MESOPOTAMIA NEWS : DEUTSCHLAND AUF DEM WEG ZUR VOLKSREPUBLIK – China versucht, Deutschland mit der Einheitsfront aufzurollen

Ein von der Kommunistischen Partei und dem Ministerium für Staatssicherheit in Peking gesteuertes Netzwerk nimmt in Deutschland im Verborgenen Einfluss. Die chinesische Diaspora, Austauschstudenten und Wirtschaftsverbände spielen dabei genauso eine Rolle wie die chinesischen Geheimdienste.

Christoph Prantner, Berlin 03.01.2021, 05.30 Uhr NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Wenn es sein muss, reicht der lange Arm Pekings bis in die Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg.

Als dort im Sommer 2018 ein Gedenkgottesdienst anlässlich des ersten Todestages des Schriftstellers und Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo abgehalten wird, sind nicht nur Unterstützer chinesischer Dissidenten anwesend.

Auf der Empore des Berliner Gotteshauses, das in der friedlichen Revolution von 1989 eine wichtige Versammlungsstätte war, hat sich gut sichtbar auch eine Handvoll ungebetener chinesischer Gäste positioniert. Die Herren filmen die Anwesenden mit teilnahmsloser Miene. Die Volksrepublik lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, offensiv zu demonstrieren, dass «Systemfeinde» auch 7500 Kilometer von Peking entfernt unter scharfer Beobachtung stehen.

So offen wie damals tritt China im Ausland allerdings selten auf. Üblicherweise versucht Peking, äusserst diskret seine Interessen zu vertreten. Dabei wird verdeckt, manchmal konspirativ und vor allem umfassend operiert. Das strategische Ziel der kommunistischen Mandarine ist, peu à peu eine von der Kommunistischen Partei Chinas vorgegebene, sinozentrische Weltsicht in Europa zu etablieren.

«Gestützt auf seine gewaltige wirtschaftliche Macht, übt China diplomatischen Druck aus, wendet Überredungskunst an, betreibt Einheitsfront-Politik und ‹Freundschaftsarbeit› und manipuliert Medien, Denkfabriken und Universitäten», so beschreiben der australische Chinaspezialist Clive Hamilton und die deutsche Sinologin Mareike Ohlberg die Methode in ihrem vergangenes Frühjahr bei DVA erschienenen Buch «Die lautlose Eroberung».

Wirtschaftsmacht und Entscheidungsträger

Deutschland spielt in dieser Strategie eine zentrale Rolle. Es ist die wichtigste Wirtschaftsmacht in Europa, und es ist massgeblich bei der Entscheidungsfindung in der EU. Das hat sich erst vor wenigen Tagen beim Abschluss des Investitionsabkommens zwischen der EU und China wieder gezeigt.

Für Peking ist eine starke Einflussnahme in Deutschland essenziell, die von der Instrumentalisierung deutscher Wirtschaftsinteressen bis zur Zusammenarbeit von Universitäten reicht. Der wirtschaftliche Druck aber – China ist der wichtigste Handelspartner Deutschlands, 2000 deutsche Unternehmen haben Niederlassungen dort – wird in letzter Zeit immer mehr auch durch nachrichtendienstliche Mittel flankiert.

Deutschland ist stark von China abhängig

Wichtigste Handelspartner Deutschlands 2019 (in Milliarden Euro)

Handelsvolumen

Exporte

Importe

ChinaNiederlandeUSAFrankreichItalien20696110190989219011971173107661256857

Quelle: Destatis

NZZ / cpr.

Im Jahresbericht des Verfassungsschutzes für 2019 werden Cyberangriffe auf politische Ziele und vor allem die deutsche Wirtschaft angesprochen. Mit der Schadsoftware Winnti etwa wurden zwischen 2016 und 2019 massiv DAX-Konzerne angegriffen. Für die Verfassungsschützer weisen «Aufklärungsinteresse, wirtschaftliche Zielrichtung und auch technische Indikatoren auf eine chinesische Urheberschaft hin». Es bestehe ein «hohes Bedrohungspotenzial staatlich gelenkter Cyberangriffe mit mutmasslich chinesischem Ursprung sowohl für Unternehmen und Forschungseinrichtungen als auch für Politik und Verwaltung in Deutschland».

