MESOPOTAMIA NEWS INTEL : «Kriegsreporter in einem hybriden Konflikt» – wie die Recherchegruppe Bellingcat dunkle Geheimnisse des Kremls aufdeckt
Bellingcat hat Russlands Rolle in der Ostukraine dokumentiert und jüngst ein grossangelegtes Vergiftungsprogramm enthüllt. Geleitet werden die Russland-Recherchen von Christo Grosew. Er erklärt, wie er seine Entdeckungen machte und weshalb er sich in Wien nicht sicher fühlt.
Ivo Mijnssen, Wien08.03.2021, 05.30 Uhr NEUE ZÜRCHER ZEITUNG
Christo Grosew, der Leiter der Russland-Recherchen bei Bellingcat.
Christo Grosew lebt in Wien. Sicher fühlt er sich nicht. Der 1969 geborene Bulgare leitet die Russland-Abteilung der Investigativplattform Bellingcat und hat in dieser Funktion Wladimir Putin wiederholt blossgestellt. Es war sein Team, welches das hinter der Vergiftung des Oppositionellen Alexei Nawalny stehende Geheimdienstnetzwerk auffliegen liess.
«Bevor er verhaftet wurde, sagte mir Nawalny, dass sich Putin wohl mehr über mich ärgere als über ihn», erzählt Grosew in einem vom Forum Journalismus und Medien organisierten Gespräch per Zoom. Seinen eigenen Bewegungsradius habe er seither stark eingeschränkt, sagt er später auf telefonische Nachfrage. «Damit bin ich in der Corona-Pandemie immerhin nicht der Einzige», fügt Grosew ironisch an.
Faszination für Daten
Russland, wo er mehrere Jahre lang lebte, ist eine Konstante in Grosews Leben. «Ich habe gesehen, wie das Land sich von einer schlecht funktionierenden, aber freien postsowjetischen Demokratie in einen Staat verwandelte, in dem das Regime Gewalt und Desinformation anwendet, um an der Macht zu bleiben.» Er verfolgte diese Entwicklung für Radio Free Europe und betreute als Medienmanager kommerzielle Radiostationen in Osteuropa. «In dieser Zeit verlor ich ein wenig meine journalistischen Instinkte», räumt Grosew ein.
Sie kamen zurück, als er sich, zunächst in Bulgarien, an Projekten mit Datenjournalisten beteiligte. Sie führten ihn zu Bellingcat. Die Investigativplattform wurde 2014 weltbekannt, als sie im Zuge des Krieges in der Ostukraine und des Abschusses eines malaysischen Passagierflugzeugs nachwies, dass zuvor ein Konvoi mit Boden-Luft-Raketen aus Russland ins Nachbarland gefahren war und dass Moskau auch Soldaten dorthin geschickt hatte.
Bei der Aufklärung des MH17-Abschusses in der Ukraine spielte Bellingcat eine bedeutende Rolle.
Imago
Das vom britischen Aktivisten Eliot Higgins gegründete Recherchenetzwerk setzte dafür auf öffentlich zugängliche Daten, oft aus Social Media, und auf die Schwarmintelligenz von Freiwilligen: Bellingcat glich Youtube-Videos mit Satellitenbildern auf Google Maps ab und dokumentierte so den Weg des Konvois. Auch Selfies von Soldaten, in denen diese mit ihren Kriegsorden posierten, waren eine aufschlussreiche Quelle. Bellingcat kam zum Schluss, dass wahrscheinlich Zehntausende von russischen Militärangehörigen in der Ostukraine zum Einsatz gekommen waren.
Erstmals involviert war Christo Grosew, als es darum ging, jene Offiziere des russischen militärischen Nachrichtendienstes GRU zu identifizieren, welche die ostukrainischen Separatisten beim Abschuss unterstützt hatten. 2017 wurde er Leiter der Russland-Recherchen bei Bellingcat. Unter ihm gelang die Identifizierung der Hintermänner der Vergiftung des früheren Doppelagenten Sergei Skripal in Grossbritannien und des Mordes an einem Tschetschenen in Berlin. Beide Fälle sorgten für erhebliche diplomatische Spannungen zwischen den europäischen Staaten und Russland.
Im Auftrag der Geheimdienste?
Diese Spannungen erreichten jüngst einen neuen Höhepunkt im Zusammenhang mit der Vergiftung von Nawalny. Bellingcat konnte zusammen mit Medienpartnern und Aktivisten durch den Abgleich verschiedener Datensätze nachweisen, dass der Inlandgeheimdienst FSB Nawalny seit 2017 beschattet hatte. Drei Agenten flogen im August 2020 parallel mit ihm nach Sibirien. Dort wurde Nawalny vergiftet.
