MESOPOTAMIA NEWS : DISRUPTIVES DENKEN“ UNTERM REGENBOGEN / DER THEORIEERSATZ DER LINKEN
Poststrukturalismus : „Neue Kerker des Denkens“ –
Von Nico Hoppe (FAZ 17. Febr 2021)
Postmoderne Theorie will den Geist aus starren Formen befreien. Ihr blinder Radikalismus mündet in intellektuelle Regression. Ein Gastbeitrag.
Seit einigen Jahren werden an den Universitäten der westlichen Welt jene Konzepte erprobt, die später von Medien, Wirtschaft und Politik übernommen werden. Ob es sich um Inklusionsregeln, die Auflösung des körperlichen Geschlechts oder die Ansicht handelt, der Wert einer Aussage sei an der Herkunft des Sprechers zu messen – sie alle wurden zuerst an Hochschulen populär, bevor sie praktischen Einfluss auf Politik und Gesellschaft nahmen.
Gemeinsam ist diesen Konzepten auch die Herkunft aus dem französischen Poststrukturalismus und den postmodernen Theorien, die seit den neunziger Jahren an amerikanischen Universitäten Karriere machten. In der Folge errang ein Bündel zunächst randständiger theoretischer Strömungen wie Postkolonialismus, Critical Whiteness und Queer Theory die Deutungshoheit in den akademischen Debatten.
Diese Denkansätze postulieren selbstsicher, kein philosophisches System ausgebildet zu haben und keiner klaren Tradition anzugehören. Das macht es unmöglich, sie durch ihre Gemeinsamkeiten, aber auch ihre inneren Unterschiede, Widersprüche und Paradoxien auf den Begriff zu bringen. Der Poststrukturalismus hat den Nominalismus, also den Glauben an die bloße Konstruiertheit von Allgemeinbegriffen, so sehr auf die Spitze getrieben, dass seine Adepten schon jede Nennung eines Oberbegriffs als totalitäres Unterfangen geißeln.
Was hält diese Strömungen also zusammen? Einer der Leitsätze des Post-strukturalismus lautet, es gelte, die in sich geschlossenen Entwürfe und Metaerzählungen der Aufklärung und der Moderne hinter sich zu lassen. Die Begriffe des Wissens, der (Fortschritts-)Geschichte und des Menschen (Michel Foucault und JeanFrangois Lyotard), der Rationalität und der Psychoanalyse (Gilles Deleuze und Felix Guattari), des Subjekts (Jacques Derrida) sowie der Identität und des Körpers (Judith Butler) sollen als konstruierte Narrative entlarvt und dekonstruiert werden. Die beiden Todfeinde sind Metaphysik und Essentialis-mus, worunter schon die Annahme eines Wesens im Gegensatz zur Erscheinung fällt. Immer wiederkehrende Schlüsselbegriffe sind der alles bestimmende Diskurs nebst der unhintergeh-baren Macht, die er über die Subjekte ausübt. Der Begriff der Wahrheit wird dem Recht des Stärkeren geopfert: Geltung ersetzt Obiektivität – die radikale Abkehr von der verhassten Übermacht der Vernunft, die bei Derrida im Begriff des Logozentrismus Ausdruck findet.
Dabei bietet der Logozentrismus, der in verabsolutierter Form durchaus Kritik verdient, immerhin noch die Möglichkeit, sich seiner selbst zu besinnen und rational über das erstarrte Rationale und dadurch Irrationale in ihm selbst zu walten. Der Poststrukturalismus erhebt demgegenüber das zur Richtschnur, was der Rationalität vollkommen unzugänglich ist. Dann besteht der reflexive Notausgang nicht mehr: Das Irrationale kann sich nicht durch noch mehr Irrationalität retten, die Dekonstruktion dekonstruiert sich niemals selbst.
Philosophie mit der Abrissbirne
Dekonstruiert werden dagegen die Subjekte, als Träger der schlechten Vernunft. Postmoderne Theorie entledigt sich des Subjekts zwar nicht, aber sie beschreibt es als fragmentiert, fremdbestimmt und durch den Diskurs und die Macht erzeugtes Objekt.
Diese Feststellung dient wohlgemerkt nicht der Kritik dieses fragilen Subjektstatus, sondern schwört auf ihn ein. Besonders deutlich drückt sich der konformistische Zug im Werk von Judith Butler aus: Das übergeordnete Ziel von Butlers moralphilosophischen Überlegungen ist die Forderung nach der „Identifizierung mit dem Leiden selbst”.
Weil der Mensch stets gefährdet und von Gewalt unterjocht sei, ermögliche allein die Anerkennung des eigenen Leids und nicht dessen Abschaffung ein Ende des Schmerzes.
Die identitätspolitische Konversion der Linken verschafft Butlers Ideologie der Unterwerfung heute praktische politische Durchschlagskraft. Auch bei der Identitätspolitik geht es nicht mehr um die Befreiung von Unterdrückung, sondern um deren Erhöhung zum Identitätsmerkmal, aus dem spezielle Ansprüche erwachsen sollen. Ein Ende der Diskriminierung darf es in diesem Sinn nicht geben, weil das der gemeinschaftlichen Sinnstiftung namens Antirassismus die Existenzgrundlage nehmen würde — ein Albtraum für ein akademisches Korrektheitsbeamtentum, das auf der Empörung über sprachmagische Ausschlüsse und die unterschwellige Gewalt des Sprechorts basiert.
