem Hass handelte, verschwiegen sie. Seit dem Mord gibt es in Frankreich eine Diskussion über die jahrelange Verdrängung und die Verharmlosung islamistischer Umtriebe, die in manchen Quartieren einen faktischen Rückzug der Staatsgewalt nach sich zogen. An den Universitäten wird diese Diskussion besonders hart geführt.

Denn kürzlich hat die Regierung angekündigt, gegen den sogenannten Islamogauchismus vorzugehen,

der an den Universitäten grassiere. Wissenschafter reagierten mit Aufrufen und Gegenaufrufen, in denen die geistige Allianz zwischen linken Intellektuellen und reaktionären Islamisten zum Phantom oder zur existenziellen Bedrohung erklärt wird. Indessen erhält die Debatte durch konkrete Vorfälle immer wieder neuen Schub: Gerade ist bekanntgeworden, dass in Grenoble zwei Professoren bedroht wurden, weil sie sich kritisch zum Konzept der «Islamophobie» geäussert hatten.

Die Kunstsoziologin Nathalie Heinich verfolgt die Entwicklung an den Universitäten seit über vierzig Jahren, als sie bei Pierre Bourdieu dissertierte. Jüngst hat sie zusammen mit dem Ex-Minister Luc Ferry und anderen Intellektuellen einen Aufruf unterzeichnet, in dem den Universitätsverbänden «Unaufrichtigkeit» vorgeworfen wird. Das Hauptproblem, so erklärt sie, sei jedoch nicht der Islamogauchismus.

Frau Heinich, seit drei Wochen wird in Frankreich über die Universitäten gestritten, es geht um Islamogauchismmus, Forschungsfreiheit und ideologische Tendenzen. Von aussen wirkt das alles sehr verworren.

Ich kann Sie beruhigen, sogar die Franzosen haben Schwierigkeiten, zu verstehen, was gerade geschieht. Das Komplizierteste ist, dass es nicht eine Debatte zwischen Links und Rechts ist. Das behauptet nur die extreme Linke, die alles als rechts und rechtsextrem diffamiert, was ihr nicht passt. Im Kern geht es um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Tendenzen der Linken: Auf der einen Seite haben wir eine extreme, radikale Linke, die stark von der amerikanischen Woke-Bewegung beeinflusst ist. Und auf der anderen Seite eine reformistische, moderate Linke, die ihrerseits den republikanischen Universalismus hochhält, vor allem über die Verteidigung der Laizität.

Inwiefern stellt die extreme Linke die Laizität und den Universalismus an den Universitäten denn infrage?

Diese Tendenz zeigt sich seit Anfang der 2000er Jahre vor allem im Umgang mit dem Islamismus. Man verschliesst die Augen vor den Exzessen des Islamismus und geht davon aus, dass jeder Muslim a priori verteidigt werden muss, weil er unterdrückt wird – selbst wenn es sich dabei um Personen handelt, die integristisches und gewalttätiges Gedankengut vertreten. Diese Tendenz ist innerhalb der Linken dominant geworden, weil die Vertreter der universalistischen Linken verstummen. Seit einigen Jahren ist diese Tendenz auch in den Universitäten spürbar, wo Arbeiten über Islamophobie Mode geworden sind. Die Verurteilung der Islamophobie dient jedoch oft dazu, jede Form von Warnung vor islamistischen Projekten zu delegitimieren. Man kann nicht mehr von diesen Gefahren sprechen, ohne als islamophob stigmatisiert zu werden.

Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Im Oktober 2019 wurde an der Sorbonne ein Lehrgang des Autors Mohamed Sifaoui gestoppt, in dem es um Prävention und Radikalisierung ging. Linke Studenten werteten den Kurs als islamophobe Attacke, und einige Lehrkräfte kritisierten ihn angesichts der Stimmung im Land als problematisch. Im gleichen Jahr musste ein Kolloquium über Terrorismus an der Sorbonne verlegt werden, weil Studentenvereinigungen Islamophobie witterten. Mein Kollege Stéphane Dorin, Soziologe in Limoges, hat in den letzten Jahren immer wieder den Aktivismus an der Universität kritisiert. Unter anderem protestierte er gegen die Einladung von Houria Bouteldja, die zu den Wortführerinnen des Parti des Indigènes gehört, einer extremistischen, vorgeblich progressiven Partei, die aber antisemitische Positionen vertritt und viel Verständnis für den Islamismus und Terroristen wie die Charlie-Hebdo-Attentäter zeigt. Die Konsequenz war, dass Dorin aus seinem Institut ausgeschlossen wurde.

Kann man aufgrund dieser Beispiele wirklich von einem verbreiteten Phänomen sprechen?

Ich behaupte nicht, dass es Hunderte solcher Fälle gibt. Aber schon der Umstand, dass es einige gibt, ist Grund zu grosser Beunruhigung. Das Problem ist die Schlagkraft derjenigen, die nach dem Prinzip der Cancel-Culture vorgehen und Extremisten verteidigen. Verschiedene Forscher haben sich kürzlich mit Houria Bouteldja solidarisiert, nachdem diese gesagt hatte: «Man kann nicht Israeli und unschuldig sein.»

Trotzdem ist die Wahrnehmung dieser Phänomene völlig unterschiedlich. Das Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) hat kürzlich in einem Communiqué erklärt, der Islamogauchismus habe keine wissenschaftliche Realität. Die andere Seite sagt, dass er wie ein Krebsgeschwür wuchere. Wie ist diese Differenz zu erklären?

Man muss sehen, dass das Communiqué des CNRS absolut nicht die Position aller Angehörigen widerspiegelt. Ich bin selber Soziologin am CNRS, und seit einem Jahr sammle ich Fälle von Attacken auf die akademische Freiheit, begangen von aktivistischen Studenten oder Lehrpersonen. Ich habe viele davon. Die Realität des Islamogauchismus an der Universität besteht vor allem in Büchern von belgischen und französischen Soziologen, die Islamophobie explizit mit Rassismus gleichsetzen. Sie vermischen Rasse und Religion, um Religionskritik als rassistisch erscheinen zu lassen. So machen sie es unmöglich, vor dem islamistischen Fundamentalismus zu warnen, der doch einer Form des Faschismus ähnelt.

In der Politik ist die extreme Linke zwar vielleicht laut, aber doch nicht mehrheitsfähig. Wie kommt es dann zu diesem geistigen Einfluss an den Universitäten?

Das muss man in einem grösseren Kontext sehen. Die Stärke radikaler Strömungen hängt mit dem Import von intellektuellen Konzepten aus den USA zusammen. Das Schlagwort dazu lautet Dekolonialismus, die zugehörigen Ideen zeigen sich in verschiedenen Themenbereichen. Die neuen Theorien tendieren dazu, alles, was auf der Welt geschieht, durch die Brille der Diskriminierung anzuschauen: Die einen sehen alles im Licht der Rassenfrage, andere betrachten alles durch das Raster des Sexismus. Diese radikalen amerikanischen Ideen haben an den Universitäten an Terrain gewonnen und faszinieren die jungen Studenten.

Wissenstransfer zwischen den Kontinenten hat es immer gegeben. Was spielt es für eine Rolle, dass die neuen Konzepte aus den USA stammen?

Das spielt eine grosse Rolle, denn die amerikanische Tradition unterscheidet sich fundamental von der französischen. In den USA dominieren zurzeit kommunitaristische Ideen. Demnach sind die Individuen durch eine ethnische, religiöse oder geschlechtliche Gemeinschaft bestimmt und entsprechend unterschiedlich zu behandeln. Das republikanische Denken à la française aber ist universalistisch: Die Individuen sind zwar verschieden, aber aus den Unterschieden erwachsen keine festen Gemeinschaften, die Anspruch auf eine spezifische Behandlung hätten. Die einzig diesbezüglich relevante Gemeinschaft ist in Frankreich die Nation.