Putin nannte die Enthüllungen im Dezember eine «Legalisierung von Erkenntnissen westlicher Geheimdienste». Grosew bestreitet den oft gehörten Vorwurf, Bellingcat stelle den verlängerten Arm der CIA dar: «Wir haben mit Untersuchungsbehörden in den Niederlanden und Deutschland zusammengearbeitet, aber nie mit Geheimdiensten.» Dies wäre seiner Ansicht nach auch wenig hilfreich, da Nachrichtendienste Informationen in der Regel horteten, statt sie weiterzugeben. Zudem könne man deren Authentizität nicht überprüfen.
Transparenz ist aber der Schlüssel zur Glaubwürdigkeit von Bellingcat. Die Finanzierungsquellen – der grösste Geldgeber ist die niederländische Lotterie – sind auf der Website detailliert aufgelistet. Das Gleiche gilt für die Vorgehensweise: Teilweise lesen sich die Texte wie akademische Abhandlungen, die versuchen, alle möglichen Einwände vorwegzunehmen und jeden Ermittlungsschritt minuziös zu dokumentieren.
Blühender Daten-Schwarzmarkt
Auch wenn die Spionagevorwürfe unbegründet sind, geht Bellingcat durchaus unkonventionell vor. Die Rechercheure machen sich dabei auch die Korruption in Russland zunutze. So wären die Enthüllungen über die Hintermänner der Vergiftungen ohne den Graumarkt für Daten aller Art unmöglich gewesen. Dieser floriert primär deshalb, weil Sicherheitsbeauftragte in Firmen viel Geld aufwerfen, um Informationen über Konkurrenten oder Angestellte zu erhalten. Auch der FSB und Strafverfolger nutzen die Leaks, um schneller zu arbeiten.
«Früher konnte man Daten-DVD auf Flohmärkten kaufen, heute lädt man die Informationen gegen Bezahlung herunter», sagt Grosew. Die Ermittler profitieren als Zweitkunden davon, dass die Kompilationen bereits kursieren, etwa auf Foren des Kommunikationskanals Telegram. Oft wüssten die Verkäufer nicht, dass sie Journalisten seien. «Einer schrieb mir eine wütende E-Mail nach einer unserer Publikationen und sagte, ich solle ihn nie wieder anfragen. Er dachte, ich sei nur ein ehrlicher Krimineller», sagt Grosew und lacht.
Das ethische Dilemma der Verwendung dieser Daten sieht Grosew durchaus. «Wir verwenden sie nur dann, wenn dies der Untersuchung von Verbrechen dient, bei denen von der verantwortlichen Regierung keine Aufklärung zu erwarten ist», erklärt der Bulgare. Auch den Vergleich mit Wikileaks weist er zurück. Diese Plattform habe ungefiltert persönliche Informationen ins Netz gestellt, Bellingcat veröffentliche nur Daten, die mit einem Verbrechen in Verbindung stünden. «Wir sind das Anti-Wikileaks.»
Staatliches Vergiftungsprogramm
Dies gilt auch für die politische Ausrichtung: Veröffentlichte Wikileaks häufig Enthüllungen über die amerikanische Regierung, so richten sich jene von Bellingcat oft gegen Russland. Grosew wirft zwar ein, dass es auch Untersuchungen über illegale Nato-Waffenlieferungen nach Saudiarabien und Rechtsextreme in der Ukraine gegeben habe. Doch er macht auch klar, dass er sich nicht als einfachen Journalisten sieht: «Wir sind Kriegsreporter in einem hybriden Konflikt», sagt er.
Bis vor kurzem habe er das russische Regime auch nicht für besonders niederträchtig gehalten. «Aber das hat sich mit der Entdeckung des staatlichen Vergiftungsprogramms geändert, die mir den Schlaf raubte», stellt Grosew klar. Bellingcat hat dokumentiert, dass Nawalny nicht der Einzige war, den der FSB ins Visier genommen hatte. Grosew spricht von mindestens zwanzig Regimekritikern und -gegnern, die vergiftet worden seien, oft durch Nowitschok. Er warnt deshalb auch davor, sich über die offenkundige Inkompetenz des FSB bei der Vergiftung Nawalnys zu amüsieren. «Wir entdecken ja nur die grossen Fehler, wissen aber nicht, wie effizient sie in anderen Fällen agieren.»