Butlers besonders aus ihren geschlechtertheoretischen Büchern bekannter Anspruch, identitätskritisch zu sein, wird so ins Gegenteil verkehrt: Individuen werden zum Produkt religiöser, ethnischer oder kultureller Konglomerate erklärt — und im Safe Space eingeschlossen.
Der Poststrukturalismus erliegt dem Missverständnis, der Bruch mit der Tradition und die Dekonstruktion des Überkommenen seien allein schon progressiv. Die Ersetzung der alten Oberbegriffe von Wahrheit und Vernunft durch unzugängliche Prinzipien wie die Differenz schafft nur neue Kerker des Denkens. Der Anspruch, sich vom Systemcharakter vorangegangener Denkrichtungen zu befreien, wäre nicht grundsätzlich falsch, wenn man ihm denn gerecht würde.
Richtschnur des Irrationalen
Trotzdem versteht sich der Poststrukturalismus als kritisches Unternehmen, das konventionelle Begriffe und Wahrheiten als Konstruktionen demaskiert.
Der Philosoph Manfred Frank machte in seiner Vorlesung „Was ist Neostrukuralismus?” auf den Widerspruch aufmerksam, dass postmoderne Theoretiker die Konstrukte, die sie eigentlich entlarven wollen, nicht selten selbst zu Wesenheiten verklären. Identitäts- und Subjektkritik schlägt so in die „fröhliche Bejahung der subjektlosen und verdinglichten Maschine” um – was sie freilich nicht müsste.
Ihren eigenen Anspruch einer antisystematischen Philosophie kann die postmoderne Theorie nicht erfüllen. Vielmehr kehrt die geschmähte metaphysische Ursprungsphilosophie als Macht, Diskurs und Differenz (Letzteres im Französischen durch den Neologismus der „differance” ausgedrückt) wieder.
Davon zeugt die Selbstbezüglichkeit, die beliebige Phänomene immer wieder an jene schemenhaften Ursachen kettet: Sexualität beispielsweise wird als reiner Diskurseffekt und nicht als Wechselwirkung biologischer und gesellschaftlicher Elemente verstanden. Sinn und Identität werden aufgelöst, indem sie dem originären Charakter der Differenz unterworfen werden. Derrida ahnte wohl, dass man auf diese Weise zur metaphysischen Systemphilosophie zurückkehrt, wenn er – diesen Einwand abwehrend -schrieb, die Differenz sei der „nichtvolle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen. Folglich kommt ihr der Name ‚Ursprung’ nicht mehr zu.”
So soll die Differance zwar ein allem vorgängiges Phänomen, aber trotzdem kein Ursprung sein. Für solche willkürlichen Setzungen braucht es tatsächlich die Abkehr von der verhassten Übermacht der Vernunft.
Im Gegensatz zur postmodernen Theorie war die Kritische Theorie (die mit heutiger Critical Theory allein den Namen gemeinsam hat) wesentlich weiter.
Ihr dialektisches Vermögen schützte vor jener orthodoxen Frontstellung gegen das Konservative, die heute an den Universitäten und darüber hinaus herrscht, und vor radikalen Posen, die in intellektuelle Regression münden, weil sie nichts zu verteidigen haben:
„Meist ist das bloße Sich-hinweg-Setzen über etwas, was ist, ohne daß die Schwere dieses Seienden mit hineingenommen wird in die Erwägungen, nur ein Rückfall hinter das Bestehende”, schreibt Adorno.
War bei Adorno-und Horkheimer noch von Vermittlung und dem objektiven Zeitkern der Wahrheit die Rede und der sehnsüchtigen „Treue zur Idee, daß, wie es ist, nicht das letzte sein solle”, so flüchtet man sich heute in die absurde Doktrin des radikalen Konstruktivismus und versucht, den Status quo durch die gewinnbringende Vermarktung von Identitätsmerkmalen zum eigenen Vorteil auszunutzen.
Der Reflex, alles als konstruiert und künstlich auszuweisen und das zu Rettende innerhalb des Kritisierten zu übergehen, um es leichter dekonstruieren zu können, hat sich ausgehend von der poststrukturalistischen Theorie längst verbreitet. Man erliegt dem Faszinosum des Umbruchs und gefällt sich auch außerhalb der Universität im blinden Zuschütten des scheinbar Überkommenen (von Familie, Nation, Staat und Religion über tradierte Sprache bis hin zum bürgerlichen Ideal zivilisierter Distanziertheit), ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass gerade die kulturrevolutionäre Raserei gegen die Tradition stetes Attribut faschistischer Bewegungen war.
Vom postmodernen Aufbäumen ist deshalb nicht Befreiung, sondern fortschreitende Regression zu erwarten.
NICO HOPPE – Der Autor studiert Philosophie in Leipzig.