Trotzdem hat der Austausch akademischer Ideen immer funktioniert. Die USA waren eine Weile lang sogar ziemlich stark von französischen Denkern inspiriert – die «French Theory» war doch richtig en vogue.

Aber die «French Theory» haben die Amerikaner selber produziert! In Frankreich gibt es keine Strömung, die so heisst. Und die Konzepte der Postmodernen, die in den USA als «French Theory» kursierten, waren unter französischen Akademikern auch nie unumstritten, im Gegenteil. Aber selbstverständlich gibt es Überkreuzungen. Man kann durchaus sagen, dass eine reduktionistische Foucault-Lektüre, die in den USA populär war, heute wieder zu uns zurückschwappt in Theorien, die alle gesellschaftlichen Themen auf Machtfragen zuspitzen. Auch Bourdieu wurde stark rezipiert. In seinem Denken war die Idee angelegt, dass die Sozialwissenschaften eine aktivistische Komponente haben und den Kampf gegen die Herrschenden unterstützen sollten. Und das wiederum führt zu einem Problem, das ich heute als weit grösser erachte als den Islamogauchismus: die Vermischung zwischen Aktivismus und Forschung.

Was bedeutet das genau?

Dass politische Ziele die Ausrichtung der Forschung bestimmen. Konkret also zum Beispiel: dass der Kampf gegen die Diskriminierung oder die Förderung der Emanzipation zum Zweck des universitären Arbeitens wird.

Soll man etwa keine Forschung zu Themen der Diskriminierung machen?

Selbstverständlich soll man das, und zum Glück gibt es Forschung dazu! Aber man soll sie nicht mit einem politischen Ziel im Kopf unternehmen. Das machen heute aber viele, und wer so an die Forschung geht, arbeitet auf verzerrte Weise. Unweigerlich leidet dann die wissenschaftliche Qualität. Man sieht das sehr oft in politisch inspirierten Recherchearbeiten: Sie gehen von einseitigen Annahmen aus, ignorieren komplexe Ursachengeflechte und haben schwere methodische Mängel.

Und dieses Problem nimmt Ihrer Wahrnehmung nach an den Unis merklich zu?

Ja, wenn wir so weitermachen, entwickelt sich die Uni zu dem Ort, an dem in Dauerschleife rein ideologische Arbeiten über Diskriminierung entstehen. Damit man mich richtig versteht: Gegen Diskriminierung zu kämpfen, ist absolut richtig und legitim – in der Arena der Politik. Es gibt Parteien und Assoziationen dafür. An der Uni dagegen sind wir angestellt, um Wissen zu schaffen und weiterzugeben, und nicht, um die Welt zu verändern.

Auch hier stellt sich die Frage: Wie zeigt sich dieses Phänomen konkret?

Es zeigt sich dauernd und täglich in Aufrufen zu Kolloquien, Seminaren oder Themenheften, die sich den Kampf gegen Diskriminierungen auf die Fahne schreiben. Vor allem in der Soziologie und in der Anthropologie, aber auch in der Geschichte, in den Politikwissenschaften oder in der Philosophie ist das zu beobachten. Es handelt sich hier nicht um eine Schimäre: Es gibt zum Beispiel explizit propalästinensische Seminare an einer unserer Hochschulen. Aber auch im Canceln zeigt sich der Aktivismus. Im letzten Jahr wurde eine Geschichtsprofessorin von Studenten und einem anderen Professor daran gehindert, zum Thema der Dreyfus-Affäre den Film von Roman Polanski zur Sprache zu bringen.

Laut einer Statistik der Sciences Po drehten sich zwischen 2015 und 2019 nur drei Prozent aller soziologischen Artikel um das Thema «Rasse». Kennen Sie diese Zählung?