Auch die Informationsbeschaffung über klassische Spionagemethoden hat sich intensiviert. Mitarbeiter der chinesischen Dienste sprechen deutsche Zielpersonen vorwiegend in China an. Sie versprechen Geldzuwendungen, politische Zugänge, wissenschaftliche Aufträge oder Gastprofessuren. Trotz öffentlichen Warnungen der Verfassungsschützer haben sich auch Kontaktaufnahme und Anwerbungen über soziale Netzwerke wie Linkedin wieder vermehrt.

Oft spielt dabei neben Geld auch persönliche Anerkennung eine Rolle. Die chinesischen Dienste sind sehr gut darin, ausgeschiedenen deutschen Amtsträgern Wertschätzung zukommen zu lassen. Auffallend viele ehemalige SPD-Politiker wie Gerhard Schröder, Rudolf Scharping oder Johannes Pflug haben enge Kontakte zu Rotchina. Auch von Infiltrationsversuchen der Chinesen in der deutschen Gewerkschaftsbewegung ist zu hören.

Der Fall Sabathil: Agent oder «Peking-Ente»

Spektakulär war jüngst der Fall des früheren deutschen EU-Diplomaten Gerhard Sabathil. Die Generalbundesanwaltschaft ermittelte gegen den 66-jährigen Unternehmensberater wegen des Verdachts der Agententätigkeit für den chinesischen Auslandsgeheimdienst. Für diesen, so lautete der Vorwurf, sei er als «Informant, Hinweisgeber und Anwerber» in Erscheinung getreten. Das Verfahren wurde im November eingestellt. Sabathils Anwalt Peter Gauweiler bezeichnete den Fall im Gespräch mit der NZZ als «Peking-Ente». Die Ermittlungsmethoden der Verfassungsschützer seien «auch bei der Generalbundesanwaltschaft auf harsche Kritik gestossen».

Tatsächlich sind Vorsatz und Geheimnisverrat im deutschen Strafrecht schwer nachzuweisen, wenn jemand nicht gerade in flagranti bei der Übergabe von Nato-Codes an eine fremde Macht erwischt wird. In der Einstellungsverfügung der Generalbundesanwaltschaft wird vermerkt, dass der Tatverdacht gegen Sabathil nicht vollständig habe ausgeräumt werden können. Der Ex-Diplomat pflegt überdies enge Beziehungen zur chinesischen Dissidentin Liu Xia.

Die Malerin und Witwe Liu Xiaobos ist nach ihrer Freilassung aus dem Hausarrest in China im Sommer 2018 nach Deutschland gezogen. Berliner Beobachter meinen, es sei ungewöhnlich, dass jemandem wie Sabathil, der so intensive Verbindungen zum offiziellen China unterhalte, solche Kontakte ungestraft nachgesehen würden.

Ein uigurischer Demonstrant bei einer Kundgebung im vergangenen Sommer in München.

Sachelle Babbar / Imago

Denn üblicherweise ist Peking, was die Exil-Opposition angeht, unerbittlich. Zu den «fünf Giften», die aus der Sicht der Volksrepublik das Machtmonopol der Kommunistischen Partei infrage stellen und die Einheit des Landes bedrohen, zählen die chinesischen Behörden Tibeter, Uiguren, die Falun-Gong-Bewegung, Demokratieaktivisten und Befürworter der Unabhängigkeit Taiwans.

Jüngst sind, um im Jargon des Regimes zu bleiben, Exponenten der Demokratiebewegung in Hongkong als «sechstes Gift» dazugekommen. Vor allem die Uiguren sind in Deutschland auf dem Radar Pekings, die Zentrale ihres Weltkongresses befindet sich in München.

Wie ein Schäferhund seine Herde umkreisen chinesische Offizielle auch die 150 000 Menschen zählende chinesische Diaspora in Deutschland. Sie ist ein wesentlicher Baustein im Einheitsfront-Ansatz Pekings, mit Soft Power Oberhand in den China-Narrativen in Deutschland zu gewinnen (Hamilton und Ohlberg nennen das im oben erwähnten Buch «Gedankenmanagement»).

Dabei hat Peking einigen Erfolg: Vor allem junge, in Deutschland geborene Personen mit chinesischem Hintergrund sind inzwischen oft von der Überlegenheit des chinesischen Systems im Vergleich zu westlichen Demokratien überzeugt – nicht trotz, sondern wegen der vorgeblich gut gemanagten Corona-Pandemie oder der Intervention in Hongkong.

230 von Peking gesteuerte Gruppen in Deutschland

Die amerikanisch-deutsche Politologin Didi Kirsten Tatlow hat in «The Atlantic» ein Netzwerk von 230 Wirtschaftsvereinen, Freundschaftsgesellschaften oder Kulturgruppen ausgemacht, die zentral von der Kommunistischen Partei und dem Ministerium für Staatssicherheit (MSS) gesteuert werden.

Als operative Zentralen in Deutschland gelten die Arbeitsgemeinschaft Deutscher China-Gesellschaften e. V. in Düsseldorf und die Legalresidentur der chinesischen Nachrichtendienste in der chinesischen Botschaft in Berlin. Auf Anfrage der NZZ hat der chinesische Botschafter Wu Ken ein Gespräch in der Sache erst «nach der Pandemie» in Aussicht gestellt.

Im universitären Bereich haben die 19 vorwiegend durch chinesische Mittel finanzierten Konfuzius-Institute in Deutschland seit Jahren einen eher durchwachsenen Ruf. Deutsche in den Verwaltungs- und Kontrollorganen der Institute berichten von unablässigen Versuchen der Einflussnahme durch die chinesische Seite zugunsten staatlicher Positionen der Volksrepublik.

Daran habe auch eine neue Trägerorganisation in Peking nichts geändert. Die Institute, die den Deutschen eigentlich die Sprache und Kultur Chinas näherbringen sollen, gelten weiterhin als Vorfeldorganisationen der Partei und des chinesischen Staates. Die Universität Hamburg hat jüngst entschieden, ihre Zusammenarbeit mit dem Konfuzius-Institut wegen der neuen chinesischen Wissenschaftspolitik zum 31. Dezember 2020 einzustellen.

Besonderes Augenmerk legen die chinesischen Behörden auch auf die mehr als 50 000 chinesischen Studenten und mehrere tausend Gastwissenschafter in Deutschland. Es ist die grösste Gruppe ausländischer Studierender im Land – noch vor Türken (40 000) oder Indern (25 000).

Sie werden mit intensiver, zuweilen auch persönlicher Betreuung bei der Stange gehalten. Denn Studenten und Gastprofessoren sind von zentraler Bedeutung im Bereich Know-how-Transfer sowie bei der Identifizierung technologischer, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Zukunftsfelder. Diese Informationen fliessen in die Planung geopolitischer Investitionsziele durch staatlich gelenkte Konzerne in Peking ein, die diese mit Direktinvestitionen in Deutschland umsetzen.

Huawei-Streit und strategische Geschäftsfelder

Als Geschäftsfelder von zentralem Interesse für die Chinesen scheinen Informationstechnologie, Halbleiter, künstliche Intelligenz, Biomedizin und Biotechnologie sowie Verkehrsinfrastrukturen auf. Duisburg etwa ist der europäische Endpunkt einer Route der Neue-Seidenstrasse-Initiative. Darüber hinaus erwog die Stadt, sich von Huawei zu einer Smart City aufrüsten zu lassen.

Davon ist man wegen Sicherheitsbedenken inzwischen allerdings abgekommen. Huawei-Komponenten spielen auch eine wesentliche Rolle für den Aufbau der 5G-Netze in Deutschland. In der Debatte darüber sind für Experten aber nicht unbedingt Datenabflüsse nach China eine grosse Gefahr, sondern ein sogenannter «kill switch». Das bedeutet die Möglichkeit für den Komponentenhersteller, im Zeitalter des Internets der Dinge womöglich ganze Systemlandschaften herunterzufahren.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat China Anfang 2019 in einem vielbeachteten Positionspapier als «systemischen Wettbewerber» bezeichnet. Die Europäische Kommission stufte das Land im März desselben Jahres in ihrer neuen China-Strategie sogar als «systemischen Rivalen» ein. Angesichts der choreografierten, konzertierten Aktivitäten der chinesischen Einheitsfront in Deutschland ist das alles andere als eine Übertreibung.

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