Ich habe davon gehört, weiss aber nicht, wie die Zählung genau gemacht wurde. Zudem würde ich vermuten, dass die Zahlen anders aussähen, wenn man die Untersuchung bis in die Jetztzeit fortgeführt hätte. Die fraglichen Strömungen haben sich nämlich in den letzten zwei Jahren spektakulär entfaltet.

Die Universitäten waren auch früher kein Ort des reinen Wissens. Gerade in Frankreich waren die Hochschulen lange Zeit stark marxistisch geprägt. Setzt sich diese Geschichte einfach fort?

Das stimmt, vor allem in den 1950er und 1960er Jahren war der Marxismus dominant. Insofern erleben wir heute nichts Neues. Aber wir hatten doch gehofft, dass das alte Phänomen hinter uns liegt.

In gewisser Weise lebt der Marxismus ja auch inhaltlich weiter in den Konzepten, wie Sie sie beschreiben: Wenn man früher alles durch die Brille der Klasse sah, untersucht man die Dinge heute durch das Raster von Geschlecht oder Rasse.

Ja, und interessant ist dann vor allem, dass sich rund um diese Konzepte selbst die ganz linken Forscher überwerfen. Just vor ein paar Wochen hat es eine grosse Polemik gegeben um ein Buch, in dem zwei Sozialwissenschafter der alten marxistischen Tradition beanstandeten, dass die klassische soziale Frage nicht mehr genügend Beachtung finde heute. Die Folge war eine enorme Hasskampagne in den sozialen Netzwerken. Jüngere Aktivisten warfen den beiden Autoren vor, die Bedeutung der Rassendiskriminierung zu relativieren.

Handelt es sich in der ganzen Debatte um die neuen Tendenzen an der Uni nicht ganz grundsätzlich auch um einen Generationenkonflikt?

Zu Teilen sicher. Viele, die unsere Zeitungsaufrufe unterzeichnet haben, gehören einer eher älteren Garde an, während die Dekolonialisten oftmals jünger sind. Doch man kann das Problem nicht auf eine Altersfrage reduzieren. Und von vielen jüngeren Kollegen war auch zu hören, dass sie die Aufrufe gerne unterschrieben hätten – es aber unterliessen, um ihre Karriere nicht zu gefährden. Auch das erinnert auf sehr ungute Weise an die Zeiten, in denen man in der Uni seinen Marxismus zur Schau tragen musste, um vorwärtszukommen.

Auf Geheiss der Ministerin für Hochschulbildung sollen die geschilderten Phänomene jetzt offiziell untersucht werden. Manche befürchten, dass sich die Politik als Gedankenpolizei in die Forschung einmische. Wäre es nicht tatsächlich klüger, wenn die Unis ihre Probleme selber lösen würden?

Der Vorwurf der politischen Zensur ist absurd. Es ist eine sehr gute Idee, eine Untersuchung durchzuführen und einmal zu erheben, welche Art von Recherche an unseren Institutionen betrieben wird. Natürlich muss man sich fragen, welche Instanz diese Untersuchung durchführen soll. Die am besten dafür geeignete Einrichtung wäre der sogenannte Haut Conseil de l’évaluation de la recherche et de l’enseignement supérieur (Hcéres). Dass in diesem Zusammenhang dann auch die Qualität der an den Unis produzierten Studien untersucht wird, ist absolut legitim. In der universitären Welt gehört es zu den grundlegenden Funktionsweisen, dass Forschungsarbeiten auf ihre Wissenschaftlichkeit hin überprüft und wenn nötig sanktioniert werden. Wenn wir jetzt fordern, dass das konsequent gemacht wird, wollen wir damit nicht die Anliegen delegitimieren, welche die jüngeren Kollegen verfolgen. Wir wollen bloss verhindern, dass sich die Universität in eine aktivistische Agora verwandelt.